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# taz.de -- Das Leben am Fenster: Eine lange Weile
> Für Deutsche scheint es schwer auszuhalten, einfach nur zu sein. Man muss
> sich beschäftigen. Dabei ist eine lange Weile oft besser als eine kurze.
Bild: Die Entdeckung der Langsamkeit
Es sind langweilige Zeiten und ich sitze viel am Fenster. Wisst ihr noch,
wie sich früher nur die Gaffer ans Fenster setzten, wie sie die Ellbogen
auf einem Kissen ablegten und das Kinn in die Hände? Heute bin ich die
Gafferin, gealtert durch 33 Tage am Fenster, weil ich genauer hingesehen
habe, und je mehr man gesehen hat, desto älter ist man.
Die Kastanie hatte ganz kleine Triebe, jetzt stehlen mir ihre grünen
Blätter die Sonne. Die Nachbarin hat einen sehr schlanken Hund, der sich
täglich geduldig auf dem Balkon bürsten lässt und dabei zunehmend einem
Pferd ähnelt. Eine Backsteinmauer, wie New York im Herbst, eine verkachelte
Fassade, wie Shanghai im Sommer, eigentlich Berlin im Frühling. Einmal habe
ich das Fenster geöffnet, um tief einzuatmen, und da roch es plötzlich nach
China. Nur ganz selten passiert das, und Gerüche sind flüchtig, aber kurz
riecht es dann nach Längen: Langsamkeit und Langeweile, langgezogene
Zeiteinheiten. Warum stirbt man eigentlich vor Langeweile, anstatt in ihr
zu leben?
Viele langweilige Stunden bei meiner Ayi in Shanghai. Tage, an denen die
feuchte Hitze die Menschen in ihren Wohnungen einsperrt, mit Fächern aus
getrockneten Gräsern, unter Ventilatoren, oder im unterkühlten Atem der
Klimaanlage. Nichts zu machen, außer sitzen und gucken. Sitzen auf mit
Bambusmatten belegten Ledersofas oder auf niedrigen Hockern beim
Bohnenputzen. Gucken auf den Fernseher, [1][oder auf Abu, wie sie zwischen
Küche und Wintergarten] auf- und abschlurft.
## Auf Zehenspitzen wippen
Nichts tun, nur Sonnenblumenkerne knacken, so langweilig und so genug. Zur
Abwechslung kann man es mit Wassermelonenkernen versuchen, aber die sind
sehr hart. Oder: Hinaustreten auf pinken Plastiklatschen in den kleinen
Wintergarten, die Hände hinter dem Po verschränken, auf Zehenspitzen
wippen, hoch und runter, wie ein Rentner bei einem Spaziergang. Oder: die
Schildkröten in ihren Porzellankrügen grüßen. Oder: das Huhn anstarren, das
eine Zeit lang zwischen den Blumentöpfen lebte, um der schwangeren Cousine
frische Eier zu legen, um nach neun Monaten zu einer nahrhaften
Wochenbettsuppe verarbeitet zu werden. Währenddessen: auf nichts warten und
nichts erwarten, außer die nächste Mahlzeit.
Heute sitze ich am Fenster und denke, dass eine lange Weile oft viel besser
ist als eine kurze. Für Deutsche scheint es schwer auszuhalten, einfach nur
zu sein. Deswegen muss man sich Aufträge geben, Projekte erfinden und dafür
in langen Schlangen vor Baumärkten anstehen. Oder: 30 days of yoga.
Der Nachbarshund wird zum Pferd und ich versuche mich in meine Mutter zu
verwandeln, sie ist die Königin der Langeweile. Sie erfindet nichts, weil
sie schon gefunden hat, was sie braucht – zum Beispiel dasitzen und
Sonnenstrahlen in sich fließen lassen. Wenn wir telefonieren, frage ich
immer, ob ihr langweilig ist, und sie sagt immer „wuliao“, langweilig,
„aber wo xihuan wuliao, ich mag Langeweile“. Und dann lachen wir, jedes
Mal.
15 Apr 2020
## LINKS
[1] /Spiritualitaet-in-der-Coronakrise/!5672817
## AUTOREN
Lin Hierse
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