# taz.de -- Sechs Monate nach Hanau: Eine Frage des Vertrauens | |
> Ohne Vertrauen kann eine Demokratie nicht funktionieren. Aber was, wenn | |
> man es verloren hat – so wie unsere Autorin nach dem Anschlag von Hanau? | |
Bild: Glas ist zersplittert und noch so vieles mehr: Hanau, nach dem rassistisc… | |
Diese Geschichte beginnt am Donnerstag, den 20. Februar 2020. Ich weiß, | |
dass die Geschichte für viele andere schon früher ihren Anfang nimmt. Aber | |
für mich beginnt sie an diesem Tag. Am Donnerstag, den 20. Februar 2020 | |
stehe ich mit Tausenden anderen Menschen auf dem Hermannplatz in Berlin und | |
stelle fest, kein Vertrauen mehr in den deutschen Staat zu haben. Mich | |
erschüttert das, für eine wie mich ist diese Feststellung verwunderlich. | |
Deutschland war für mich lange eine relativ heile Welt. Ich bin in einem | |
Haushalt aufgewachsen, der sich selbst in die „untere Mittelschicht“ | |
einordnet. Ich hatte Glück, ich konnte mit meinem deutschen Pass die Welt | |
bereisen. Meine Eltern mussten mir nicht beibringen, wie ich mich in einer | |
Polizeikontrolle zu verhalten habe, um nicht verletzt oder sogar umgebracht | |
zu werden. Was mein Leben bislang schwer gemacht hat, würde ich | |
größtenteils nicht unter Systemfehler, sondern unter Schicksalsschlag | |
verbuchen. Ich habe keinen Grund gesehen, daran zu zweifeln, dass der Staat | |
mich und mein Leben schützt. Dachte ich. | |
Am Mittwochabend, den 19. Februar 2020, ermordete ein Mann in Hanau aus | |
rassistischen Motiven neun Menschen in und vor zwei Shishabars, dann fuhr | |
er nach Hause, erschoss seine Mutter und sich selbst. | |
Gökhan Gültekin. Ferhat Unvar. Sedat Gürbüz. Said Nessar Hashemi. Mercedes | |
Kierpacz. Hamza Kurtović. Vili Viorel Păun. Fatih Saraçoğlu. Kaloyan | |
Velkov. Ihre Gesichter und ihre Namen stehen jetzt im Internet, sie waren | |
im Fernsehen und in den Zeitungen. Wenige Tage nach dem Attentat sehe ich | |
sie auch in meiner Nachbarschaft, ihre Porträts kleben auf | |
Leergutcontainern, Hauswänden, Stromkästen. Wir joggen jetzt an ihnen | |
vorbei, wir setzen uns neben sie in einen Sonnenfleck und nippen an | |
Feierabendgetränken. | |
Am 20. Februar 2020 sind meine Beine kalt, weil ich unter der Jeans keine | |
lange Unterhose trage. Aus Lautsprechern höre ich Wortfetzen einer Rede, | |
dann noch eine, es vermischen sich Rufe gegen Rassismus und für eine | |
gerechte Wohnungspolitik. | |
Ich bin nicht gern hier, aber ich kann jetzt nicht allein sein. Also stehe | |
ich hier und friere und höre zu, wenn eine Freundin sagt: „Meine Mutter hat | |
seit Jahren einen gepackten Koffer unter dem Bett, für den Fall, dass wir | |
hier weg müssen. Aber wohin würden wir gehen? Keine Ahnung.“ Ich stehe und | |
friere und spüre, dass ich spät dran bin mit dem Vertrauensverlust. | |
Diese Geschichte beginnt am 20. Februar 2020, aber das war nicht der Tag, | |
an dem ich das Vertrauen in den deutschen Staat verlor. Mein Vertrauen ist | |
langsam verschwunden, unbemerkt. Ich erinnere mich an sonntägliche | |
Kaffeekränzchen mit der deutschen Großfamilie, mit Standardsätzen wie: | |
„Ach, den Politikern kannste eh nicht vertrauen.“ Dass man wählen geht, war | |
trotzdem klar, am besten die SPD, also habe ich damals auch die SPD | |
gewählt. | |
Meine Mutter wählt nie, früher haben wir deshalb oft gestritten. Ich habe | |
erst später verstanden, dass sie in China ein ganzes Leben zurückließ, weil | |
die Politik sich zu sehr in ihr Leben einmischte. Meine Mutter wollte ein | |
gutes Leben, aber sie kam nicht nach Deutschland, weil sie an Demokratie | |
glaubte. Sie kam, weil sie von Politik in Ruhe gelassen werden wollte. | |
Nach dem 20. Februar ist alles stummgeschaltet, ich auch. Im Hintergrund | |
rauschen abgenutzte Sätze, sie erreichen mich nicht: Das ist ein Weckruf. | |
Wir können nicht weitermachen wie bisher. „Ich funktioniere einfach“, sagt | |
eine Freundin, „wie jedes Mal.“ Sie sagt jedes Mal und meint Nürnberg, | |
Hamburg, Halle, München, Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen. Seit meinem | |
Geburtsjahr 1990 wurden in Deutschland laut der Amadeu-Antonio-Stiftung | |
mehr als 200 Menschen [1][durch rechte Gewalt getötet]. | |
Von 2000 bis 2007 hat der „Nationalsozialistische Untergrund“ zehn Menschen | |
ermordet. | |
Enver Şimşek. Abdurrahim Özüdoğru. Süleyman Taşköprü. Habil Kılıç. … | |
Turgut. İsmail Yaşar. Theodoros Boulgarides. Mehmet Kubaşık. Halit Yozgat. | |
Michèle Kiesewetter. Als der NSU 2011 aufflog, war ich 21 Jahre alt. Bis | |
dahin hatte ich von den Taten kaum etwas mitbekommen. Vielleicht standen | |
die Namen der Opfer auf Plakaten, wie die Namen der Opfer von Hanau. Nichts | |
davon habe ich in der Schule gelernt. In der Schule sprachen wir von Nazis | |
im Präteritum und außerhalb der Schule sprachen wir gar nicht über Nazis. | |
Im März 2020 taue ich langsam wieder auf. Ich beginne, nach meinem | |
politischen Vertrauen zu suchen. Wo kam es mal her? Und warum ist es | |
verschwunden? | |
Die Suche beginnt – auch, weil Corona die Bewegungsfreiheit einschränkt – | |
in meinem Kopf. Ich will verstehen, wie Vertrauen funktioniert. Was ich | |
bisher darüber weiß, hat wenig mit Politik zu tun. Vertrauen gilt als etwas | |
Gefühliges und wird häufiger in Frauenzeitschriften verhandelt als in der | |
politischen Berichterstattung. Da geht es dann darum, ob und wie man nach | |
einem Seitensprung noch vertrauen kann. Darum, dass Vertrauen zu den | |
wichtigsten Faktoren einer gesunden Beziehung zählt. Je häufiger Vertrauen | |
enttäuscht wird, desto schwerer ist es wieder aufzubauen, heißt es. Ist das | |
mit dem Land, in dem man lebt, nicht auch so? | |
In der deutschen Verfassung taucht das Wort Vertrauen nur zwei Mal auf. | |
Einmal in Artikel 104, der festlegt, dass Menschen, denen die Freiheit | |
entzogen wird, eine Person ihres Vertrauens benachrichtigen dürfen. Und in | |
Artikel 68, wo es um die Vertrauensfrage geht. Damit kann der oder die | |
Kanzler:in prüfen, ob die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten noch hinter | |
ihm oder ihr steht. Falls nicht, können der Bundestag aufgelöst und | |
Neuwahlen angesetzt werden. | |
Wie SPD-Kanzler Gerhard Schröder im Juli 2005 die Vertrauensfrage stellte, | |
ist eine meiner frühesten politischen Erinnerungen. Ich war 15 Jahre alt | |
und achtete seit 9/11 beim „Tagesschau“-Gucken wirklich auf die | |
Nachrichten. Wie es zu diesem Moment kam, hatte ich nicht ganz verstanden. | |
Ich wusste nichts von der Skandalhaftigkeit der Sache, hatte nicht auf dem | |
Schirm, dass er es schon zum zweiten Mal tat. Wenn ich mir die Szene heute | |
auf Youtube ansehe, fällt mir auf, dass Schröder gar keine Frage stellt. Er | |
sagt: „Also stelle ich die Vertrauensfrage“ – und nicht: „Vertrauen Sie | |
mir?“ | |
Am 6. Mai 2020 spricht auch Bundeskanzlerin Angela Merkel [2][auf einer | |
Pressekonferenz] von Vertrauen. Verschwörungstheorien über die | |
Coronapandemie haben gerade Konjunktur. Merkel sagt: „Die gesamte | |
Bundesrepublik ist aufgebaut auf Vertrauen.“ Sie spricht über das | |
Infektionsschutzgesetz, über Covid-19-Tests und die Zuverlässigkeit der | |
Gesundheitsämter. | |
Der Satz vermittelt: Vertrauen ist ein Fundament. Wenn das wackelt, wackelt | |
der Rest. Zum ersten Mal wird mir klar, dass jedes Kreuzchen, das ich bei | |
einer Wahl vergeben habe, ein Vertrauensvorschuss war. Seit ich | |
wahlberechtigt bin, habe ich Parteien und Mandatsträger:innen mit meiner | |
Stimme Vertrauen geschenkt. Ich habe aber nie darüber nachgedacht, ob sie | |
das verdient haben – oder darüber, wie sich Menschen fühlen, die in | |
Deutschland leben, aber nicht wählen dürfen. | |
Am 25. Mai 2020 wird der Afroamerikaner George Floyd von einem Polizisten | |
bei einer Festnahme getötet. Weltweit gehen Menschen für die „Black Lives | |
Matter“-Bewegung und gegen Polizeigewalt auf die Straßen. | |
Mitte Juni 2020 diskutiert Deutschland über „gruppenbezogene | |
Menschenfeindlichkeit“ – allerdings nicht durch, sondern gegen die Polizei. | |
Auf der Suche nach Antworten stoße ich auf das [3][Zentrum für | |
Vertrauensforschung] der Universität Vechta. Wenige Tage später spreche ich | |
mit Martin Schweer. Der 56-Jährige ist Professor für Psychologie und leitet | |
das Zentrum. Er erforscht dort die Bedeutung von Vertrauen und Misstrauen | |
für verschiedene Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens. | |
Von dem Wissenschaftler lerne ich, dass klassische Faktoren wie Geschlecht | |
oder Bildungsgrad im Bezug auf Vertrauen oft überschätzt werden. Eine | |
differentielle Perspektive sei entscheidender, da jede:r eine andere | |
Vorstellung von Vertrauen habe, sagt Schweer. „In der Beziehung zwischen | |
Arzt und Patient spielt das zum Beispiel eine Rolle. Achtet jemand stärker | |
auf Empathie, oder auf fachliche Kompetenz?“ | |
Für mich ist Empathie fachliche Kompetenz. Wenn ich krank bin, muss ich | |
Ärzt:innen vertrauen. Ich tue das eher, wenn sie mir gut zuhören, mich | |
ernst nehmen, nicht nur Symptome behandeln, sondern nach Ursachen suchen. | |
Gerade dann, wenn mein Leben bedroht ist, logisch. | |
Laut Schweer sind subjektive Erfahrungen besonders entscheidend für die | |
spätere Fähigkeit, Vertrauen aufzubauen: Hat jemand sich von klein auf | |
geborgen und sicher gefühlt? Hat jemand ein hohes Selbstvertrauen und ist | |
deshalb eher bereit, auch anderen Vertrauen zu schenken? | |
Ich frage, wie wichtig es für mein politisches Vertrauen ist, dass ich mich | |
und meine Lebensrealität durch Politiker:innen repräsentiert sehe. | |
Martin Schweer sagt: „Wir wissen, dass Sympathie und Antipathie erheblichen | |
Einfluss auf den Vertrauensprozess haben können. Entscheidend ist vor allem | |
die erlebte Ähnlichkeit, zum Beispiel ‚die versteht mich viel besser, weil | |
sie Lebenserfahrungen mit mir teilt.‘“ | |
Ich wüsste nicht, dass entscheidende politische Ämter schon mal von | |
Personen bekleidet wurden, die mir ähnlich sind oder so auf mich wirkten. | |
So ist repräsentative Demokratie ja auch nicht gedacht – klar, kann mich | |
jemand vertreten, der oder die demografisch andere Merkmale hat. Trotzdem | |
bringen Menschen oft ein besseres Verständnis für Themen mit, wenn diese | |
Teil ihrer eigenen Lebenswelt sind. | |
Wem würde ich noch einmal Vertrauen schenken? Vielleicht einer Alexandria | |
Ocasio-Cortez für Deutschland. Ich weiß, dass es schwierig ist mit | |
politischen Lichtgestalten, aber bei der US-Demokratin scheint es mir | |
einfacher. Weil wir die Welt ähnlich sehen, glaube ich. Weil sie die | |
soziale Frage stellt. Weil sie die sexistische Beleidigung durch einen | |
Abgeordneten nutzte, um über ein Systemproblem zu sprechen. Weil sie mit | |
Politchoreografien bricht und den Status quo in Frage stellt. Weil | |
parteipolitischer Aufstieg hierzulande lange dauert, wird es wohl noch zwei | |
Legislaturperioden dauern, bis jemand zur Wahl stehen könnte, von der ich | |
mich auf diese Art vertreten fühle, vermute ich. | |
Ich frage Martin Schweer: „Was waren wesentliche Momente in der jüngeren | |
deutschen Geschichte, in denen das kollektive Vertrauen in den Staat | |
erschüttert wurde?“ Ich erwarte, dass der Psychologe den NSU nennt. | |
Schweer denkt nach und sagt dann: „Die Flick-Affäre.“ Ich bin perplex, gebe | |
zu, dass mir die Flick-Affäre nichts sagt und bitte um Erklärung. Schweer | |
erzählt mir von dem Parteispendenskandal in den achtziger Jahren Der | |
Flick-Konzern, der historisch stark an Rüstungsgeschäften beteiligt war, | |
hatte damals der CDU, CSU, SPD und FDP Gelder in Millionenhöhe zukommen | |
lassen. | |
„Ein erschütterndes und aufwühlendes Ereignis, weil man feststellte, dass | |
parteiübergreifend Grenzen verletzt wurden. Vorurteile über korrupte und | |
moralisch nicht integre Politiker wurden bestätigt“, sagt Schweer. Seine | |
Erklärung leuchtet mir ein. | |
Ich frage trotzdem, warum er nicht den NSU genannt hat. Schweer schweigt | |
kurz, dann sagt er: „Der NSU ist sicher auch zu nennen. Aber in der | |
kollektiven Wahrnehmung nimmt er nicht den gleichen Stellenwert ein, weil | |
sich weniger Menschen davon betroffen fühlen.“ | |
Es ist eine einfache Rechnung mit schwer zu ertragendem Ergebnis. Die | |
kollektive Wahrnehmung ist die Mehrheitswahrnehmung. Ist das die größte | |
Schwäche der Demokratie – dass Mehrheiten gewonnen werden müssen, und | |
deshalb vor allem Mehrheiten angesprochen werden? Dass das Vertrauen von | |
Minderheiten verzichtbar ist? | |
Am 18. Juni brennt ein Lieferwagen vor der syrischen Bäckerei „Damaskus“ in | |
Berlin-Neukölln aus, neben das Geschäft hat jemand „SS“ auf die Hausfassa… | |
geschmiert. | |
Im Juli hadere ich mit mir und diesem Text. Am 21. Juli 2020 beginnt vor | |
dem Landgericht Magdeburg der Prozess gegen den Attentäter von Halle. Ich | |
lese Sätze, die den 9. Oktober 2019 rekonstruieren, Sätze über das Grinsen | |
des Angeklagten, über seine Reuelosigkeit vor Gericht. Ich lese seine | |
Zitate: „Ich wollte ja keine Weißen töten“ und „Der hatte schwarze Haar… | |
und ich bin der Meinung gewesen, das ist ein Muslim.“ | |
Ich nehme die Sätze persönlich, ich fühle mich gemeint. Ich weiß, dass ich | |
nicht in der ersten Reihe stehe, aber meine Zugehörigkeit war in | |
Deutschland immer schon auch Verhandlungsmasse. Nicht für mich, aber für so | |
viele andere, sodass ich mir manchmal selbst nicht mehr sicher bin. | |
Am 19. Juli 2020 ruft mir ein Passant „Scheiß Kanakin“ hinterher. | |
Im selben Monat erhalten Frauen, die sich öffentlich gegen Rassismus und | |
Rechtsextremismus positionieren, Drohbriefe, unterschrieben mit NSU 2.0. | |
Einige der Mails enthalten nicht öffentliche Daten der Adressatinnen. Sie | |
wurden von [4][Polizeicomputern in Hessen] abgerufen. | |
Alle sind gewohnt schockiert, ich auch. Was macht man damit, wenn man sich | |
an solche Drohungen gewöhnt hat? Schon zwei Jahre zuvor bekam die Anwältin | |
Seda Başay-Yıldız, die auch Hinterbliebene der NSU-Morde vertritt, | |
Drohungen mit der gleichen Signatur. Darin stand auch, man wolle ihre | |
Tochter „abschlachten“. In einem [5][Interview mit der Süddeutschen | |
Zeitung] vom Januar 2019 fragt eine Journalistin: „Ihre Tochter wird mit | |
dem Tod bedroht, Ihr Vater, Ihre Mutter. Hat sich Ihr Leben dadurch | |
verändert?“ | |
Ich frage mich, wie sich ein Leben durch solche Gewaltandrohungen nicht | |
verändern sollte. Eine weitere Frage lautet, ob Başay-Yıldız noch Vertrauen | |
in die Polizei habe. Sie antwortet nicht mit „Ja“ oder „Nein“, sie sagt: | |
„Der Vertrauensverlust hat schon seit der Selbstenttarnung des NSU | |
eingesetzt. Es wurden da so viele, bis dahin unvorstellbare Fehler | |
gemacht.“ | |
Am 4. August 2020 werden in Berlin zwei Staatsanwälte versetzt, die mit der | |
Aufklärung der seit Jahren anhaltenden rechten Anschlagsserie in Neukölln | |
befasst waren. Anlass sind Chatprotokolle, in denen ein rechtsextremes, | |
ehemaliges AfD-Mitglied aus Neukölln schrieb, man müsse sich wegen der | |
Anwälte keine Sorgen machen, einer habe angedeutet, er sei selbst | |
AfD-Wähler. | |
Ich frage in meinem Umfeld nach Politiker:innen, die als vertrauenswürdig | |
gelten. Viele, vor allem ältere Bekannte sagen: Sabine | |
Leutheusser-Schnarrenberger. Als die frühere Justizministerin der FDP im | |
Jahr 1996 wegen des Beschlusses zum Großen Lauschangriff von ihrem Amt | |
zurücktrat, war ich fünf Jahre alt und habe „Sandmännchen“ statt | |
20-Uhr-Nachrichten geschaut. | |
Ich telefoniere mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. | |
Ich frage: „Wie wichtig ist Vertrauen für eine Demokratie?“ Sie antwortet: | |
„In einer Demokratie lebt Politik zu großen Teilen vom Vertrauen der | |
Bürgerinnen und Bürger.“ | |
Ich sage: „Vertrauen ist ein schwammiger Begriff.“ Sie sagt: „Ich möchte | |
Vertrauen dahingehend konkretisieren, dass es um Berechenbarkeit und | |
Verlässlichkeit geht. Bürgerinnen und Bürger müssen das Gefühl haben, sich | |
auf das, was Politiker verkünden, verlassen und einlassen zu können.“ | |
Sie sagt: „Vertrauen ist ein ganz wertvolles Gut. Man muss sich regelmäßig | |
damit beschäftigen, wie man es erhalten und auch wieder erzeugen kann.“ | |
Ich stimme ihr zu. Ich erzähle von meinem Gespräch mit dem | |
Vertrauensforscher und frage, ob sie bei Momenten des kollektiven | |
Vertrauensverlusts auch eher an die Flick-Affäre als an den NSU gedacht | |
hätte. | |
Sie sagt: „Der Verfassungsschutz und die Polizei haben in Teilen sehr | |
deutliche Defizite gezeigt. Deshalb glaube ich, sind diese Beispiele schon | |
unterschiedlich zu gewichten. Ich hätte auch eher an | |
Institutionenschwächung wie beim NSU gedacht.“ | |
Ich sage: „Das ist doch ein Problem, wenn Vertrauen von Menschen über Jahre | |
und Generationen wegbröckelt.“ | |
Sie sagt: „Es ist eine permanente Verpflichtung von Politikern in der | |
Demokratie, immer wieder neu Vertrauen zu stärken.“ | |
Ich frage, wie man das Vertrauen der Hinterbliebenen des NSU oder von Hanau | |
stärkt. | |
Sie sagt: „Ich denke, dass einmaliges Handeln, wie zuletzt mit der Ablösung | |
von Herrn Maaßen als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, | |
allein nicht ausreicht. Manchmal ist das unverzichtbar und richtig. Aber, | |
wenn man Defizite erkannt hat, wie beim NSU, dann muss man sich neben der | |
Aufarbeitung auch um grundlegende Verbesserungen von Strukturen kümmern.“ | |
Ich spüre, dass mich ihre Wortwahl trifft, anstatt mich abzuholen. | |
Ich frage, wer sich kümmern muss, und wie. | |
Sie sagt: „Man muss sich zusammenfinden, Anlässe schaffen. Begegnungen mit | |
Entscheidungsträgern schaffen und denen zuhören, die sich engagieren und | |
betroffen fühlen, um damit zivilgesellschaftliche Zusammengehörigkeit zu | |
ermöglichen. Und das muss schnell passieren. Man muss zeigen, dass mehr | |
getan wird als nur ritualisierte Politik-Antwort.“ | |
Dann spricht sie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und | |
erzählt, wie sie 2010 einen runden Tisch eingerichtet hat. Sie macht das | |
Feld weiter auf, vermutlich weil sie Erfahrung in diesem Bereich hat. Etwas | |
fehlt mir, aber was? | |
Nach dem Gespräch bin ich ratlos. Leutheusser-Schnarrenberger hat Wichtiges | |
gesagt, doch das Gesagte fühlt sich weit weg an. Mir fällt erst später auf, | |
dass sie nicht einmal das Wort „Rassismus“ ausgesprochen hat. Dafür hat sie | |
von Defiziten und Missständen geredet. | |
In den letzten Jahren habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, Reden für | |
Bundespolitiker:innen zu schreiben, abgegriffene Formulierungen | |
auszutauschen, einfach mal zu sagen: „Es gibt längst keine Worte mehr.“ | |
Klar wäre auch das nicht genug. Tiefes politisches Misstrauen ist nicht mit | |
einer Fernsehansprache überwindbar. | |
Am 13. August 2020 ergeben [6][Recherchen der taz], dass ein Polizist und | |
früherer Opferberater in der rechten Anschlagsserie in Berlin-Neukölln im | |
April 2017 einen 26-jährigen Afghanen rassistisch beleidigt und verprügelt | |
haben soll. Zeug:innen, berichten, er habe „Geh’ in dein Land zurück“ | |
gerufen. | |
Sein Land, [7][ein Klassiker]. Das letzte Mal, als jemand das zu mir gesagt | |
hat, setzte die Person noch ein „Nimm’ deine ganzen Krankheiten mit“ davo… | |
Ich muss wieder an gepackte Notfallkoffer denken, unter zu vielen Betten in | |
Deutschland. Ich weigere mich, einen zu packen. | |
Ich muss daran denken, was der Vertrauensforscher über Identifikation | |
sagte. Vertraue ich Politiker:innen mehr, die mir ähnlich sind? Natürlich | |
ist das keine einfache Rechnung, Vertrauen ist keine Summe aus | |
demografischen Merkmalen. Angela Merkel und ich haben gemeinsam, dass wir | |
Frauen sind. Gerhard Schröder und mich verbindet, dass wir nicht an Gott | |
glauben, aber „mit der Auseinandersetzung nicht fertig sind“, wie Schröder | |
mal in einer Dokumentation über sein Leben sagte. Nah fühle ich mich beiden | |
trotzdem nicht. | |
Gibt es Politiker:innen, bei denen das anders wäre? Ich frage wieder nach, | |
diesmal über Social Media, welcher Politikerin die Leute vertrauen. Viele, | |
vor allem migrantische Menschen in meinem Alter, sagen: Aminata Touré. | |
Touré ist zwei Jahre jünger als ich, ihre Eltern sind aus Mali nach | |
Deutschland geflüchtet, sie ist Politikerin bei den Grünen und | |
Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein. | |
Als wir telefonieren, frage ich wieder: „Wie wichtig ist Vertrauen für eine | |
Demokratie?“ und Touré sagt: „Ziemlich wichtig. Ich glaube, was eine | |
Demokratie am meisten zersetzen kann, ist das Misstrauen in die politischen | |
und staatlichen Institutionen und deren Vertreter:innen.“ | |
Ich frage, wie es um das Vertrauen in Deutschland gerade bestellt ist. | |
„Ganz unterschiedlich“, sagt Touré. „Viele haben ein hohes Vertrauen, au… | |
weil sie von vorhandenen Strukturen profitieren. Aber es gibt auch Menschen | |
in diesem Land, die den berechtigten Eindruck haben, dass staatliche | |
Institutionen und Politiker:innen sich nicht ausreichend um Bedrohungslagen | |
kümmern.“ | |
Ich frage nach einem Beispiel. | |
Touré sagt: „Wenn du als jüdische Person Halle mitbekommen hast, oder als | |
migrantische Person Hanau, wenn du mitbekommen hast, wie Debatten um | |
Rassismus zuletzt geführt wurden und wie dünn die politischen Antworten | |
darauf meistens waren, dann stärkt das kein Gefühl von Sicherheit.“ | |
Ich frage: „Hören Politiker:innen nicht richtig zu?“ | |
Touré sagt: „Seit 2015 wurde so viel über die Sorgen von Menschen | |
gesprochen, die rechts sind. Es ist nicht so, dass Konservative und | |
Liberale nie zuhören, wenn es um Ängste in der Bevölkerung geht. Die Frage | |
ist nur: Bei wem hören sie konkret zu, und bei wem empfinden sie es als | |
übertrieben?“ | |
Ich erzähle ihr von dem Satz, den der Vertrauensforscher gesagt hat: „Der | |
NSU nimmt in der kollektiven Wahrnehmung nicht den gleichen Stellenwert | |
ein, weil sich weniger Menschen davon betroffen fühlen.“ | |
Touré sagt: „Mich wundert das nicht. Und das ist Teil des Problems. Wenn | |
man Dinge erst als Problem wahrnimmt, wenn sie einen selbst betreffen, ist | |
es immer zu spät für Minderheiten. Eine Demokratie misst sich aber daran, | |
wie sie mit ihren Minderheiten umgeht.“ | |
Sie spricht jetzt schneller: „Wie sicher sich Minderheiten fühlen, wie | |
viele negative Erfahrungen sie machen und welche strukturellen Probleme sie | |
haben, wird oft als ‚so ein Minderheitenthema‘ verhandelt. Die Leute | |
verchecken dabei, dass es um ein Demokratiethema geht, um Grund- und | |
Menschenrechte. Das ist kein Nice-to-have.“ | |
Ich frage: „Es wird nicht ernst genug genommen?“ | |
Sie sagt: „Bei Rassismus wird immer so getan, als ob es reicht, wenn die | |
Zivilgesellschaft das einfach ächtet. Bei keinem verdammten anderen | |
Politikfeld würde man sich erdreisten, das zu sagen. Natürlich muss man das | |
ächten, aber das ist nicht alles, was wir erwarten dürfen.“ | |
Ich frage, was ein Innenminister vermittelt, der eine Studie zu Racial | |
Profiling bei der Polizei absagt. | |
„Er sagt damit: Ist mir scheißegal, ob ich dadurch Minderheiten den | |
Mittelfinger zeige, und auch die Polizei selbst sich fragt, was das denn | |
soll“, sagt Touré. Man könne über Rassismus in Deutschland nur bis zu einem | |
bestimmten Punkt diskutieren. Dann werde wieder deutlich gezeigt, wer die | |
Deutungshoheit und die Macht hat, Dinge zu tun oder zu lassen. | |
Sie sagt aber auch: „Es ist absolut nicht alles kaputt. Wir leben in einem | |
demokratisch gut funktionierenden Staat, das weiß ich gerade wegen meiner | |
Biografie und der meiner Eltern. Aber deswegen darf man den Anspruch nicht | |
verlieren, ihn noch besser zu machen.“ Es sei aber auch der Job der | |
Legislative, die Institutionen zu kontrollieren. „Dass das dann als | |
Misstrauen in den Staat gelesen wird, ist eine völlig problematische | |
Verhandlungsbasis. Ich kann Dinge kritisieren, die hier passieren, ohne | |
diesen Staat abzulehnen. Wenn ich nicht an Demokratie glauben würde, dann | |
wäre ich nicht im Parlament.“ | |
Ich denke nach. Wenn ich nicht an Demokratie glauben würde, dann würde ich | |
nicht so mit ihr ringen. Ich glaube, dass Touré, | |
Leutheusser-Schnarrenberger und ich in unseren Haltungen nah beieinander | |
liegen. Nach dem Gespräch mit Aminata Touré ist trotzdem etwas anders. Sie | |
hat gesagt „Das macht mich wütend“ und „Da kriege ich Gänsehaut am ganz… | |
Körper“. Sie hat geflucht, in perfekten Politiker:innensätzen. Ich merke, | |
dass ich nicht nur angemessen fand, was sie gesagt hat, sondern auch wie. | |
Ich denke, dass in diesen Nuancen etwas Entscheidendes liegt. | |
Am Mittwoch, den 19. August 2020 stehe ich wieder auf dem Berliner | |
Hermannplatz. Es ist Sommer, es ist Pandemie, ich sehe niemanden ohne | |
Maske. Etwa 5.000 Menschen sind hier, um den Opfern von Hanau zu gedenken. | |
Ich schätze, die meisten sind jünger als ich. | |
Es läuft „Weck mich auf“ von Samy Deluxe, er rappt „Ich und du und er und | |
sie und es sind besser dran, wenn wir uns selber helfen“, das Lied ist von | |
2001. Ein Redner nennt Hanau eine Zäsur, „nicht für die Regierung, oder die | |
ganze Gesellschaft, sondern für uns. Wir und unsere Kinder werden vom Staat | |
nicht beschützt. Viele denken darüber nach zu fliehen.“ | |
Ich will nicht in einem Land leben, das seine Bevölkerung nicht beschützt | |
und in dem man deshalb Misstrauen weitervererben muss. Ich will aber auch | |
nicht gehen. Die Konsequenz ist, es irgendwie besser zu machen, besonders, | |
wenn keine Zeit mehr bleibt. Ich habe Vertrauen verloren in das, was wir | |
gerade sind. Ich muss auf das vertrauen, was wir sein werden – wenn wir | |
wirklich nicht weitermachen wie bisher. | |
22 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rassismus/todesopfer-rechter-gewalt/ | |
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/video/coronavirus-lockerungen-merkel-vertrau… | |
[3] https://www.uni-vechta.de/paedagogische-psychologie/zentrum-fuer-vertrauens… | |
[4] /Polizei-und-rechtsextreme-Drohschreiben/!5700789 | |
[5] https://www.sueddeutsche.de/politik/basay-yildiz-interview-frankfurt-polize… | |
[6] /Abschiebung-nach-Afghanistan/!5707119 | |
[7] /Essay-zu-Integration-und-Zuwanderung/!5691765 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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wird klar, wie wenig die Ermittler über das Onlineleben des Angeklagten | |
wissen. | |
Prozess gegen Halle-Attentäter: Der Waffennarr | |
Nach drei Wochen Pause wurde der Prozess zum Anschlag auf die Synagoge in | |
Halle fortgesetzt. Im Fokus: Die Waffenobsession des Angeklagten. | |
Gedenkveranstaltung in Hanau: Vorwürfe an die Behörden | |
Der Gedenkkundgebung in Hanau wurde eine Höchstgrenze von 249 Personen | |
verordnet. Der Stream der Veranstaltung wurde in 50 Städten gezeigt. | |
Rassistischer Anschlag vom 19. Februar: Stadt Hanau verbietet Gedenk-Demo | |
Wegen steigender Corona-Infektionen muss die Kundgebung der Angehörigen des | |
Anschlags ausfallen. Das stößt nicht nur auf Verständnis. | |
Bürgermeister über Hanauer Anschlag: „Der Schmerz sitzt tief“ | |
Sechs Monate nach dem rassistischen Mord an neun Menschen fordert der | |
Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) raschere Aufklärung. | |
Hinterbliebener über Hanau-Anschlag: „Polizei soll ihre Arbeit machen“ | |
Am 22. August soll der Opfer des Anschlags vom Februar gedacht werden. Die | |
Demo wird sich auch gegen den Ermittlungsunwillen richten, erklärt Çetin | |
Gültekin. |