| # taz.de -- Sehnsuchtsort China: Es ist aus mit der Romantisierung | |
| > Was ist, wenn sich das eigene Sehnsuchtsland nicht mehr romantisieren | |
| > lässt? Unsere Autorin reflektiert über ihre Beziehung zu China. | |
| Bild: Geröstete Wassermelonenkerne können westliche Schneidezähne nicht knac… | |
| Ich habe ein komisches Gefühl. Ich habe es schon so lange, dass ich | |
| manchmal glaube, es sei normal. Vielleicht ein bisschen so, wie wenn man | |
| seit Monaten im Ausnahmezustand einer Pandemie lebt, aber man versucht eben | |
| weiterzumachen, weil das Leben ja auch weitermacht, zum Glück. | |
| Mein komisches Gefühl ist schwer zu beschreiben, und das ärgert mich, weil | |
| ich für die Dinge gern Worte finde. Es fühlt sich an wie Beklemmung, | |
| irgendwo über Brust und Magen, manchmal zieht sie hoch bis in den Hals. | |
| Mein komisches Gefühl hat mit dem Land zu tun, in dem Ma geboren wurde und | |
| das sie verließ, weil es sich wie ein Kontrollfreak in ihr Leben | |
| einmischte, immer wieder. Das war eine Beziehung, die man heute als toxisch | |
| beschreiben könnte, und wäre es ein Mensch gewesen, der sie so behandelt | |
| hätte wie dieser Staat, dann hätte ich auch gesagt: Du musst ihn verlassen. | |
| Ich und China hingegen haben eine andere Beziehung, sie war schon immer | |
| romantisiert. [1][China war der Ort] meiner Sommerferien, der Ort, an dem | |
| Ayi und ich uns mit nackten Oberschenkeln auf das mit Bambusmatten belegte | |
| Ledersofa setzten und uns wortlos unterhielten. | |
| Der Ort, an dem ich später noch einmal sprechen lernte und Antworten auf | |
| die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ unter den harten Schalen gerösteter | |
| Wassermelonenkerne fand, über die mein Jiujiu sagt, westliche Schneidezähne | |
| könnten sie nicht knacken. Diesen Ort beschütze ich, mit allem, was ich | |
| habe, manchmal rosarot. | |
| ## Zwischen Wettervorhersage und Katastrophengeilheit | |
| Aber dieser Ort gehört in die Zeit, in der Gerhard Schröder Bundeskanzler | |
| war [2][und Hu Jintao Präsident]. Eine Zeit, in der es mich wenig kümmerte, | |
| was diese Männer taten oder nicht, solange sie eine gute Beziehung pflegten | |
| und mein Pass sich wie selbstverständlich mit roten Stempeln füllte. | |
| Einreise, Ausreise, youcannottakethatawayfromme. | |
| Heute ist eine andere Zeit, eine Gegenwart, in der mir nicht mehr egal ist, | |
| was mächtige Männer tun. Auf Titelseiten schreiben sie von einem neuen | |
| Kalten Krieg, der Begriff liegt irgendwo zwischen Wettervorhersage und | |
| Katastrophengeilheit, als trüge er keinen Horror in sich. | |
| Sie inszenieren [3][die Köpfe von Trump und Xi] wie bei einem Boxkampf, | |
| dabei ist es höchstens Schach. Und ich muss an die Millionen Köpfe denken, | |
| die mächtige Männer über Bretter schieben. Diese Köpfe üben das Gegenteil | |
| von Inszenierung, sie haben ihre Gesichter im Familienchat durch Blumen | |
| ersetzt. | |
| Was ich beschützen will, überschneidet sich immer mehr mit einem Staat, den | |
| ich nicht beschützen will, weil der Staat sich ausbreitet, vielleicht sogar | |
| durch die Schalen von Wassermelonenkernen hindurch, er hat schließlich | |
| chinesische Schneidezähne. | |
| Also sage ich nichts, Diagnose Sprachlosigkeit. Ich hoffe auf den nächsten | |
| roten Stempel, ich habe bald keine Vorräte mehr, die ich noch romantisieren | |
| kann, ja, youcantakethatawayfromme. Vor zehn Jahren habe ich noch einmal | |
| sprechen gelernt, jetzt bleiben Worte stecken und ich habe ein komisches | |
| Gefühl. | |
| 19 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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