# taz.de -- Antislawischer Rassismus in Deutschland: Täter, Opfer, Twitterer | |
> Auch weiße Menschen werden hierzulande Opfer von Rassismus – die aus | |
> Osteuropa. Doch gibt es Platz für sie im aktuellen antirassistischen | |
> Diskurs? | |
Bild: Gedenken an die Opfer im Kampf gegen den deutschen Vernichtungskrieg in B… | |
Antirassistische Proteste und Debatten, unter anderem zur [1][kolonialen | |
Vergangenheit Deutschlands], erleben einen Aufschwung. Das ist gut und | |
wichtig. Aufarbeitung findet statt, wenn auch langsam. Es gibt aber eine | |
entscheidende Leerstelle in diesem antirassistischen Diskurs: die | |
Auseinandersetzung mit antiosteuropäischem und antislawischem Rassismus. | |
Dass seit 1945 versäumt wurde, die Verbrechen der Nationalsozialisten, und | |
allen voran der Wehrmacht in Osteuropa lückenlos aufzuarbeiten, aber auch | |
eine historische Kontinuität von antislawischem Rassismus aufzuzeigen, | |
zeigt sich in heutigen Rassismusdiskussionen. | |
Es gibt sie, die lange Tradition von antislawischem und antiosteuropäischem | |
Rassismus in Deutschland. [2][Das sagt Jannis Panagiotidis], | |
Migrationsforscher und Leiter des [3][Recet-Zentrums für | |
Transformationsgeschichte an der Universität Wien]. Die aktuelle Debatte | |
zur Frage, ob weiße Menschen Rassismus in Deutschland erleben könnten, hält | |
er für unterkomplex. | |
Menschen aus Osteuropa erleben Rassismus, nicht weil sie weiß sind, sondern | |
trotzdem. Die Täterperspektive sei dabei entscheidend, sagt Panagiotidis. | |
## Kein schwarz-weiß binäres Schema | |
Das Problem sei, dass oft so getan werde, als sei Rassismus ein | |
ausschließlich schwarz-weiß binäres Schema, sagt er. Dabei basierte | |
Rassismus besonders in Europa nie ausschließlich auf der Unterscheidung | |
nach Hautfarben. Die sogenannte „Rassentheorie“, wie es sie im 19. und in | |
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab, hat die Menschheit nicht nur in | |
Weiße und Schwarze unterteilt, sagt Panagiotidis. Sondern in „zivilisierte“ | |
Westeuropäer:innen und „barbarische, rückständige“ Menschen im Osten. | |
Seinen Höhepunkt fand diese Kategorisierung später unter den | |
Nationalsozialisten, die von „slawischen Untermenschen“ sprachen. Auch das | |
antisemitische Bild der „Ostjuden“ hängt historisch damit zusammen. | |
Seit der Aufklärung ist Osteuropa aus westlicher Sicht ein Ort der | |
Rückständigkeit. Wo zuvor die gedankliche Grenze noch zwischen Nord und Süd | |
verlief, zwischen dem „gebildeten Süden“ und dem „barbarischen Norden“, | |
verschob sich das ab der Aufklärung: Bald blickte „der Westen“, der sich | |
als zivilisiert verstand, auf den „rückständigen Osten“. | |
Im deutschen Kontext hat dieser ausgeprägte Antislawismus eine besondere | |
„ungute Tradition“, sagt [4][Hans-Christian Petersen. Er lehrt am Institut | |
für Geschichte der Universität Oldenburg], unter anderem mit Schwerpunkt | |
auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. „Seit dem 18. Jahrhundert | |
findet man in den Quellen immer wieder die Vorstellung von sogenannten | |
‚deutschen Kulturträgern‘, die das Licht der Kultur in den ‚dunklen Oste… | |
bringen würden“, sagt er. Reisebeschreibungen seien das vorrangig, die | |
davon erzählten, „wie unzivilisiert und rückständig alles sei“, dort im | |
Osten. Ein kolonialistischer Blick auf den Osten lasse sich darin durchaus | |
erkennen. Es greift also zu kurz, den deutschen Kolonialismus | |
ausschließlich auf die Jahre zwischen 1884 und dem Ende der Ersten | |
Weltkriegs zu begrenzen. | |
Diese deutsche Tradition findet ihren Ausdruck in dem Begriff des | |
„deutschen Ostens“. Der wird damals als ein zur freien Verfügung stehender | |
Raum imaginiert, ein „im Grunde kulturell leerer Raum, den man komplett neu | |
aufbauen und mit der eigenen Kultur und Höherwertigkeit füllen könnte“, | |
sagt Petersen. Seinen negativen Höhepunkt findet das später unter den | |
Nationalsozialisten [5][und dem im kollektiven Wissen kaum verankerten | |
„Generalplan Ost“]. | |
## Hitlers verbrecherischer Plan | |
Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion träumte Hitler 1941 vom | |
Idealbild des „Ostraums“, der bis zum Ural als deutsches Siedlungs- und | |
Versorgungsgebiet in Besitz genommen werden sollte. Hitlers | |
verbrecherischer Plan war es, fünf Millionen Deutsche im annektierten Polen | |
und im Westen der Sowjetunion anzusiedeln. 31 Millionen Menschen sollten | |
insgesamt deportiert oder ermordet werden. 14 Millionen „Fremdvölkische“ | |
sollten Arbeitssklaven werden. Das Leben der slawischen und jüdischen | |
Bevölkerung auf diesen Gebieten war bedroht durch Hunger, Ausbeutung, | |
Deportation und Tod. Einzig der Verlauf des Krieges hat dem mörderischen | |
Plan ein Ende gesetzt. Antislawischer Rassismus war im deutschen Kontext | |
genozidal, sagt Migrationsforscher Panagiotidis. | |
Bis in die Nullerjahre hinein tauchten die NS-Verbrechen in Osteuropa im | |
kollektiven deutschen Gedächtnis allerdings nur am Rande auf. Das änderte | |
sich zum Teil mit der zweiten Wehrmachtsausstellung ab dem Jahr 2001, mit | |
dem Beginn der Zwangsarbeiter:innendebatte und der Gründung der | |
Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft im Jahr 2000 sowie dem | |
Beginn der Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen | |
aus Osteuropa. | |
In den vergangenen zwanzig Jahren lief die Aufarbeitung der | |
nationalsozialistischen Verbrechen im Osten Europas gesellschaftlich | |
dennoch schleppend. In der Wissenschaft finden sich hingegen umfassende | |
Werke und Untersuchungen dazu. Verwunderlich also, dass es dieses Wissen | |
kaum in den antirassistischen Diskurs geschafft hat. | |
## Angst vor Opferkonkurrenz | |
Unwissen allein wäre ein Zustand, den man ändern könnte. Leider gesellt | |
sich bei manchen Antirassist:innen auch ein Unwille dazu, Geschichte | |
und Betroffenheit von Osteuropäer:innen anzuerkennen. Als gäbe es eine | |
Angst vor Opferkonkurrenz oder einfach keinen Platz für diese Menschen im | |
antirassistischen Diskurs. | |
Im vergangenen November regte sich [6][der Journalist Hasnain Kazim] auf | |
Twitter darüber auf, wer im Zusammenhang mit der US-Präsidentschaftswahl | |
als USA-Experte eingeladen werde. „Das ist wie mit der | |
Helmut-Kohl-Regierung, wen die alles als ‚Russlanddeutschen‘ sah – da | |
reichte auch der Besitz eines deutschen Schäferhunds vor 200 Jahren“, | |
schrieb er. [7][Sein Tweet löste Kritik aus.] Das ignorierte Kazim | |
zunächst, löschte seinen Tweet aber. | |
Kazim, der selbst immer wieder Opfer von rechten Hassnachrichten und | |
Rassismus wird, trat also verbal gegen Menschen, die Ähnliches erlebten. | |
Überrascht das? Nicht wirklich. Kazim offenbarte nicht nur, dass er | |
unsensibel gegenüber der Geschichte der Russlanddeutschen war, er bediente | |
sich auch einer plumpen Parole, die schon vor über zwanzig Jahren unter | |
Rechten beliebt war. | |
Nach Tagen der Stille [8][entschuldigte sich Kazim auf Facebook]. Wobei er | |
auch da erneut bewies, in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema nicht | |
weitergekommen zu sein. Er sprach von Russlanddeutschen als Einwanderern, | |
die wegen ihres „deutschen Bluts“ eingebürgert worden wären, während | |
nichtweiße Migrant:innen, die schon länger in Deutschland lebten, höhere | |
Hürden überwinden mussten, wie beispielsweise Kazims Familie. | |
## Gewalt gegen postsowjetische Migranten | |
Tatsächlich wurden Russlanddeutsche nie wegen ihres „deutschen Bluts“ | |
eingebürgert. Grundlage war vielmehr die erlebte Vertreibung und | |
Deportation während des Zweiten Weltkriegs. Nachweisen mussten | |
Russlanddeutsche ihre „deutsche Volkszugehörigkeit“, also eine ethnische | |
Zugehörigkeit. Von vielen Deutschen wurden sie aber pauschal als „Russen“ | |
angesehen. | |
Kaum bekannt sind [9][die postsowjetischen Migrant:innen, die Opfer | |
rassistischer Gewalt wurden]. Wahrscheinlich weil man sie schwer | |
kategorisieren konnte. Waren sie nicht zu weiß, um Rassismus zu erleben? | |
Migrationsforscher Panagiotidis schreibt in seinem aktuellen Buch | |
„Postsowjetische Migration in Deutschland“ darüber. | |
Am 4. Mai 2002 attackierten Jugendliche den Aussiedler Kajrat Batesov und | |
seinen Freund Maxim K. vor einer Disko und beschimpften sie als | |
„Scheißrusse“. Batesov starb am 23. Mai 2002 an seinen Verletzungen. Ein | |
„fremdenfeindliches Tatmotiv“ wollte das Gericht damals nicht erkennen. | |
In Heidenheim erstach ein Rechtsextremist am 19. Dezember 2003 Viktor | |
Filimonov, Waldemar Ackert und Aleksander Schleicher, alle drei junge | |
Spätaussiedler. In diesem Fall sah das Gericht ebenfalls keinen | |
rassistischen Hintergrund. | |
Dass sich unter den Tätern rassistischer Gewalt auch postsowjetische | |
Migranten finden, gehöre „zu den Paradoxien der deutschen | |
Mehrheitsgesellschaft“, schreibt Panagiotidis. | |
Der Russlanddeutsche Alex W. [10][erstach am 1. Juli 2009 die im dritten | |
Monat schwangere Ägypterin Marwa El-Sherbini] in einem Dresdner Gericht. | |
Das rassistische Tatmotiv war hier eindeutig. | |
Was illustriert das? | |
Wohl dass die Grenzen zwischen Tätern und Opfern nicht immer so eindeutig | |
verlaufen wie manche es gerne hätten. Die Realität ist eben komplexer als | |
bislang noch oft im antirassistischen Diskurs dargestellt. | |
30 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Dekolonisierung-in-Berlin/!5754310 | |
[2] /Wissenschaftler-zu-postsowjetischer-Migration/!5733742 | |
[3] https://recet.at/ | |
[4] https://uol.de/suche/person?username=HPetersen2&cHash=890ac855a82a3e0d9… | |
[5] /Universitaet-mit-brauner-Vergangenheit/!5188223 | |
[6] /Die-Hoerbuchkolumne/!5595021 | |
[7] /Der-Wochenrueckblick/!5723536 | |
[8] https://www.facebook.com/hasnain.kazim/posts/10158057301998264?notif_id=160… | |
[9] /Beschwiegene-Polizeigewalt/!5697142 | |
[10] /Zum-10-Todestag-von-Marwa-El-Sherbini/!5603750 | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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