# taz.de -- Die Namenlosigkeit im Asylsystem: Wie in der Hölle | |
> Du bist zuerst Migrant, dann Kind, Frau, Mann. Dann bekommst du einen | |
> Vornamen, vielleicht einen Nachnamen. Der Preis dafür ist hoch. | |
Bild: Namenslos, aber natürlich auch nicht. Eine Person auf Lesbos nach dem Br… | |
Wir beginnen mit einem Namen. Meine Großmutter hatte keinen. Meine Mutter | |
hat einen, den die deutsche Sprache regelmäßig massakriert. Ich habe einen, | |
der ausgewählt wurde, um es der Mehrheit leicht zu machen, und dadurch auch | |
mir. Aber ich habe einen Namen nach dem ich gefragt werde. Auf ein: Wer | |
bist du?, kann ich antworten: Ich bin Lin, und jemand kennt dann trotzdem | |
erst drei Buchstaben von mir, den Bodensatz meiner Existenz. | |
Dass meine Großmutter keinen Namen hatte, stimmt nicht ganz. Sie hatte | |
einen, aber er wurde so selten benutzt, sogar ihre Kinder grübeln kurz, | |
wenn ich nach ihm frage. Großmutter wurde immer im Verhältnis zu den | |
Menschen um sie herum benannt, das war der Inhalt ihrer Existenz. Sie war | |
mama, a’bu, bu. | |
Was steckt in einem Namen, den wir selbst mit Bedeutung füllen können? | |
Alles. Ich heiße, also bin ich. Während wir den einen sagen: Du kannst | |
alles sein, was du willst, gestehen wir den anderen nicht einmal Menschsein | |
zu. | |
Wie nennen wir die anderen? Migrantenkinder. Flüchtlingskinder. | |
Ankerkinder. Darin steht zuerst der Marker für die Gruppenzugehörigkeit, | |
dann der Mensch. Zuerst: Migrant. Flüchtling. Anker. Zuletzt: Kind. Diese | |
Namen haben Funktion und Effekt. Wir wissen alles über ihre Träger:innen, | |
legen Gesichter und Geschichten übereinander. Sie sind viele, sie sind | |
Zahlen, zu verwalten, zu verrechnen, zu normieren, zu lösen. | |
## Der Preis ist hoch | |
Du bist zuerst Migrant, dann Kind, Frau, Mann. Dann bekommst du einen | |
Vornamen, vielleicht einen Nachnamen. Der Preis dafür ist hoch. Du musst | |
tränentreibendes Leid erfahren, vor Weihnachten trendet Nächstenliebe. Oder | |
du musst sterben, damit wir deinen vollen Namen kennen. Kennen Sie noch | |
Alan Kurdi? | |
Als ich meine Muttersprache lernte, schrieb ich die Schriftzeichen für | |
Deutschland in quadratische Kästchen. Deutschland ist das Zeichen für | |
Tugend plus das Zeichen für Land. Déguo, Land der Tugend. In Tugend liegen | |
Moral und Integrität. Wie nennen wir etwas, das seinem Namen nicht gerecht | |
wird? Enttäuschung, Täuschung, Lüge, vielleicht. | |
[1][Wie nennen wir Moria]? Menschenunwürdig. Das sagt sich so dahin, weil | |
die Menschen dort längst nicht mehr Menschen genannt werden. Sie haben | |
keine Namen, außer denen, die wir ihnen zugestehen. Wir fragen nicht, wer | |
sie sind, wir verhandeln, ob sie sein dürfen. Diese Namenlosigkeit ist kein | |
Nebeneffekt von Migration, nicht die Natur der Sache. Sie ist Teil eines | |
Systems, das unseren Komfort über ihr Leben stellt. Weil es anders nicht | |
auszuhalten wäre – für uns. | |
Moria ist abgebrannt. Migranten ertrinken im Mittelmeer. In diese Sätze | |
schreibt niemand Verantwortung hinein und das ist Absicht. Menschen | |
ertrinken, weil Europa sie ertrinken lässt. Moria ist abgebrannt, weil | |
Europa dort Menschen hält, wie in der Hölle. Wie nennen wir jemanden, der | |
vorsätzlich Leben nimmt? | |
23 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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