# taz.de -- Entschleunigung in Zeiten der Krise: Der Corona-Effekt | |
> Die einen haben zu viel davon, die anderen zu wenig: Die Zeit ist aus den | |
> Fugen. Markiert Corona eine Zeitenwende? | |
Bild: Zeitverschiebung: Die Fotografin hat von ihrem Balkon aus die Entschleuni… | |
Wie sehr die Welt aus den Fugen ist, merkt man vielleicht am besten daran, | |
wie gerne und wie ratlos gerade über die Zeit geredet wird. Und über unser | |
Gefühl, genug davon zu haben – oder eben überhaupt kein bisschen. „Corona | |
nervt, aber bringt mir auch total die Entschleunigung“, sagen die einen | |
begeistert. – „Wovon reden die bloß“, fragen sich die anderen, | |
„Entschleunigung, welche Entschleunigung?!“, während sie im | |
systemrelevanten Supermarkt das Klopapier über den Scanner schieben oder im | |
Homeoffice die Kinder auf den Tischen tanzen. | |
„Zeit, endlich Zeit“, seufzen die einen. – „Keine Zeit, wo ist die Zeit | |
geblieben?“, stöhnen die anderen. | |
Der Ausnahmezustand namens Corona hat uns aus dem Tritt gebracht, sagen | |
Zeitforscher, die mit ihrem Expertenwissen aus der soziologischen Nische | |
gerade gefragt sind. Aus der Spur gehauen hat Sars-CoV-2 nicht nur unser | |
öffentliches Leben und das Bruttosozialprodukt, sondern jeden Einzelnen, | |
einige mehr, manche weniger. | |
Es ist dabei gar nicht so entscheidend, sagen die Wissenschaftler, ob wir | |
jetzt objektiv mehr im Stress sind, weil wir plötzlich den Dreisprung aus | |
Homeschooling, Homeoffice und Schlangestehen vorm Supermarkt beherrschen | |
müssen – oder weniger, weil der Terminkalender leerer und im besten Fall | |
der Job sicher ist und das Homeoffice womöglich kinderfrei. | |
## „Entstrukturierung der Zeit“ | |
Entscheidend sei, wie gut oder eben schlecht wir mit diesem „Gefühl der | |
Unordnung“ klarkommen, sagt der Berliner Zeitforscher Dietrich Henckel. Der | |
emeritierte Wirtschaftswissenschaftler an der Technischen Universität | |
Berlin glaubt, wir erlebten gerade eine „Entstrukturierung der Zeit“. | |
Denn einerseits wird alles weniger, wir werden freier, der Kalender ist | |
leer gefegt: beinahe keine sozialen Termine mehr. #wirbleibenzuhause (gilt | |
für alle), womöglich weniger zu tun im Job (gilt nicht für alle). Und in | |
Berlin ist das Gefühl wahrscheinlich noch mal krasser als auf dem Dorf | |
jenseits der Stadtgrenze: Für viele Menschen spielt sich das tägliche Leben | |
in der Hausstadt normalerweise an vielen verschiedenen Orten ab – nach der | |
Arbeit noch essen gehen, vielleicht ins Kino und hinterher spontan in die | |
Kneipe. Selbst wenn wir das alles meistens doch nicht so machen: Wir | |
wissen, wir könnten! Jetzt können wir vor allem noch – zu Hause bleiben. | |
In der Großstadt reduzieren sich die Möglichkeitsräume besonders sicht- und | |
spürbar, zugleich sind wir es vielleicht am wenigsten gewohnt, unsere | |
Freizeitgestaltung nicht mehr anderen zu überlassen: „In der Stadt gibt es | |
mehr Institutionen, an die wir vorher unsere Zeitorganisation delegiert | |
haben. Da diese Entlastung nun wegfällt, sehen wir uns gezwungen, sie | |
selbst zu leisten – was vielen schwerfällt“, sagt auch der Münchener | |
Zeitforscher und Soziologe Karlheinz Geißler. | |
Trotz leerer Kalender und trotz weniger sozialer Verpflichtungen wird aber | |
auch irgendwie alles mehr: 30 zusätzliche Mails am Tag sollen kompensieren, | |
dass wir den KollegInnen manches nicht mehr einfach über den Schreibtisch | |
zurufen können. Weil wir nicht mehr zu den Großeltern fahren können, gibt | |
es jetzt feste Wochentermine für die Videotelefonie – so viel „Kontakt“ | |
hatte man vor Corona nicht. Die WhatsApp-Gruppe explodiert, die Voicemail | |
läuft über – so viel, scheint es, hatte man sich schon lange nicht mehr zu | |
sagen. | |
## Aber auch eine Chance | |
Und es wird alles „gleichzeitiger“: Erwerbsarbeit und Familie sind für die | |
meisten Menschen zwei räumlich und zeitlich getrennte Bereiche. Das ist in | |
Unordnung geraten – und niemand anderes als man selbst muss das jetzt neu | |
sortieren. Was gar nicht so leicht sei, sagt Zeitforscher Henckel, wenn man | |
einerseits plötzlich „einen Sack voll Zeit vor die Füße gestellt“ bekomme | |
und da jetzt andererseits höchstselbst sinnvoll Platz schaffen müsse für | |
Kollegenmails und dafür, dem Kind Mathe zu erklären, für die Waschmaschine | |
und die jetzt nicht mehr durch die Kantinenzeiten vorgegebene | |
Mittagspause. | |
Leicht ist das alles nicht, aber auch eine Chance, sagt indes Geißler: Man | |
könne dadurch lernen, rhythmischer zu leben, mehr auf den Körper zu hören, | |
weil man weniger fremdbestimmt sei von Terminen und Uhrzeiten, „die die | |
eigenen Befindlichkeiten ja nicht berücksichtigen“. Wobei man sich | |
unweigerlich denkt: Nach drei Zoom-Konferenzen hinter mir und zwei | |
Deadlines vor mir ist meine Befindlichkeit vor allem – eine schöne Theorie. | |
Unserem Zeitgefühl bekommt dieser Schleudergang aus weniger Ablenkung bei | |
mehr Selbstverantwortung jedenfalls nicht. Deshalb scheinen sich die Wochen | |
zu dehnen, auch wenn man gar nicht mal in Coronaquarantäne festsitzt, | |
sondern vielleicht nur in der selbst gewählten Isolation zu Hause die | |
Bücher nach Alphabet sortiert. Deshalb scheint die Zeit zugleich zu rasen: | |
Wo sind eigentlich die letzten fünf Wochen seit den Schulschließungen in | |
Berlin geblieben? | |
Ist Corona also auch eine Zeitenwende? | |
## Zeit für Fragen – und Konsequenzen | |
Die Wissenschaftler sind sich da in etwa so uneins wie die Republik gerade | |
übers Homeoffice. Zeitexperte Geißler sieht schon eine Abkehr von der | |
Uhrzeit, weil die Menschen wieder mehr lernten, frei über ihre Zeit zu | |
entscheiden. | |
Quatsch, kontert der Kollege Henckel aus Berlin. Natürlich würden wir | |
ruckzuck unser altes Leben und Arbeiten wieder aufnehmen. Da mag er recht | |
haben: Wir betrachten die Coronakrise als Ausnahmesituation – das Normale | |
und das Vorher werden nicht wirklich infrage gestellt. | |
Die Klimabewegung, nur ein Beispiel, ist leise: Man organisiert sich | |
protesttechnisch im Digitalen. Das bringt ein bisschen Aufmerksamkeit. Man | |
kann aber nicht sagen, dass das irgendeine besondere Dynamik entwickelte. | |
Und offenbar ist die Politik auch nicht bestrebt, den Nebeneffekt der | |
Coronakrise – sinkende CO2-Emissionen zum Beispiel – in Maßnahmen zu | |
übersetzten, die den Effekt von Corona nachhaltig machen könnten. Zugleich, | |
ein anderes Beispiel und eine Nummer kleiner, schafft Berlin in einigen | |
Bezirken jetzt „pandemieresiliente“, also besonders breite Radstreifen, die | |
auch nach Corona Bestand haben könnten. Corona verändere die Gesellschaft | |
nicht automatisch nachhaltig, sagt Soziologe Geißler. | |
Aber wir hätten jetzt Zeit, Lockerungen hin oder her, die richtigen Fragen | |
zu stellen. Und Konsequenzen zu ziehen. Anna Klöpper | |
## Süße Muße | |
## Keine Termine. Keine Eile. Keine Hetze: Über die positiven Seiten der | |
Entschleunigung | |
Ich habe keine Eile. Ich habe Zeit. Wie oft habe ich diesen Satz in den | |
vergangenen Tagen und Wochen gesagt, gedacht? Und jedes Mal löst er so ein | |
kleines, warmes Glücksgefühl aus und pflanzt mir ein Lächeln ins Gesicht: | |
Zeit! So viel Zeit. Keine Termine. Keine Eile. Keine Hetze. Was für ein | |
Luxus! | |
Natürlich: Was mir diesen unerwarteten Luxus erlaubt, ist kein Grund zur | |
Freude. Es ist eine tödliche Epidemie, und es sind die Maßnahmen, die diese | |
eindämmen sollen: „Social Distancing“, Kontaktverbote also, noch immer | |
geschlossene Geschäfte (ab Ende nächster Woche soll das anders werden), | |
geschlossene Gastronomie, Kinos, Theater und so weiter. Eine in vieler | |
Hinsicht existenzielle Bedrohung für sehr viele Menschen: physisch vor | |
allem, aber auch psychisch, ökonomisch. | |
Und natürlich bin ich in vielerlei Hinsicht privilegiert: Als Journalistin | |
arbeite ich trotz beziehungsweise wegen Corona weiter. Ich habe keine | |
Einkommenseinbußen. Ich kann meine Wohnung weiterhin bezahlen. Ich verfüge | |
über die Technik, um trotz Kontaktsperren Kontakt zu meinem Umfeld, zu | |
Informationen zu halten. Ich bin nicht auf die Hilfe anderer angewiesen: | |
Ich kann anderen helfen. Auch das ist Luxus. | |
Was mir das Virus nimmt: Termine, Verpflichtungen. Stress und Eile. Der | |
Arzttermin vor der Arbeit, der Friseurbesuch danach. Der Sportkurs, das | |
Konzert, Kino mit Freunden – wann schaffe ich den Einkauf? Milch ist alle! | |
Druckerpatronen auch! Und am Wochenende kommen Freunde, da muss vorher doch | |
noch geputzt werden … Und diese Ausstellung! Die schließt doch am Sonntag! | |
## Nur schnell, schnell! | |
Hin und her also in überfüllten Bussen und Bahnen oder auf verstopften | |
Straßen und Fahrradwegen durch eine Stadt, in der sich auf den Treppen zur | |
U-Bahn Menschen Schulter an Schulter drängeln, mit Fahrrad oder E-Roller | |
auf Gehwegen durch Fußgängermassen schlängeln, vor den Umkleiden und Kassen | |
der Shopping Malls ebenso wie vor Clubs und Museen lange Schlange stehen. | |
An der Kasse im Supermarkt wird zur Eile gedrängt, das Gekaufte im | |
Laufschritt nach Hause gebracht. Nur schnell, schnell! Es muss noch so viel | |
getan, es darf so vieles nicht verpasst werden! | |
Doch nun wird nicht mehr gemusst. Auch zu verpassen gibt’s nichts mehr. | |
Termine, Verpflichtungen, Verabredungen werden abgesagt. Die meisten | |
Menschen bleiben meist bei sich zu Hause. Sind sie draußen, bleibt genug | |
Platz, die Distanz, die jetzt Vorschrift ist, zu wahren. Man gibt den | |
anderen Raum, kein Gedrängel mehr, keine Hetze. Schlendern statt rennen: | |
eine entspannende Art der Fortbewegung. Die Zeit draußen will genossen, der | |
einkehrende Frühling kann gewürdigt werden. | |
Wer jetzt einkaufen geht, weiß, dass das Zeit braucht, Zeit kostet: Zeit | |
hat einen Wert! Bisher wie nebensächlich schnell und in Eile Erledigtes | |
bekommt so eine neue und nachdenkenswerte Dimension: Was habe ich mir | |
bisher bloß alles in einen Tag gepackt? Musste das wirklich so sein? | |
Jetzt heißt es: Geduld üben. Sich für das, was zu tun ist, Zeit nehmen. Es | |
mit und in Ruhe, mit Muße tun. Muße – ein fast vergessenes Wort und ein | |
fast vergessener Zustand. „Freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, | |
was den eigenen Interessen entspricht“, erklärt der Duden.Entsprach denn | |
das, was mich bisher so getrieben hat, nicht meinen Interessen? | |
## Sportkurs, Kino, Ausstellung … | |
Doch! Es muss ja jetzt auch auf viel Schönes und Wichtiges und Richtiges | |
verzichtet werden: das Angrillen im Garten der Freunde. Der Abend in der | |
Bar. Die Eröffnung des Strandbads Wannsee. Die Nachhilfe mit den Kindern im | |
Jugendheim. Das Picknick auf dem Tempelhofer Feld. Frühjahrsklamotten | |
shoppen mit der Freundin! Der Osterurlaub bei den Eltern oder an der See. | |
Der Sportkurs, das Kino, die Ausstellung … | |
Wow, denke ich, während ich das aufschreibe: Was für Möglichkeiten ich | |
hatte und irgendwann wieder haben werde, welche Angebote ich nutzen kann in | |
dieser Stadt! Luxus! Was aber in all den Angeboten, die genutzt werden | |
wollen, verschwindet: freie Zeit, ohne Action, ohne Eile, ohne Interaktion | |
und Kommunikation, ohne etwas, das noch schnell erledigt werden muss. Muße. | |
„Die freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen | |
Interessen entspricht“: Muße ist demnach die Voraussetzung dafür, das zu | |
tun, was einem schön, wichtig und richtig ist, Freude macht, nützt. Wenn es | |
eben nicht in besinnungsloser Hetze, sondern besonnen, bewusst, in Ruhe | |
geschieht; wenn man sich Zeit dafür nimmt, dem Zeit widmet, was im eigenen | |
Interesse liegt. (Auch Nichtstun kann den eigenen Interessen entsprechen, | |
Einkaufen sowieso). | |
Meine Lehre aus der Krise: Zeit ist nicht knapp. Vermutlich gibt es sogar | |
endlos viel davon. Es ist bloß nicht klar, wie viel davon jeder Einzelne | |
bekommt. Deshalb ist sie wertvoll, deshalb, nehme ich an, denken wir stets, | |
wir müssten sie gut nutzen. Doch Zeit dehnt sich nicht aus, wenn man sie | |
vollstopft. Im Gegenteil: Sie wird dadurch knapp. Vielleicht ist es besser, | |
zu fragen: Was hat meine wertvolle Zeit verdient, was ist mir meine Zeit | |
wert? Alke Wierth | |
## Welt ohne Feierabend | |
## Keine Einteilung mehr. Kein Ausschalter: Über die negativen Seitender | |
(vermeintlichen) Entschleunigung | |
Ich arbeite aus gutem Grund in einer Festanstellung mit festen | |
Arbeitszeiten und der Möglichkeit, relativ klar Arbeit und Leben zu | |
trennen. Als vor zehn Jahren die Sache mit der Familiengründung begann, | |
wollte ich das so. Mein Leben als freie Kreative erschien mir unter den | |
neuen Bedingungen plötzlich als völlig absurd. Viele Wochen meines Lebens | |
hatte ich bis dahin 12 Stunden am Tag im Büro gesessen, manchmal sieben | |
Tage die Woche. Ich hatte mir nie Urlaube ohne Arbeitsauftrag geleistet. | |
Für mich war alles Arbeit, ich hielt Erholung für eine Erfindung der | |
Freizeitindustrie, und mir fehlte nichts. | |
Heute, wo ich dank Coronakrise seit Wochen isoliert mit der Familie in der | |
Vorstadt hocke, 40 S-Bahn-Minuten von Mitte entfernt, fühle ich mich | |
absurderweise oft an die wildere Zeit vor den Kindern erinnert. Ich | |
kommuniziere nur noch über Handy und Computer mit Erwachsenen, was sehr | |
viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als sonst, wo einfach mal was auf Zuruf | |
geklärt werden kann. Während meiner Arbeitszeit betreue ich oft die Kinder, | |
weil mein Partner zwar auch zu Hause ist, aber wie ich arbeiten soll. | |
Während ich versuche, für diese Zeitung ein Interview mit einer | |
Buchhändlerin vorzubereiten etc., muss ich meiner Tochter erklären, wie man | |
adverbiale Bestimmungen vom Akkusativobjekt unterscheidet, sie daran | |
erinnern, wie man schriftlich dividiert, muss meinem Sohn ein Pflaster auf | |
die neue Schürfwunde kleben, eine Info suchen, von der ich nicht mehr weiß, | |
ob sie auf WhatsApp, Signal oder WeChat kam, die Waschmaschine anschmeißen, | |
die Post für die Nachbarn annehmen … | |
Ich checke auch an meinen freien Tagen und am Wochenende zu häufig News, | |
und anstatt mal wieder ein langes Buch zu lesen, sehe ich viel zu oft nach | |
meinen Mails und studiere Analysen zur Lage in den griechischen | |
Flüchtlingslagern. | |
## Eckpfeiler fehlen: die echten Termine | |
Trotz einer Art Stundenplan, die wir uns gleich am Anfang der Kontaktsperre | |
gebastelt haben und der den Tag in Essens-, Arbeits- und Plauderzeiten mit | |
Freunden, Medienkonsum und stille Pausen unterteilt, fehlen uns die | |
Eckpfeiler, die echten Termine. | |
Meine Zeit vergeht nicht langsamer, im Gegenteil. Je weniger ich am Tag | |
schaffe, desto schneller scheint er mir im Rückblick vergangen zu sein. Ich | |
muss mich stark konzentrieren, wenn ich gefragt werde, seit wie vielen | |
Wochen ich nun schon so lebe. | |
Mein Leben kommt mir neuerdings eher breiförmig vor. Ich empfinde keine | |
Entschleunigung, sondern Stress, und weiß doch, wie es jenen geht, die noch | |
ganz andere Sorgen haben, zum Beispiel Existenzangst. | |
Für mich ist wie vor zehn Jahren plötzlich wieder alles Arbeit, sie lässt | |
sich einfach nicht mehr ausschalten. Der Unterschied ist: Obwohl ich nach | |
wie vor in meinem Traumberuf arbeite, im Grunde seit einem | |
Vierteljahrhundert ein und dasselbe mache und es immer noch spannend finde, | |
bin ich derzeit oft unglücklich damit. Das ist nicht nur wegen meines | |
fortgeschrittenen Alters und meiner abnehmenden Belastbarkeit so. | |
## Die Arbeitswelt – ein Tugendterror | |
Am Anfang meines Berufslebens dachte ich oft, dass es das Wichtigste sei, | |
einen Job zu finden, der einen ganz erfüllt – und dass man dann gut und | |
gern auf den Rest verzichten kann. Inzwischen habe ich viel darüber | |
gelesen, geschrieben und geredet, wann und warum dieser alte Traum vom | |
selbstbestimmten Leben eigentlich entstanden ist. Ich habe oft darüber | |
nachgedacht, wie schön funktional diese Idee in unserer Arbeitswelt der | |
Deregulierung, Flexibilisierung und Virtualisierung heute funktioniert. Ich | |
habe den in Freiburg lehrenden Soziologen Ulrich Bröckling gelesen, der ein | |
plastisches Bild vom ewig kreativen, ebenso wendigen wie biegsamen | |
Künstler-Unternehmer entworfen hat, der sich völlig hektisch permanent neu | |
erfindet. Im Grunde verbirgt sich hinter der von Routinen befreiten, | |
eigenverantwortlichen Arbeitswelt ein Tugendterror, der nie härter war. | |
Sehr schön geschildert hat auch der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz, | |
wie ausgerechnet die 1968er, die den Menschen eigentlich aus dem Korsett | |
der lebenslangen Pflichterfüllung befreien wollten, den Grundstein für | |
diese Tyrannei der ständigen Selbstverwirklichung legten. | |
Früher bekamen die Menschen oft künstliche Gelenke, weil sie den größten | |
Teil ihres Lebens zu schwer geschleppt hatten. Heute machen sie eher | |
Yogawochenenden oder Coaching-Seminare, um einem Burnout vorzubeugen. Es | |
gibt inzwischen Ärzte, die ihren gestressten Patienten verschreiben, das | |
Handy nach 18 Uhr auszuschalten, und jeden Abend eigenhändig in den | |
sozialen Medien nachsehen, ob sie dies denn auch einhalten. Sie schalten | |
einfach nie mehr ab, weder im wörtlichen noch im übertragenden Sinn. So wie | |
ich jetzt, im Homeoffice, wo die Trennung von Arbeit und Leben in meinem | |
Fall viel zu selten funktioniert. | |
Ich sehne mich danach, endlich wieder nach dem Aufstehen ins Büro zu | |
dürfen, und um 18 Uhr mit dem schönen Gefühl, meine Arbeit getan zu haben, | |
den Computer runterzufahren, ins Kino oder in die Kneipe zu dürfen, die | |
Kinder irgendwo hinzufahren, die Bücher zu sortieren, oder irgendetwas | |
anderes völlig Unverwertbares und Sinnloses tun dürften, wozu ich derzeit | |
viel zu wenig Muße habe. Ich wäre sehr froh, wenn meine Zeit auf diese | |
Weise wieder langsamer verstreichen würde. Susanne Messmer | |
Die drei Texte stammen aus der Printausgabe der taz berlin am wochenende | |
vom 18./19. April 2020. | |
18 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
Alke Wierth | |
Susanne Messmer | |
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