| # taz.de -- Entfernungen und Migration: Abschied ohne Verabschiedung | |
| > Meine zwei Zuhause liegen etwas 8.400 Kilometer entfernt voneinander. Mit | |
| > Corona kam zu der Reise noch eine weitere Hürde hinzu. | |
| Bild: „Wenn andere zu Opa nach Friesland fuhren, reisten wir zur Familie um d… | |
| Neulich habe ich etwas über die Welt gelernt, was ich so noch nicht wusste. | |
| Beziehungsweise habe ich etwas verstanden. Und zwar, wie viel Ferne in | |
| Entfernung steckt. Die kurze Antwort ist: zu viel. Die längere Antwort geht | |
| so: | |
| Es gibt zwei Orte, an denen ich Zuhause bin. [1][Einer liegt etwa 8.400 | |
| Kilometer von mir entfernt.] Das entsprach mein Leben lang einer Reise von | |
| 12 bis 15 Stunden und meist habe ich davon drei bis vier Stunden | |
| verschlafen. Die vollständige Rechnung bezieht die Zeit für die Bewilligung | |
| eines Visums mit ein, je nach Kontostand und Dringlichkeit kommen zur | |
| Reisezeit noch etwa vier bis 15 Werktage Antragsbearbeitungszeit hinzu. | |
| Machte in einer Welt vor 2020 bestenfalls viereinhalb Tage von einem Ort | |
| zum anderen. Das war schon lang für unsere Welt, aber oft kurz genug, um | |
| sich von jemandem verabschieden zu können. | |
| Das regelmäßige Überbrücken großer Entfernungen war für viele | |
| selbstverständlich. Die größere Hürde oft nicht die Anzahl der Kilometer, | |
| sondern die damit verbundenen Kosten. Und ich meine nicht nur uns, die wir | |
| zur Konferenz nach Vancouver oder ins Yoga-Retreat nach Bali reisten. Ich | |
| meine auch uns, die wir mehrere Orte Zuhause nennen, die Kinder und | |
| Enkelkinder der Migration. Nähe trotz Entfernung war normal. | |
| Wenn andere zu Opa nach Friesland fuhren, reisten wir zur Familie um die | |
| halbe Welt. Manche von uns saßen mit Eltern und Geschwistern in einem alten | |
| Opel und fuhren stundenlang über Autobahnen, andere waren drei Stunden vor | |
| Abflug an Terminal C, um mit einem kleinen Flugzeug nach Amsterdam-Schiphol | |
| zu fliegen und anschließend in einen dickbäuchigen Airbus Richtung Osten | |
| (fern) umzusteigen. Vielleicht hatten wir Dinge in unserem Gepäck | |
| gemeinsam: [2][Omega-3-Kapseln für Großmutter], | |
| Multivitamin-Brausetabletten für den Cousin, weiche Lederslipper vom | |
| Discounter für die geschwollenen Füße der Tante und deutsche Schokolade für | |
| alle. Vor allem aber die Sicherheit, Entfernung regelmäßig überbrücken zu | |
| können. | |
| 2020 hat auch diese Selbstverständlichkeit aufgelöst. Aus einem „Wir sehen | |
| uns im März“ wurde ein „vielleicht im Herbst“ und schließlich ein | |
| „hoffentlich nächstes Jahr“. Aus einem Idealfall von viereinhalb Tagen | |
| macht die Quarantänepflicht 18,5 und das ist zu lang, um rechtzeitig die | |
| Hand eines Sterbenden zu halten. Vielleicht ist das diese Zerrissenheit, | |
| von der sie immer sprechen, die real immer eher einer Dehnübung glich? Was | |
| tun, ohne die Selbstverständlichkeit von immer? | |
| Wir brauchen Zeit, wie alle. Wir wollen denen ins Gesicht lachen, [3][die | |
| jetzt auf eine Urlaubsreise verzichten müssen]. Oder wir treten in unsere | |
| Sehnsucht wie in eine Pfütze und gehen dann mit nassen Socken spazieren. | |
| Wir lernen, dass es nichts bringt, das Leiden der anderen zu verachten. Wir | |
| lernen Abschied ohne Verabschiedung. Wir leiden im Orchester, das niemand | |
| dirigiert. Und wir essen dabei deutsche Schokolade. | |
| 14 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nachdenken-ueber-Raum-und-Zeit/!5695688 | |
| [2] /Von-Kindheit-und-Grossmuettern/!5645145 | |
| [3] /Coronatests-fuer-Urlaubsreisende/!5717054 | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Poetical Correctness | |
| Zuhause | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Kolumne Poetical Correctness | |
| Kolumne Poetical Correctness | |
| Kolumne Poetical Correctness | |
| Kolumne Poetical Correctness | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Vorhang auf für Friedrich Merz: Machtmännertheater, letzter Akt | |
| Wer hätte das gedacht? Friedrich Merz ersetzt im Coronajahr die Sehnsucht | |
| nach dem Theater. Nur leider ist das Stück schon ziemlich alt. | |
| Der Normalzustand in Corona-Zeiten: Jetzt ist Krisenherbst | |
| Die Coronapandemie hat uns ein neues „normal“ gebracht. Das war im Sommer | |
| ganz okay, doch was wird aus dem „neu-normal“ im Herbst? | |
| Die Namenlosigkeit im Asylsystem: Wie in der Hölle | |
| Du bist zuerst Migrant, dann Kind, Frau, Mann. Dann bekommst du einen | |
| Vornamen, vielleicht einen Nachnamen. Der Preis dafür ist hoch. | |
| Nach der Demo gegen Coronamaßnahmen: Welten lassen sich nicht wegseufzen | |
| Alles ist kompliziert und durcheinander – und ich bin müde. Doch in der | |
| Kompliziertheit dürfen wir nicht vergessen, was man jetzt tun muss. |