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# taz.de -- Jüdische Kontingentflüchtlinge: Was wächst auf Beton?
> Die Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge galt als
> Erfolgsgeschichte. Heute ist die Minderheit in Vergessenheit geraten.
> Eine Familiengeschichte.
Bild: Die Autorin heute
Es ist der 22. Januar 2020, und ich sitze auf der Beerdigung meines Opas.
Draußen reihen sich Gräber aneinander, ein Friedhof, wie es ihn tausendfach
in Deutschland gibt, drinnen, in der Trauerhalle, kann ich meinen eigenen
Atem sehen, während ich auf den glänzenden Sarg blicke. Ich friere. Aus den
Boxen kommt Debussys „Clair de Lune“, später Chopin. Mein Opa hat
klassische Musik geliebt. Nachdem meine Familie vor 25 Jahren aus Moldau
nach Deutschland gekommen war, verkroch er sich in einem kleinen Zimmer,
las staatsnahe russische Nachrichten, hörte Musik, meistens Klassik Radio.
Geredet hat er selten.
Als die Musik verstummt, ist nur noch das Schluchzen meiner Oma zu hören.
Niemand spricht. Weil ich nicht weinen will, bohre ich meine Fingernägel
immer tiefer in meine Handinnenseite. Die Tränen fließen trotzdem. Ich
weine über den Tod meines Opas. Über sein Leben, das für ihn in der Fremde
endete. Über die vielen Versäumnisse unserer Familie, die sein Tod
offenlegte. Ich weine, weil sich endlich ein Knoten in mir löst.
Später, nach der Beerdigung, sitzen meine Familie und ich im Wohnzimmer
meiner Oma. Es ist mit Teppichen ausgelegt, russisches Klischee. Von der
Decke hängt ein Kronleuchter, an den Wänden hängen seit jeher drei Bilder,
die gratis mit den Rahmen kamen: ein Wasserfall, eine Blumenvase, eine
Schlucht. David, mein 16-jähriger Bruder, und mein Onkel Tolja streiten
sich um den Radiosender, aus der Küche dirigiert meine Oma, wo Kartoffeln,
geräucherter Fisch, eingelegte Tomaten und Kaviarbrötchen ihren Platz auf
dem Esstisch finden sollen. Wir sprechen russisch und essen russisch, so
wie früher in Moldau.
Mein Bruder und mein Onkel haben sich geeinigt, wir hören russischen Rock,
Sender Awtoradio, heben unsere Gläser, trinken auf meinen Opa: mein Onkel,
mein Vater und seine Partnerin Natascha, ihre Mutter, mein Bruder David,
meine Oma, meine Mutter, eine Nachbarin. Wir essen und trinken so viel Wein
und Wodka, bis wir uns wieder erinnern wollen. An unsere 25 Jahre
Deutschland.
Oma sagt: Gena, also mein Opa, habe es ja versucht mit dem Arbeiten. Er
fing als Müllmann an, den Job hatte das Arbeitsamt ihm kurz nach der
Einreise zugeteilt. Eines Tages saß er mit seinen deutschen Kollegen
zusammen, sie machten Pause und aßen, als sie ihn beschimpften: Du
scheißrussisches Schwein, hau ab mit deinem nach Knoblauch stinkenden
Essen, hätten sie gesagt. Kotlety hatte er gegessen, Frikadellen. Danach
ging Gena nicht mehr hin. Er wollte sich von niemandem beschimpfen lassen.
Ich habe viele solcher Erfahrungen in mich hineingefressen, sagt Oma. Es
hat lange gedauert, bis die Leute verstanden haben, dass ich auch ein
Mensch bin.
Wir haben in Deutschland sofort aufgehört, Knoblauch ins Essen zu tun, sagt
die Nachbarin, eine Russlanddeutsche.
Und Papa sagt: Vor dem Leben in Deutschland warst du Schweißer, wie Opa,
vielleicht Ärztin, Ingenieurin oder Jurist. Und dann kommst du hierher,
hops, und du bist niemand.
Viele haben damit ihren Frieden gefunden, ist man sich einig am Tisch. Nur
einer nicht, denke ich, mein Opa. Er hat alles hinter sich gelassen, um ein
Leben in der Fremde aufzubauen, in einem Land, das ihn, uns, unbedingt
wollte, und am Ende starb er, krank und enttäuscht, und es reichte nur für
eine billige Sozialbestattung.
So wie meine Familie und ich kamen zwischen 1995 und 2005 mehr als
[1][200.000 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach
Deutschland]. Menschen, die man später als „jüdische Kontingentflüchtlinge…
bezeichnete. Lange galt ihre Einwanderung als Erfolgsgeschichte. Sie, wir,
waren die guten Migrant:innen. An unsere Ankunft war Hoffnung geknüpft: Wir
sollten das jüdische Leben in Deutschland wieder aufblühen lassen. Bald
darauf, Mitte der 1990er Jahre, wurden Migrant:innen aus dem ehemaligen
Ostblock als Problem wahrgenommen – und dann gar nicht mehr. Man hat diese
Menschen, uns, vergessen.
25 Jahre später frage ich mich, was eigentlich dran ist an dieser
Erfolgsgeschichte. Sicher, einige von uns sind heute in der deutschen
Mittelschicht angekommen. Aus uns ist etwas geworden: Wir sind
Journalist:innen, Autor:innen, Musiker:innen, Theatermacher:innen.
Einer ist sogar Europaabgeordneter.
Doch über die Kränkungen, Enttäuschungen und Anstrengungen, die diese
Erfolge mit sich gebracht haben, spricht niemand. Von denen, die es nicht
nach oben geschafft haben, weiß kaum eine:r. Wer denkt an unsere
Großeltern, unsere Eltern?
Auch in meiner Familie wurde nicht über Ängste, Hoffnungen und zerplatzte
Träume gesprochen. Auch nicht über Erdniedrigungen und Verletzungen. Es
war, als hätten wir uns 1995 mit der ersten Sekunde auf deutschem Boden zum
Schweigen verpflichtet. Vielleicht weil es so einfacher war, klarzukommen.
Vielleicht aus Scham. Und weil wir nie einen Ort, eine Sprache fanden. Denn
viele Erlebnisse passten nicht ins Bild, das man für uns vorgesehen hatte.
Das der Bilderbuchjuden, deren Lebensinhalt darin bestehen sollte,
irgendwie jüdisch zu sein und Deutschland damit einen Dienst zu erweisen.
Am Abend der Beerdigung meines Opas ruft meine Oma mich zu sich. Sie hält
seine alte Kamera in der Hand. In den ersten Jahren in Deutschland hatte er
noch viel fotografiert, irgendwann ließ er es bleiben. Ob ich die Kamera
nicht haben möchte, fragt meine Oma, ich fotografiere ja gerne. Zurück in
Berlin, wo ich wohne, finde ich einen alten Film in der Kamera,
wahrscheinlich von Anfang der 2000er. Auf den entwickelten Fotos sind meine
Großeltern zu sehen, mein Vater und Onkel. Es sind Fotos von einem
Geburtstag. Mittagessen in der Küche, mein Bruder beim Spielen.
Ich beginne Fragen zu stellen: Wie war das mit unserer Ausreise? Ich selbst
war zwei Jahre alt und kann mich nicht erinnern. Was ist schiefgelaufen bei
unserer Einwanderung, unserer Integration? Was wollten wir von Deutschland
– und was wollte dieses Land von uns? Ich lese die wenigen
wissenschaftlichen Texte, die es über russisch-jüdische Einwanderung gibt,
lese Politiker:inneninterviews, alte Reportagen.
Der Umbau der Sowjetunion, die Perestroika ab Ende der 1980er Jahre, war
eine Zeit, die von großer Unsicherheit geprägt war. Der damalige
Generalsekretär und spätere Präsident Michail Gorbatschow hatte es sich zur
Aufgabe gemacht, das Land wirtschaftlich und politisch umzukrempeln. Das
Ergebnis waren leere Regale in den Geschäften und Kriminalität im Land. Die
Menschen waren verängstigt und hatten die Schuldigen schnell gefunden: die
Juden. Die nationalistischen Bewegungen wurden immer lauter, Gerüchte über
anstehende Pogrome verbreiteten sich, es kam zu Übergriffen. Viele jüdische
Familien packten damals ihre Sachen und brachen auf nach Israel und in die
USA.
Andere wollten nach Ostberlin. Im Juli 1990 bekannte sich die erste und
letzte frei gewählte DDR-Regierung dazu, bedrohte jüdische
Zuwander:innen aufzunehmen. In der Sowjetunion verbreitete sich die
Nachricht schnell. Allein 2.000 russische Jüdinnen und Juden kamen im
Sommer 1990 in die DDR.
Ungefähr zur selben Zeit flüsterte ein Freund meines Opas ihm etwas von
Kanada ins Ohr. Der Freund erzählte, einige Familien hätten sich
entschieden, dorthin auszureisen. Ob wir nicht mitkommen wollten? Mein Opa
war unsicher. In ein fremdes Land reisen, ohne Zusage, dort bleiben zu
können? Er winkte ab. Es brauchte einen Krieg, bis mein Opa den Mut fand,
zu gehen.
1991 schaute die Welt auf Deutschland, Wiedervereinigung, endlich wieder
ein Land. Die Ministerpräsidentenkonferenz beschloss am 9. Januar 1991 die
Aufnahme jüdischer Migrant:innen. Parallel: Freidrehende Nazis, täglich
rechte Übergriffe, Brandanschläge auf Asylbewerberheime. Da kam es ganz
gelegen, Jüdinnen und Juden aufzunehmen und zu zeigen: Von diesem neuen
Deutschland geht keine Bedrohung aus.
Doch ein Einwanderungsland wollte man nicht sein. Und auch der israelische
Botschafter betonte, dass Jüdinnen und Juden kein Asyl in Deutschland
bräuchten, da sie ja in Israel willkommen seien. Also beschloss man, eine
besondere politische Grundlage zu schaffen: Die russisch-jüdischen
Einwander:innen wurden zu Kontingentflüchtlingen. Dies gab ihnen die
Möglichkeit, nach dem damals geltenden Aufenthaltsrecht in die
Bundesrepublik einzureisen, ohne eine Verfolgung nachweisen zu müssen.
Ein halbes Jahrhundert nach der Schoah inszenierte das wiedervereinigte
Deutschland die Aufnahme russischer Jüdinnen und Juden als Akt der
Versöhnung. Wir wurden zu Wiedergutmachungsjuden. Kommen durfte, wer Jude
war – bis 2005 jedenfalls. Dann trat eine neue Regelung in Kraft, die
praktisch zum Zuwanderungsstopp führte. Zuvor reichte der Nachweis im
sowjetischen Pass, der sogenannte pjatyi punkt, Punkt fünf, der die
„jüdische Nationalität“ festhielt. So umging die Bundesregierung es,
Nachweise einer jüdischen Abstammung einzufordern.
Wie hätte das auch ausgesehen: Deutsche, die von Juden verlangen, ihr
Jüdischsein zu belegen? Man bestimmte die Zugehörigkeit zum Judentum also
nicht nach der Halacha, dem Religionsgesetz, sondern folgte dem
sowjetischen, säkularen Verständnis. Nach diesem vererbt sich die
Zugehörigkeit von Jüdinnen und Juden zu einer Nationalität oder Ethnie über
den Vater. In den 1990er Jahren reisten also viele sogenannte Vaterjuden
und -jüdinnen ein, wie auch wir welche waren, die aber keinen Platz in den
jüdischen Gemeinden fanden. Denn dort gelten größtenteils nur diejenigen
als Juden, deren Mutter Jüdin ist.
Als ich 1993 geboren wurde, war die Sowjetunion bereits zusammengebrochen.
Meine Familie lebte nun in Transnistrien, einem neu ausgerufenen Staat, der
in einem Unabhängigkeitskrieg erkämpft worden war. Und wieder hieß es: Wer
Jude sei, könne nach Deutschland gehen. Dieses Mal waren wir mutig, wir
wollten nur noch weg. Meine Familie fand eine Frau, die Deutsch sprach, und
ließ sie für uns in der deutschen Botschaft in Moskau anrufen. In unserem
Land herrscht Krieg, es ist zerstört, können Sie uns so schnell wie möglich
aufnehmen?, fragten wir. So einfach ist das nicht, sagte man uns. Wir
sollten unsere Papiere einreichen, abwarten.
Zwei lange Jahre dauerte es, bis unsere Unterlagen zur Einreise als
sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge bewilligt wurden. In diesen zwei
Jahren setzten sich mein Vater und mein Opa immer wieder in den Zug
Richtung Moskau, in der Hand die Papiere, die uns eine neue Zukunft bringen
sollten. In diesen zwei Jahren erzählten wir kaum jemandem, dass wir
ausreisen wollten. Zu groß war die Angst, sagt meine Oma am Telefon. Im
Hintergrund höre ich laute Stimmen, irgendeine russische Talkshow.
Mittlerweile sind einige Monate vergangen, seit wir meinen Opa beerdigt
haben. Ich rufe jetzt noch öfter bei meiner Oma an. Sitze dann da, mit
Stift und Block. Will festhalten, woran sich meine Oma erinnert.
Man traute nur der eigenen Familie, sagt sie. Transnistrien litt unter den
Auswirkungen des Krieges, für Essen brauchte man Lebensmittelmarken, es gab
Überfälle und kriminelle Banden, die es auf diejenigen abgesehen hatten,
die ausreisen wollten – denn man vermutete, sie hätten Geld.
1995 dann der Anruf. Unsere Ausreise wurde bewilligt. In nur wenigen Wochen
verstauten wir unser Leben in ein paar Koffern und Plastiktaschen.
Bettwäsche, das gute Geschirr, Kleidung, ein paar Fotos. Es gab keine
Abschiedsfeier, kein großes „Auf Wiedersehen“. Wir gingen still und in der
Morgendämmerung. Meine Oma zog die Wohnungstür hinter sich zu, drehte den
Schlüssel im Schloss um, fast so, als würde sie nur kurz einkaufen gehen.
Als würde sie bald zurückkehren.
Meine Großeltern, mein Onkel, meine Eltern und ich setzten sich in einen
Minibus, eine sogenannte Marschrutka, die uns wegbringen sollte. Weg aus
dem Krieg, weg aus der Dunkelheit, sagt Oma. Wir fuhren zwei Tage lang,
übernachteten einmal kurz vor der polnischen Grenze, bis wir in Deutschland
ankamen. Im Vergleich zu der heutiger Flüchtlinge war unsere Ausreise
privilegiert. Unsere Emigration war legal, sie war gewollt, und das von
beiden Seiten: Wir wollten gehen, denn es gab wenig, was uns hielt, und in
Deutschland erwartete man uns, weil wir, die jüdischen Flüchtlinge, so
dringend gebraucht wurden. Dass wir vor allem dazu da waren, das
beschädigte deutsche Selbstbild wiederherzustellen, wussten wir damals noch
nicht.
Wir landeten in einem Aufnahmelager in Nürnberg. Dort steckte man uns in
ein Zimmer mit Stockbetten und drückte uns in Plastik verpacktes Essen in
die Hand. Achtung, Achtung, hallte es aus den Lautsprechern durch die
Gänge, meine Oma zuckte jedes Mal zusammen. „Achtung, Achtung“ verstand sie
schon. Oma dachte, es bedeute Gefahr, es erinnerte sie an den Krieg zu
Hause.
Auch für meine Mutter war die Ankunft in Deutschland ein Schock. Einige
Tage nach der Beerdigung meines Opas sitzen wir zusammen. Zum ersten Mal
habe ich den Mut, Fragen zu stellen. Selbst die Luft, sagt meine Mutter,
habe anders geschmeckt. An vieles aus den ersten Wochen und Monaten kann
sie sich heute nicht mehr erinnern. Vielleicht ist das so, sagt sie. Man
erinnert sich nicht gern an Schmerzhaftes.
Die Politik und die Medien freuten sich damals, dass wir kamen. Man hoffe
auf eine Rückkehr der Heines und Einsteins, schrieb die Autorin Lena
Gorelik einmal. Ich schaue mir Fotos von unserer Ankunft an: Wir tragen
Jogginghosen, ausgebeulte Pullover, Kleider mit komischen Aufdrucken. Ob
die Deutschen enttäuscht waren, als sie uns sahen? Wie Heines und Einsteins
wirkten wir sicher nicht.
An unserem zweiten Tag im Lager fragte man uns: Wohin wollt ihr? Wir saßen
einem Beamten gegenüber, er zählte bayerische Städtenamen auf. Meine Eltern
sagten: Irgendwohin, wo es eine Universität gibt. Würzburg vielleicht?,
fragte der Beamte. Wir hatten keine Ahnung, nickten.
Über ein Jahr lebten wir in einem Asylheim in Würzburg. Unsere
Nachbar:innen waren jüdische Kontingentflüchtlinge, wie wir, und
Russlanddeutsche. Die Medien schrieben gerne Reportagen über uns, aus genau
diesen Heimen. Wir wurden als hochgebildet, kulturell interessiert
dargestellt. Typ: urbaner Künstlerjude. Ich verbrachte die Zeit im Heim
damit, durch die Flure zu rennen und mit anderen Kindern fangen zu spielen.
Manchmal saß ich stundenlang in fremden Zimmern und beobachtete die
Erwachsenen. Kulturelle Momente, die ich mitbekam: Karten spielen und
rauchen.
Meine Großeltern waren die Ersten, die den Absprung in eine eigene Wohnung
schafften. Wo sie nun lebten, ragten Plattenbauten aus dem Boden. Deutsche
nannten diesen Teil der Stadt damals abfällig Russengetto oder manchmal,
etwas liebevoller, Klein-Moskau. Bald darauf zogen auch meine Eltern und
ich in eine eigene Wohnung. Sie war ein dunkles, unrenoviertes Loch.
Unverputzte Wände, alte, bräunliche Fließen und voll mit Möbeln, die
aussahen, als hätten sie früher einem sehr alten bayerischen Ehepaar
gehört.
In der Sowjetunion hatte mein Opa als Schweißer gearbeitet, meine Oma einen
Kindergarten geleitet, beides angesehene Stellungen. Jetzt schmierte sie
Brötchen bei Nordsee in einem dunklen Keller. Ihre Kolleginnen waren
Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge wie sie. Manchmal, nach
der Schule, besuchte ich Oma, sie schlich dann die Kellerstufen hoch und
steckte mir heimlich ein Backfischbrötchen zu.
Meine Eltern hatten studiert, mein Vater Jura, meine Mutter Medizin. In
Deutschland zählte das alles nicht mehr. Weil Diplome und
Berufsausbildungen von Zuwander:innen aus der ehemaligen Sowjetunion
kaum anerkannt wurden, mussten meine Eltern von vorne beginnen. Für meine
Mutter bedeutete das eine Ausbildung zur Krankenschwester, mein Vater wurde
Versicherungskaufmann.
Es gibt zwei Möglichkeiten für dich als Migrant:in in Deutschland, das
merkten wir schnell: Pass dich an oder verkriech dich unter deinesgleichen.
Als ich vier Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden. Von da an
lebte ich in zwei Welten: Meine Mutter wählte die Anpassung, mein Vater das
Vertraute.
In der Welt meiner Mutter erinnerte nichts mehr an unsere Herkunft. Sie
suchte sich deutsche Freund:innen, bald darauf einen deutschen Partner. Sie
sprach kein Russisch mehr mit mir. Meine Mutter suchte Stabilität und
Sicherheit, indem sie ihre Vergangenheit verleugnete. Und sie entschied für
mich mit: Wir werden deutsch. Ich will eine bessere Deutsche sein als die
Deutschen selbst, sagte meine Mutter oft. In ihrer neuen Rolle als Deutsche
war sie großartig.
In der Welt meines Vaters wurden wir als Russen beschimpft. Wir spuckten
zurück: dumme Deutsche. Mein Vater wurde unsichtbar in Deutschland,
schweigsam. Sicherheit fand er dort, wo es einen russischen Supermarkt gab.
Je nach Laune entschied mein Vater, wer er sein wollte. Einmal standen wir
im Kino an, die Schlange war unendlich lang, mein Vater drängelte sich
unbemerkt vor und kaufte uns Tickets. Als er zurückkam, fragte ich: Wie
hast du das gemacht? Mit einem Grinsen sagte er: Ich bin doch Russe, Erica.
In anderen Momenten war Papa Jude, er wollte sich nicht auf eine bestimmte
Identität festlegen lassen.
Die erste Euphorie über uns neue Juden hatte mittlerweile nachgelassen. In
den Medien las man jetzt öfter von der angeblichen Russenmafia, der wir
angehören sollten. Unter den jüdischen Kontingentflüchtlingen waren
Fälscher:innen, hieß es, also gar keine echten Juden.
In der Schule saßen wir morgens immer im Sitzkreis zusammen. Wir sollten
vom Wochenende erzählen. Was hast du erlebt, Erica?, fragte die Lehrerin.
Ich wollte sein wie die anderen, ich durfte nicht auffallen. Ich erzählte:
Wir haben uns Pferde angeschaut, weil mein Papa mir ein Pferd kauft. Ich
erfand Geschichten über ein Leben, das wir nicht führten. Während meine
Mitschüler:innen ihre Wochenenden auf dem Reiterhof verbrachten, gingen
meine Mutter und ich ins Möbelhaus und schauten uns die Wasserfontänenshow
an, der Eintritt war frei. Wenn noch Zeit blieb, schlenderten wir an den
eingerichteten Zimmern vorbei, spielten ein Leben nach, das wir uns nicht
leisten konnten.
Das Schlimmste aber war die Scham. Wenn ich in der Straßenbahn von meiner
Familie angerufen wurde, hob ich nicht ab. Ich wartete, bis ich aussteigen
konnte, und versteckte mich im nächsten Hauseingang. Erst dann rief ich
zurück. привет папа ты звонил, sagte ich dann. Hallo Papa, d…
angerufen? Erst wenn ich allein war, konnte ich frei russisch sprechen.
Noch schlimmer war die Scham für das gebrochene Deutsch meines Vaters und
meiner Großeltern. Wenn meine Mutter einen Satz falsch konstruierte oder
russische Sprichwörter einfach ins Deutsche übersetzte, lachte ich sie aus.
Es war, als wollte ich mir selbst beweisen, was für eine tolle Deutsche ich
doch war. Heute bin ich wütend auf dieses Kind von damals. Ich sah doch,
wie hart meine Familie arbeitete, wie sie versuchte, ein neues Leben
aufzubauen. Besonders für mich, damit ich es mal besser hätte. Und mir fiel
nicht mehr ein, als sie zu verleugnen und mich über sie zu stellen. Heute
ist da wieder Scham. Für mein eigenes Verhalten.
Das Russengetto, in dem mein Vater und meine Großeltern wohnten, war ein
einziger Betonhaufen. Als Kind war es für mich das Paradies. In der Welt
meiner Mutter war ich vorsichtig, bedacht, und versuchte ständig, unsere
Herkunft zu verstecken, aber hier bei meinem Vater musste ich das nicht,
hier waren alle so wie ich. Im Betonparadies wurde russisch gesprochen,
russisch gegessen und russisch erzogen.
Während meine Freundinnen und ich uns aus Langeweile auf Spielplätzen
prügelten oder unsere Eltern beklauten, verzweifelten viele andere am neuen
System, manche begingen Suizid. Irgendwann sprang eine junge Frau aus der
Platte und beendete ihr Leben. An der Unfallstelle standen später Kerzen,
Blumen und ein Foto von ihr. Wir schauten weg, wenn wir daran vorbeiliefen.
Wir ahnten, wie fragil unser Betonparadies war.
Meine Oma und mein Vater leben noch immer in diesem Teil der Stadt. Noch
heute werden mir von dort schlechte Nachrichten überbracht: Jemand, mit dem
ich damals rumhing, ist jetzt in der Psychiatrie. Ein anderer kommt vom
Alkohol nicht los, wieder einer ist tot, wegen Drogen.
Deutschland feiert seit unserer Ankunft das blühende jüdische Leben. Wir
hätten es zurückgebracht, heißt es. Bei uns blühte anfangs aber wenig. Was
wächst auch auf Beton?
Der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière bezeichnete jüdische
Kontingentflüchtlinge 2009 als „Geschenk an Deutschland“. Ungefähr zur
selben Zeit hatte meine Oma einen Bandscheibenvorfall. Ich musste ihr die
deutsche Übersetzung für „Schmerz“, „Rücken“ und „Langes Sitzen tu…
laut und deutlich vorsprechen, sie schrieb alles auf, um es später dem Arzt
vorzulesen.
Heute ist meine Oma in Frührente, sie erhält 200 Euro monatlich, ihre
[2][Arbeitsjahre aus der Sowjetunion] wurden ihr nicht angerechnet. Anders
als bei Spätaussiedler:innen, für die andere Gesetze gelten. Für uns
gibt es [3][keine Sozialversicherungsabkommen] mit Russland oder den
meisten anderen Nachfolgestaaten. [4][Die Rentenberechnung der jüdischen
Kontingentflüchtlinge] beginnt erst mit der Einwanderung. Weil 200 Euro
nicht zum Überleben reichen, geht meine Oma putzen – wie all die Jahre
davor.
Wir, die jüdischen Kontingentflüchtlinge, waren lange eine gern erzählte
deutsche Erfolgsgeschichte. Und die Betonung liegt auf „deutsch“, denn um
uns ging es dabei nicht. Als man Anfang der 1990er Jahre Jüdinnen und Juden
die Einreise ermöglichte, hoffte man nicht nur, die deutsche Gesellschaft
von ihrer Geschichte zu entlasten, sondern auch, die jüdischen Gemeinden
wiederzubeleben. 1990 verzeichneten sie nur noch 29.089 Mitglieder, durch
den Zuzug aus dem Osten wuchs deren Zahl innerhalb weniger Jahre auf
100.000 an. Mission erfüllt.
In den Medien wurden damals oft Kämpfe in den Gemeinden zwischen
„alteingesessenen“ Juden und „neuen“ Juden heraufbeschworen. Es war die
Rede von „Integrationsproblemen“, von Zuwanderern, die die Gemeinden mit
einem „Dienstleistungsunternehmen“ verwechseln würden, wie es in einer
taz-Reportage von 1995 heißt. Und das größte Übel: Die neuen Juden hatten
keinen blassen Schimmer von Religion – auch wir nicht.
[5][„Wir haben Juden erwartet, aber es kamen Russen“], zitierte der Spiegel
2004 den Funktionär einer jüdischen Jugendorganisation. Kein Wunder, in der
Sowjetunion war Religion offiziell ja auch für tot erklärt worden. Die
meisten russischen Jüdinnen und Juden lebten säkular, hatten wenig Bezug
zum Judentum. Auch in meiner Familie ist das so. Ob uns das weniger jüdisch
machte?
Ich muss heute immer häufiger darüber nachdenken. Was macht mich jüdisch?
Ein jüdischer Vater, zu wissen, wie man Chanukka feiert,
Antisemitismuserfahrungen oder einfach ein Gefühl? Man ist eben anders
jüdisch in Russland, in der Ukraine oder in Moldau, denke ich. In
Deutschland wurde das zum Problem.
Vor einigen Jahren kam ich zurück von einer Studienreise aus Bosnien. Ich
erzählte meinem Vater von den Menschen, die ich dort kennengelernt hatte.
Menschen, die den Krieg erlebt hatten, die ihre Traumata als
Künstler:innen verarbeiteten oder Aktivist:innen geworden sind. Ich
erzählte von historischen Orten, die ich besucht hatte, beschrieb eine
Synagoge in Sarajevo.
Mein Vater hörte mir aufmerksam zu, dann verschwand er und kam kurze Zeit
später mit einer Schatulle zurück. Darin eine Kette mit einem Davidstern.
Diesen Anhänger hat mir meine Oma zu deiner Geburt geschenkt, sagte er.
Meine Uroma also, die Ende der 1970er Jahre von der Sowjetunion nach Israel
emigriert war. Schenk ihr diese Kette, sobald der richtige Moment da ist,
soll sie gesagt haben.
All die Jahre hatte mein Vater diese Kette also in einer Schublade liegen
lassen, wartend, auf den richtigen Moment. Wieso war dieser Moment nun
gekommen? Was hatte ihn bis dahin davon abgehalten, mit mir über unsere
jüdische Identität zu sprechen?
Wir müssen Deutschland ganz schön enttäuscht haben, denke ich manchmal.
Statt Heines und Einsteins, die auch noch Ahnung von jüdischen Feiertagen
haben, kamen Georgis, Dimas und Swetlanas. Zuwander:innen mit ganz
normalen Zuwanderungsproblemen, mit Sprachschwierigkeiten, Unsicherheiten,
Ängsten. Uns wurde aber auch zu viel aufgebürdet, denke ich. Wir sollten
ideologische Arbeit für Deutschland leisten, uns in den Synagogen
integrieren und dabei trotzdem kosmopolitisch daherkommen. Welcher Mensch
kann so etwas leisten?
Unsere Migration wurde von dem Wunsch nach einem besseren Leben getragen.
Wir dachten, da eröffnet sich eine Möglichkeit, eine Chance. Heute
bezweifle ich, dass wir tatsächlich so privilegiert waren, wie uns das
gerne verkauft wird. Für meine Großeltern und Eltern ist vieles verloren
gegangen in Deutschland.
Die Erfahrung der Emigration prägt bis heute mein Verhältnis zu
Deutschland. Ich weiß nicht, ob einige Dinge anders gelaufen wären, wenn
meine Familie früher ihr Schweigen gebrochen hätte. [6][Würde ich mich
wohler fühlen in Deutschland?] Wäre ich weniger wütend?
Für meinen Opa kommen meine Zweifel zu spät. Und auch meine Oma und viele
andere werden mit dem Gefühl alt, entwertet worden zu sein. Aber: Wir, die
Kinder und Enkelkinder, bleiben. Und Deutschland muss sich mit uns
auseinandersetzen.
Wenn der Tod meines Opas etwas Gutes hatte, dann dies, dass meine Familie
endlich über ihre Vergangenheit spricht, auch wenn das unangenehme
Erinnerungen wachruft und Debatten auslöst. Und es ist höchste Zeit, dass
innerhalb der Gesellschaft darüber diskutiert wird, was damals von
politischer Seite versäumt wurde – und was bis heute nachwirkt.
Als ich zum letzten Mal mit meiner Oma über diesen Text spreche, sagt sie:
Es ist ein Wunder, wie ich diese ersten Jahre überlebt habe. Es war so
schwer, aber irgendwie haben wir es geschafft. Ja, irgendwie, denke ich.
Aber genau über dieses Irgendwie müssen wir sprechen.
22 Nov 2020
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[5] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30748396.html
[6] /Sechs-Monate-nach-Hanau/!5703415
## AUTOREN
Erica Zingher
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