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# taz.de -- Chinesische Diaspora: Das unförmige Drittel
> Wer „zwischen den Kulturen“ aufwächst, besteht für andere oft aus zwei
> Hälften. Aber diese Rechnung geht nicht auf.
Bild: Chinatown ist ein Zwischen-Ort, ein sogenannter In-Between-Space
Meine Welt besteht aus Dritteln. Ein Drittel Deutschland, ein Drittel China
und dieses unförmige Drittel dazwischen. Wenn man „zwischen den Kulturen“
aufwächst, wie mein Leben gern fremdverortet wird, denken die meisten
schnell in Hälften – oder an Smoothies aus zwei Zutaten: Mischling, Joint
Venture, hùnxùe’ér 混血儿, also Mischblut – diese Namen könnten alle…
Weiteres Teil einer [1][truefruits-Kampagne] sein. Sowieso habe ich
gelernt, mich Halb-Chinesin oder Halb-Deutsche zu nennen, je nachdem,
wessen Exotik bedient werden will.
Die Rechnung mit den zwei Hälften geht nicht auf, sie ist absurd, aber eben
einfacher.
Denn das unförmige Drittel wird selten erzählt. Ich finde das manchmal
sogar gut, weil es dann mir ganz allein gehört. In diesem Drittel liegt
alles, was in keine der anderen zwei Schubladen passt. Alles, was eher
fragt als antwortet, was nationale Identität längst überwunden hat. Was
Erfahrungen sammelt anstatt Pässe zu zählen.
Chinatown ist auch so ein Zwischen-Ort, wie das unförmige Drittel. Von
sogenannten in-between-spaces ist in der Stadtforschung die Rede, wenn es
um Orte geht, die keinen eindeutigen Zweck erfüllen, die nicht sofort zu
deuten sind. Also nicht Supermarkt oder der Parkplatz, sondern die paar
Meter dazwischen, wo wir nach dem Chip für den Einkaufswagen kramen oder
ein Netz Orangen fallen lassen.
## Originale Filmkulisse
Chinatown mag für manche China zum kurz-mal-anfassen sein, zum
durchschnuppern, anlecken, abfotografieren. Ein Sub-Universum, wo ein paar
labbrige Blätter Kohl auf dem Gehweg liegen, man sich zwischen kryptischen
Schriftzeichen verliert und es immer ein bisschen nach Sesamöl und Essig
duftet. Huanying guangling, willkommen, hier können Sie kurz bleiben,
müssen nicht verstehen und können notfalls ohne die Bürde eines
Langstreckenflugs schnell wieder zurück in Ihre eigene Welt.
Für andere ist Chinatown eine Kopie: klein, komprimiert, vereinfacht. Ein
bisschen wie zuhause, aber nicht mehr ganz up to date. Für viele Menschen,
die heute in chinesischen Metropolen leben, müssen die vollgestopften
Gassen der Chinatowns dieser Welt etwas aus der Zeit gefallen wirken.
Nostalgisch, oft originalgetreu, aber eine Filmkulisse.
Perspektiven auf Chinatown, die besonders in Deutschland selten erzählt
werden, sind die ihrer Bewohner*innen. Diaspora-Geschichte von denen, die
in Zwischen-Orten leben und gleichzeitig in den Welten drumherum. In
Dritteln, in Zehntausendsteln und dann wieder komplett. Das ist nicht
50/50, das ist kompliziert. Ein ständiger Wechsel zwischen Regeln und
Codes, zwischen Übersetzung und Schweigen, Insider und Outsider.
Oft fehlen Worte für diese unendliche Gleichzeitigkeit des Seins. Aber wenn
es die Geschichten gibt, dann können auch die Worte nicht weit sein. Das
unförmige Drittel, es ist womöglich das wichtigste von den Dreien. Und es
ist zwar meins, aber ich bin bereit es zu teilen.
5 Sep 2019
## LINKS
[1] /Diskriminierende-Heineken-Werbung/!5494866
## AUTOREN
Lin Hierse
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Schwerpunkt Rassismus
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