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# taz.de -- Der Normalzustand in Corona-Zeiten: Jetzt ist Krisenherbst
> Die Coronapandemie hat uns ein neues „normal“ gebracht. Das war im Sommer
> ganz okay, doch was wird aus dem „neu-normal“ im Herbst?
Bild: Auf den Sommer folgt der Herbst, normal
Es ist Herbst, oder, [1][wie Markus Söders Teetasse prophezeit: Winter is
coming]. Dass auf Sommer erst Herbst und dann Winter folgen, ist (noch)
normal. Selbst Menschen wie ich müssen sich das eingestehen, also Leute,
die jedes Jahr zum Sommerende so lange wie möglich Schuhe ohne Socken
tragen, nicht von Weißwein auf Rotwein umsteigen und keine Gerichte mit
Kürbis zubereiten. Nun finde ich den Sommer nicht extrem viel besser als
jede andere Jahreszeit. Aber dieses Jahr schon. 2020 war der Sommer anders
wichtig, die Alles-ist-gut-trotz-allem-Jahreszeit.
Wir sind ja noch in der Krise. Richtig tief drin stecken wir, auch wenn
mache das gern mit [2][Ökoheizpilzen] wegglühen wollen. Fast zehn Monate
nach Bekanntwerden des ersten Covid-19 Falls in China ist weiterhin
Ausnahmezustand – nur gewohnter. Intellektuelle in weißen Sneakern nennen
das gern the new normal. Neu normal ging gut im Sommer. Ich habe mir einen
Ventilator gekauft (wegen Klimakrise) und eine Siebträgermaschine (wegen
Homeoffice), zweimal geknutscht (wegen Seele) und Urlaub von Deutschland in
Deutschland gemacht. Wussten Sie, dass es in der Pfalz 2.000 Sonnenstunden
im Jahr gibt und Feigenbäume? Ich nicht. Man lernt nie aus, normal.
Jetzt ist Krisenherbst und ich überlege, was daran gut sein kann. Luft, die
morgens nach feuchtem Laub riecht, vielleicht. Und Übergangsjacken. Die
erste Kastanie des Jahres habe ich in meine Jackentasche gesteckt, normal,
wie immer seit 1994, aber dann war in der Jackentasche noch ein alter
Mund-Nasen-Schutz, den ich im Frühling dort vergessen haben muss – normal,
zum ersten Mal seit 2020. Eine Kastanie (alt-normal) neben einem Mundschutz
(neu-normal) in derselben Jackentasche.
In einer Gesellschaft beschreibt Normalität einen gewohnten Zustand, der
den Gewöhnten nicht mehr erklärt werden muss. Die Normalität ist
selbstverständlich und wird demnach nicht mehr groß nachverhandelt. Was
normal geworden ist, das gehört dazu – und wer sich an der Normalität
stößt, ist selbst schuld und wird mit der Zeit lernen, sich entweder an die
Stöße zu gewöhnen oder an die kleinen Schlenker um das Hindernis herum. Bis
das Hindernis irgendwann verschwindet, weil es normal wird, den Schlenker
zu machen oder sich weh zu tun. Mein kleiner Zeh grüßt die Bettkante.
Manchen Dingen tut es gut, wenn sie selbstverständlich werden. Mit
Maskennormalität ist viel mehr gewonnen als verloren. In der anderen
Jackentasche leuchten Push-Nachrichten. Ein AfDler, der Migrant:innen
„[3][erschießen oder vergasen“] will: Alt-normal? Neu-normal? Nicht normal,
Normalität. Wir lernen mit ihr zu leben wie mit einer schlechten Diagnose.
In unachtsamen Momenten knallen wir gegen die Kante von einem Bett, das wir
uns nicht ausgesucht haben. Der Schmerz zieht vom Zeh in den Bauch, einmal,
zweimal, hundertmal, normal. „Erst zuerst, dann wieder“ schrieb May Ayim
vor 28 Jahren in ihrem Gedicht „Deutschland im Herbst“. Und: „Mir graut v…
dem Winter.“
30 Sep 2020
## LINKS
[1] /Digitaler-CSU-Parteitag/!5712878/
[2] /Umweltbundesamt-macht-Ausnahme/!5716789/
[3] /Aeusserungen-von-AfDler/!5713016/
## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
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Schwerpunkt Coronavirus
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