Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Psyche und Corona: Jetzt nur keine Panik
> Corona macht uns ängstlicher, trauriger, vorsichtiger. Wie aber geht es
> Menschen, die an Angststörungen, Hypochondrie oder Depressionen leiden?
Bild: Gefühle der Überforderung...
Ella Schneider leidet unter Panikattacken. Die hat sie seit einigen
Monaten, zwei- bis dreimal die Woche, doch die Pandemie hat etwas
verändert. „Seit Corona sind sie intensiver geworden“, sagt sie an diesem
frühlingshaften Vormittag bei ihren Eltern auf dem Balkon. Es sieht nach
Kurzurlaub aus: Fensterläden aus Holz, die Sonne strahlt ihr ins Gesicht.
Auf dem Schoss hat sie den Laptop für das Skype-Gespräch.
Schneider, 29, arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation. Weil sie
Angst vor beruflichen Konsequenzen hat, steht in diesem Text nicht ihr
richtiger Name. Normalerweise lebt sie in einer WG in Berlin. Vor fast fünf
Wochen ist sie zu ihrer Familie ins Rhein-Main-Gebiet geflüchtet. Jetzt hat
sie große Angst davor, wie es weitergeht.
Thomas Höft aus Köln wirkt da abgeklärter, obwohl auch er beunruhigt ist.
Er ist 58, Künstler und bekennender Hypochonder. Vor ein paar Jahren machte
er seine Angst vor Krankheiten in einer NDR-Fernsehdoku öffentlich. Seit
dem „Shutdown“ lädt er Videos mit Hypochonder-Tipps bei Facebook hoch.
Humorvolle Reflexionen darüber, wie man der Krise auch positiv begegnen
kann, wenn man hinter jeden Ecke eine Krankheit lauern sieht.
Vielleicht kann er mit der Pandemie sogar besser umgehen als der
Durchschnittsbürger. „Die Aidskrise war eine enorme Schule“, sagt Höft in
einem Videotelefonat. Was vielen gewöhnungsbedürftig erscheint, ist für ihn
schon lange alltäglich.
Jurand Daszkowski hat keine Angst sich anzustecken, aber sein Alltag
verändert sich durch die Kontaktsperren deutlich. Seit seiner Kindheit
leidet er an Depressionen und musste schon früh in Rente gehen, er ist
jetzt 63. Sein Lebensinhalt ist seit fast 20 Jahren ehrenamtliches
Engagement. Er ist Vorstandsmitglied beim Bundesverband
Psychiatrie-Erfahrener und viel unterwegs, Sitzungen, Workshops,
Konferenzen.
„Das war mir in letzter Zeit beinahe zu viel“, sagt er am Telefon. Auch
wegen seiner Gehbehinderung. Deshalb ist es ihm eigentlich recht, dass er
nun direkt aus seiner Hamburger Wohnung an Konferenzen teilnehmen kann.
Andererseits findet er es mühsam, den Tag zu strukturieren, trotz seiner
Erfahrung mit der Depression und den richtigen Medikamenten.
Corona ist eine Belastung für alle. Aber was bedeutet die Krise für
Menschen, die ohnehin an einer psychischen Erkrankung leiden?
Wir haben mit einer Mitarbeiterin der Telefonseelsorge, mit Therapeut:innen
und Psychiater:innen gesprochen, die uns aus ihrem veränderten Alltag
berichtet haben. Doch unser Hauptaugenmerk liegt auf den Betroffenen.
Auf Ella Schneider sind wir über einen Instagram-Aufruf gestoßen, Thomas
Höfts Hypochonder-Videos sind uns in den Facebook-News-Feed gespült worden,
und Jurand Daszkowski haben wir über die Deutsche Depressionsliga
kennengelernt. Wir wollten wissen, wie es ihnen gerade geht.
## Vor Corona
Jurand Daszkowski wird 1957 in Danzig geboren. Als Kind erlebt er die
Mangelwirtschaft im sozialistischen Polen, Essen bekommt er nur auf Marken,
auch Toilettenpapier gibt es kaum. „Man musste stundenlang Schlange stehen,
viel schlimmer als jetzt“, sagt er. Man hört noch das harte R seiner
Muttersprache.
Seine erste depressive Phase hat er mit 11 Jahren, trotzdem ist er weiter
gut in der Schule und wird Arzt. 5 Jahre vor dem Mauerfall beantragt er
Asyl in Westdeutschland und findet eine Stelle als Altenpfleger. Fast 12
Jahre bleibt er in dem Beruf, wechselt 20-mal seinen Arbeitsplatz. Er muss
oft Nachtschichten machen, seine Gesundheit verschlechtert sich.
1996 geht er mit Schwindelgefühlen zum Neurologen, der ihm sagt, dass er
arbeitsunfähig ist. „Da hat es bei mir klick gemacht“, sagt Daszkowski.
Wenig später wird bei ihm eine somatische Depression diagnostiziert, die
sich vordergründig in Gleichgewichtsstörungen äußert.
Eine berufliche Umschulung gewährt man ihm nicht, stattdessen muss er mit
42 Jahren in Rente gehen. Die Umstellung fällt ihm schwer, es folgt der
erste psychiatrische Aufenthalt, 14 Jahre später, nach dem Tod seiner
Freundin, der zweite.
„Psychisch habe ich mich so weit stabilisiert“, sagt er. Er wird
medikamentös therapiert, außerdem hilft ihm ein ambulanter Pflegedienst im
Haushalt. Denn Daszkowski muss sich wegen seiner Gehbehinderung auf eine
Krücke stützen.
Ella Schneider liebt Konzerte und Kneipenabende, bevor sie im Herbst 2019
plötzlich regelmäßig das Gefühl bekommt, ohnmächtig zu werden. Meistens
passiert es, wenn sie in einer Konferenz, der U-Bahn oder im Theater sitzt.
„Mein Mund wird dann trocken, mein Herz pocht wie wild, und ich kann mich
kaum noch konzentrieren“, sagt sie.
Schneider glaubt, dass mit ihrem Kreislauf etwas nicht stimmt. Sie sucht
ihre Hausärztin auf, die zu ihrer Überraschung Panikattacken
diagnostiziert. Da sei ihr einiges klar geworden, erzählt sie. Früher habe
sie leichte Depressionen gehabt, und gerade ist sie von Hamburg nach Berlin
gezogen. Sie vermutet, dass ihre Psyche darauf reagiert hat. Zwei Monate
dauert es, bis sie ihre erste Therapiestunde hat. Dort wird klar: Die
Panikattacken kommen, wenn sie sich überfordert oder ausgeliefert fühlt.
Das Gefühl von Überforderung kennt Thomas Höft von früher gut. Bei ihm fing
das mit der Hypochondrie früh an. „Ich war ein besorgtes Kind“, sagt er.
Auf seinem T-Shirt prangt ein Tyrannosaurus Rex, der gefräßig das Maul
aufsperrt, als wollte Höft seine Sorgen damit in die Flucht schlagen.
Höft wächst im Wendland auf, seine Jugend wird durch die politische
Auseinandersetzung um das Atommülllager in Gorleben bestimmt und durch
Künstler:innen, die sich in der dünn besiedelten Region niederlassen.
Das erste Mal gerät sein Leben aus den Fugen, als er 21 Jahre alt ist. Höft
hat einen Tumor in der Schilddrüse, der zunächst unerkannt bleibt. Keiner
ahnt, wie schlecht es ihm geht. Nicht mal er selbst. „Ich bin im Supermarkt
kollabiert, und die Leute dachten, ich wäre auf Droge.“
Kurze Zeit später sterben in Los Angeles etliche Menschen an einer
mysteriösen Lungenerkrankung. Thomas Höft hat gerade sein Comingout gehabt
und ist Teil der Hamburger Schwulenszene, als klar wird, dass die
überwiegende Mehrheit der Infizierten homosexuell ist.
Es ist der Beginn der Aidskrise, Anfang der 1980er Jahre.
Verschwörungstheorien entstehen: Aids sei die Strafe Gottes für einen
unsittlichen Lebenswandel. Oder: Aids sei erfunden worden, um Homosexuelle
zu diskriminieren.
„Ich war in totaler Panik. Niemand wusste, was das war und wie man es
bekommt. Man wusste nur, es ist extrem bedrohlich.“ Höft bildet sich nicht
ein, krank zu sein, sondern will um jeden Preis verhindern, krank zu
werden. „Für mich geht es um Kontrolle“, sagt er. „Was fasse ich an? Wem
begegne ich?“
Solche Ängste beschäftigen die Menschen in der aktuellen Krise stärker als
sonst. Eine der Anlaufstellen für solche Probleme ist die
Telefonseelsorge, die deutschlandweit gerade ungewöhnlich häufig
kontaktiert wird. „Uns rufen aktuell 50 Prozent mehr Menschen an als vor
einem Jahr“, sagt Bettina Schwab, Psychologin bei der Telefonseelsorge
Berlin.
Dem gemeinsamen Dokumentationssystem von 74 Stellen bundesweit zufolge
lassen sich ein Drittel der Anrufe direkt auf die Pandemie zurückführen.
Die anderen vorherrschenden Themen sind Einsamkeit und Angst, beides steht
wiederum in Verbindung mit dem Virus und den Ausgangsbeschränkungen.
## Seit Corona
Ella Schneider sagt über den Beginn der Pandemie: „Ich habe mir viel früher
als andere ständig die Hände gewaschen.“ Sie erinnert auch ihre Freunde
regelmäßig daran, die reagieren irritiert. Also behält sie ihre Virenpanik
lieber für sich.
Heute findet sie es selbst erstaunlich, wie früh sie alarmiert gewesen ist.
Als viele Corona noch für eine harmlose Grippe halten, löst die Erkrankung
bei ihr bereits Horrorszenarien aus. Was wäre, wenn ihre Eltern an Covid-19
erkranken und künstlich beatmet werden müssen? Was, wenn sie sie dann nicht
besuchen kann? Und was, wenn sie selbst krank wird?
Trotz ihrer Panik fährt sie Anfang März noch nach Leipzig. Eine Freundin
feiert Geburtstag und Schneider will sich ihre Angst nicht eingestehen.
Aber schon im Zug verkrampft sie sich von Minute zu Minute mehr. „Fass bloß
nichts an!“, „Fass dir bloß nicht ins Gesicht!“ sind das Einzige, woran …
denken kann. Bei der Party erfährt sie, dass eine der Mitfeiernden gerade
aus Italien gekommen ist. Ihr Panikkarussell dreht sich schneller und
schneller.
Nach zwei Tagen im Homeoffice muss sie am 13. März noch einmal ins Büro.
Ihr VPN-Zugang, mit dem sie von Zuhause aus auf das Intranet zugreifen
kann, funktioniert nicht richtig. Als sie im Büro steht, zählt sie die
Sekunden, so wenig erträgt sie es, dort zu sein. Wenn jetzt eine
Panikattacke kommt, kann sie sich nicht dagegen wehren, denkt sie noch, da
zeigt ihr Handy eine neue Sprachnachricht an.
Eine Freundin berichtet ihr, dass es in ihrem Bekanntenkreis einen
Corona-Verdachtsfall gibt. Sofort geht Schneider gedanklich alle Kontakte
durch und kommt zu dem Ergebnis, dass auch sie indirekt mit ihm in
Berührung gekommen ist. Ihre Stirn fängt an zu glühen, sie glaubt, Fieber
zu haben.
Das ist der Punkt, an dem etwas in ihr kapituliert; sie will nur noch weg.
Bisher hat sie die Großstadt geliebt, jetzt macht sie ihr eine Riesenangst.
„Wenn ich vor die Tür gehe, treffe ich Hunderte Menschen, und nicht jeder
nimmt Corona ernst.“
Als ihre Mitbewohnerin von einem geplanten Date erzählt, fragt sie
suggestiv, ob sie glaube, dass Körperkontakt mit einem Fremden gerade eine
gute Idee sei. Die Mitbewohnerin geht trotzdem hin. Am nächsten Morgen
liegt sie mit Halsschmerzen im Bett, später steigt das Fieber. Schneider
bekommt Panik. Nachher stellt sich heraus, dass es nur eine
Mandelentzündung war.
Schon bevor es ein großes Medienthema ist, liest Thomas Höft alles über
Corona, was er finden kann. Er verschlingt die Informationen der WHO und
durchforstet das Netz nach Fachpublikationen. Denn trotz oder gerade wegen
seiner Hypochondrie faszinieren ihn Viren total. „Ein Virus kennt nur einen
Inhalt, nämlich,ich’. Das ist fantastisch, das ist Egozentrik in Reinform“,
sagt er.
Je mehr er über das Virus erfährt, desto besorgter wird er. Und versucht,
sich damit zu beruhigen, dass die Schweinegrippe, Sars und Mers auch
glimpflicher ausgegangen sind, als zunächst befürchtet. Er redet sich zu:
„Thomas, hab dich unter Kontrolle.“
Er fährt weiter zu seinen Veranstaltungen. Zum letzten Mal am 5. März, als
er mit seinem Musikensemble Fetish Baroque einen Auftritt hat. In Antwerpen
beim Leather Pride, einem riesigen Fetischfestival mit Tausenden von
Menschen.
Als er das während des Skype-Gesprächs erzählt, springt er auf und kommt
mit einer grau-silber-pinkfarbenen Ganzkopfmaske zurück. Die hat er beim
Festival den ganzen Abend getragen. So fühlt er sich sicherer.
Nach dem Konzert wollen Höft und ein befreundeter Mediziner zu einer
Aftershowparty. Dann stehen die beiden Männer mit einem Mal in der
„Infektionshölle“, wie sein Begleiter es nennt. Im Club 1.500 Menschen,
die dichtgedrängt miteinander tanzen und trinken.
In diesem Moment merkt Höft, dass sein kontraphobisches Verhalten in
Unvernunft gekippt ist. Sie gehen. Höft packt seine Sachen und begibt sich
eine Woche vor der staatlichen Anweisung in Selbstisolation.
„Einer von den Festivalbeteiligten ist inzwischen tot“, sagt Höft. Er habe
sich mit Corona angesteckt und sei daran gestorben.
Da Jurand Daszkowski nicht das Virus selbst zu schaffen macht, sondern die
Kontaktsperren, ändert sich sein Leben weniger schlagartig.
Er hört Anfang Januar von der Ausbreitung, macht sich aber zunächst keine
großen Gedanken. „Als das Robert-Koch-Institut Anfang März einen Workshop
abgesagt hat, zu dem ich eingeladen war, dachte ich: Na gut, die wollen
jetzt vorbildlich sein.“ Auch jetzt hat Daszkowski keine Angst, krank zu
werden. Und das, obwohl er gefährdeter ist als Ella Schneider, die mit
ihren 29 Jahren nicht zur Risikogruppe gehört.
Doch Sorgen und Nöte, die durch psychische Erkrankungen hervorgerufen
werden, sind selten rational; die Psyche funktioniert nach ihren eigenen
Regeln.
## Mit Corona
Daszkowski sagt: „Einerseits ist da eine gewisse Erleichterung.“ Die
Sitzungen, für die er sonst anstrengende Reisen auf sich nehmen muss,
kommen per Knopfdruck in seine Wohnung. „Sonst war alles ziemlich verplant
bei mir, jetzt gehe ich manchmal um drei oder um vier Uhr morgens ins Bett
und schlafe bis nachmittags.“ Antriebslos fühlt er sich aber noch nicht.
„Meine Medikamente helfen, es sieht so aus, als würde ich keine neue
depressive Phase bekommen.“
Ein paar Sorgen hat er trotzdem. Denn die Medikamente bekommt er von seinem
Pflegedienst, den er kürzlich gewechselt hat. „Ich habe ein bisschen Angst,
dass sie nicht alles bringen, was ich brauche“, sagt er.
Die Ausgangssperren wecken Erinnerungen bei ihm – an seine Zeit als
Asylbewerber in Deutschland. Damals durfte er den Ort, wo er in einer
Flüchtlingsunterkunft untergebracht war, nicht verlassen. „Mein Mitbewohner
hat gesagt, wer sich das Warten verkürzen will, kann sich aufhängen.“
Dass Daszkowski sich 36 Jahre später so genau daran erinnert, könnte daran
liegen, dass er früher selbst an Suizidgedanken litt. Heute hat er sie im
Griff. Allerdings gibt es viele andere, die in der aktuellen Lage verstärkt
damit zu kämpfen haben.
Ein Anruf bei Madeline Albers. Seit vier Jahren schreibt die 28-Jährige in
dem Blog „Learningtolive“ über ihren Umgang mit Depressionen und
Suizidgedanken. Sie erinnert die jetzige Situation an die schlimmste Phase
ihres Lebens, die von sozialem Rückzug geprägt war. „Dass ich mich jetzt
wieder so verhalten muss, wirft mich sehr zurück“, sagt Albers. „Ich habe
Schwierigkeiten, einen Sinn in der Zeit zu finden, die ich mit mir allein
verbringen muss.“
Daszkowski ist da an einem anderen Punkt. Er hat inzwischen genügend
Beschäftigung, eine Therapie und zahlreiche Bekannte, die ihn dabei
unterstützen, die schwere Zeit zu bewältigen. „Wer jetzt in einer Krise
ist, sollte die Hilfe von Angehörigen und Freunden in Anspruch nehmen“,
sagt er, macht eine Pause, „und sich notfalls ins Krankenhaus einweisen
lassen – trotz Corona.“
Ella Schneider hat das Glück, dass ihre Familie für sie da ist und dass sie
ihren Job von jedem Ort aus machen kann. Als sie bei ihren Eltern ankommt,
plagt sie aber erst mal zwei Wochen die Sorge, dass sie das Virus selbst
eingeschleppt hat und Mutter und Vater unnötig gefährdet.
Die Furcht vor dem Virus ist dauernd präsent. Der hustende Vater am Morgen,
die Milchtüte aus dem Supermarkt.
Langsam geht es ihr aber etwas besser. Auch deshalb, weil sie ihren
Nachrichtenkonsum stark eingeschränkt hat. Corona-News liest sie nur noch
zweimal am Tag, andere ernste Themen schiebt sie zur Seite. Stattdessen
liest sie Comics aus der Sammlung ihres Vater, pflanzt im Garten Tomaten
und Zuckererbsen oder fährt mit dem Rennrad raus in die Natur.
## Tagelang wie paralysiert
In ihrem Bekanntenkreis sei ihr auch schon Egoismus vorgeworfen worden,
sagt Schneider. Sie solle sich nicht so anstellen, andere hätten viel
schlimmere Probleme. Das will sie auch gar nicht bestreiten. Doch es macht
sie traurig, wie wenig Empathie ihr manche entgegenbringen.
Und tatsächlich sind Panikattacken kein weinerliches Getue, sondern eine
ernste Angelegenheit. Steckt man erst mal mittendrin, fühlt man sich
stunden-, manchmal tagelang wie paralysiert. Oft schaffen es die
Betroffenen nur unter größten Anstrengungen, am normalen Leben
teilzunehmen. Dabei verstecken viele ihre Angst so gut, dass kaum jemand
etwas davon mitbekommt.
In Zeiten der Pandemie hat Schneider das Gefühl, dass sich ihre
Befürchtungen gar nicht mehr so sehr von denen der Mehrheitsbevölkerung
unterscheiden. Doch im Gegensatz zu vielen anderen hat sie eine
Therapeutin, mit der sie über ihre Ängste und Nöte sprechen kann.
Allerdings nicht mehr von Angesicht zu Angesicht.
## Aber wie funktioniert Psychotherapie in Coronazeiten?
Katherina Flaig bietet tiefenpsychologische Psychotherapie in der
brandenburgischen Kleinstadt Angermünde an. Momentan hat sie 30
Klient:innen, von denen sie die meisten einmal die Woche in ihrer Praxis
sieht. Auch jetzt noch. „Ich habe das Glück, dass ich allein praktiziere
und der Landkreis noch nicht so sehr von Corona betroffen ist“, sagt sie.
Allerdings ist es nicht einfach, den Praxisbetrieb fortzuführen. Ohne
strenge Hygienemaßnahmen funktioniert es nicht. Die Klient:innen dürfen
keine Türklinken mehr anfassen, während der Therapie sitzen sie und ihr
Gegenüber mindestens zwei Meter voneinander entfernt. Nach der Stunde
sprüht Flaig den Sessel mit Desinfektionsmittel ein.
Nur wenige ihrer Klient:innen haben sich für die Videosprechstunde
entschieden. Dabei ist sie gerade das Mittel der Wahl. Vor allem
Therapeut:innen in psychiatrischen Institutsambulanzen und
Gemeinschaftspraxen greifen gern darauf zurück, weil dort das
Ansteckungsrisiko wegen der hohen Patient:innenenzahl hoch ist. Seit diesem
Monat dürfen sie für das zweite Quartal 100 Prozent ihrer Arbeit als
digitale Leistungen abrechnen, vorher waren es 20.
Für Flaig ist die digitale Sprechstunde nur ein mittelmäßiger Ersatz:
„Selbst wenn man Ton und Bild hat, geht die Direktheit verloren.“ Außerdem
gebe es Klient:innen, die zu Hause nicht frei sprechen könnten.
## Wenn er sich verliebt, nimmt er Ansteckung in Kauf
Doch es gibt auch Menschen, die auf den Gang zum Therapeuten konsequent
verzichten. Thomas Höft hatte stets den Ehrgeiz, sich selbst zu helfen. Und
auf gewisse Weise ist er auch vom Fach. Als studierter Sprachpsychologe,
der eine Zeit lang bei Gesprächstherapien assistiert hat.
Während der Aidskrise lernt er, mit der Hypochondrie umzugehen. „Man wusste
damals nicht, ob man sich unbesorgt küssen kann und ob Kondome schützen“,
sagt er. Also wägt er jedes Mal ab, ob das Risiko oder der Nutzen
überwiegt. Wenn er sich verliebt, nimmt er eine Ansteckung in Kauf. „Die
Inkubationszeit von Aids beträgt mehrere Jahre“, sagt er. Deshalb
beschließt er irgendwann, sich als infiziert zu betrachten. Danach geht es
ihm besser. Er hat sich dann nie mit dem HI-Virus infiziert.
„Wenn du ständig nur damit beschäftigt bist, dich vor dem Leben vorzusehen,
dann kontrollierst du nur noch und lebst nicht mehr“, sagt er. Diese
Gratwanderung zwischen Vermeidung und Akzeptanz wendet Höft jetzt auch auf
die Coronazeit an. Seine Erfahrung bringt ihm sogar einen leichten Vorteil.
„Ich habe mir schon mit Anfang 20 abtrainiert, mir unwillkürlich ins
Gesicht zu fassen“, sagt er. „Das, was ihr jetzt lebt, lebe ich schon
lange.“
Aber er lebt es eine Spur eiserner als viele andere. Derzeit geht er nur
noch einmal die Woche einkaufen, abends um 22 Uhr. Er hat herausgefunden,
dass der Supermarkt dann am leersten ist. Danach steckt er den
Einkaufsbeutel in die Waschmaschine und wäscht das Obst, das er gekauft
hat, mit Spülmittel ab.
Aber man dürfe sich der Panik auf keinen Fall überlassen, betont er. Vor
allem nicht, wenn man Hypochonder ist in einer hypochondrischen Zeit. „Dann
fängst du an, dich vor dem Schlafengehen zu duschen, kochst deine
Bettwäsche jeden Morgen und gehst gar nicht mehr raus. Die
Eskalationsstufen sind unendlich, es hört nicht auf.“
## Kreativität aus der Krise schöpfen
Da sei es ganz gut, sich hin und wieder daran zu erinnern, dass der Mensch
zu einem gewissen Prozentsatz aus Viren besteht, sagt er. „Sie sind Teil
unseres Lebens, und wir müssen sie willkommen heißen.“ Ihm ist klar, dass
das nicht alle so sehen können. Aber er ist Künstler. Aus der Krise wird
Kreativität.
Und das klappt gut. Unter seinen Videobotschaften schreiben die Leute:
„Lieber Thomas!! Du machst mir Mut!! Danke!!!“ und „Balsam. Danke sehr!�…
Das gibt ihm Kraft, die er auch beruflich gerade gut gebrauchen kann. Denn
eigentlich kuratiert er Festivals, durch Corona sind ihm Aufträge
weggebrochen.
In bedrohlichen Zeiten wie diesen bräuchte es eigentlich eine stärkere
psychologische Betreuung als sonst. Das Gegenteil ist der Fall. Wegen der
Infektionsgefahr haben zahlreiche Kliniken ihren Routinebetrieb
weitgehend heruntergefahren, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin und Präsident der
Fachgesellschaft DGPPN. „Jeder, der nicht akut aufgenommen werden muss,
wird momentan möglichst nicht aufgenommen, sondern ambulant versorgt.“
Gleichzeitig würden derzeit viele aus Angst vor Ansteckung auf die
Kontaktaufnahme mit einer psychiatrischen Einrichtung verzichten, sagt
Heinz. Videosprechstunden seien auch nicht für alle geeignet, etwa arme und
alte Menschen, die die Geräte dazu nicht haben. Und was psychiatrische
Institutsambulanzen angeht, sei noch nicht bundesweit geklärt, ob sie
Telefongespräche wie Präsenztermine abrechnen können.
## Nicht jeder psychisch Erkrankte leidet mehr als sonst
Expert:innen halten einige Personengruppen in diesen Zeiten für besonders
betroffen: Menschen mit Angst- und Zwangsstörungen, Menschen, die an
Depressionen leiden, stressbedingte Belastungsstörungen haben oder
suizidgefährdet sind.
Doch nicht jeder psychisch Erkrankte leidet gerade automatisch mehr als
sonst, sagt der Psychiater Heinz. Manche würden sich in ihrer wachsamen
oder zurückgezogenen Lebensweise nun bestätigt sehen. Und: „Durch die
gemeinsam erlittene Katastrophe erleben viele Betroffene eine Solidarität,
die ihnen gut tut.“
Was die Expert:innengespräche auch deutlich machen: Ob sich die aktuelle
Krise langfristig in gesteigerten Suizidraten oder vermehrten psychischen
Krankheiten auswirkt, lässt sich noch nicht sagen.
Dass es sich aber um eine ernstzunehmende Möglichkeit handelt, kann man
einem Mitte [1][April erschienenen Positionspapier] des Fachmagazins The
Lancet Psychiatry entnehmen. Darin befürchtet ein internationales Team aus
Psychiater:innen, Psycholog:innen und
Neurowissenschaftler:innen eine Zunahme von Angsterkrankungen,
Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und Suiziden. Dieser Anstieg
sei jedoch nicht unvermeidlich.
## Nach Corona
Ella Schneider sagt: „Am meisten freue ich mich darauf, ganz viele Freunde
auf einmal zu treffen und sie ganz, ganz fest zu umarmen.“ Und dann möchte
sie mit dem Rennrad über die Alpen fahren.
Jurand Daszkowski hofft, dass die Menschheit nach der Krise die Normalität
für weniger selbstverständlich hält und dadurch das Hier und Jetzt genießen
lernt. Zu Tagungen und Kongressen will er trotzdem wieder reisen. Aber
Sitzungen dürfen ruhig weiter per Telefon stattfinden. Das sei einfach
leichter.
Thomas Höft möchte sich nach der Pandemie einen kleinen Hausvorrat an
FFP2-Masken anlegen, um für die nächste Pandemie gewappnet zu sein. Und er
kann es kaum erwarten, seinen Partner in Österreich zu besuchen.
Hilfe im Krisenfall: Wenn Sie Ängste haben oder vielleicht sogar an Suizid
denken, versuchen Sie, mit anderen darüber zu sprechen. Unter anderem die
Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr kostenlose Beratung: 08001110111
oder per Chat via telefonseelsorge.de
25 Apr 2020
## LINKS
[1] https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lanpsy/PIIS2215-0366(20)30168-1.pdf
## AUTOREN
Anna Fastabend
Elin Disse
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
psychische Gesundheit
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt HIV und Aids
Depression
Suizid
taz.gazete
Suizid
Schwerpunkt Coronavirus
taz.gazete
Evangelische Kirche
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Studie zu psychischen Krankheiten: Mehr Fehltage durch Depressionen
Arbeitnehmer*innen fehlen immer öfter wegen psychischer Probleme. Laut
einer Studie stieg die Zahl der Krankheitstage seit 1997 um über 200
Prozent.
Welttag der Suizidprävention: Das größte Geheimnis
Wenn Menschen Suizid begehen, bleiben Familie und Freund*innen zurück.
Unsere Autorin verlor ihre Mutter und war jahrelang allein damit.
Gespräch über Angst in Corona-Zeiten: „Die Welt wackelt“
Durch die Pandemie erfährt eine Mehrheit, was es bedeutet, mit Ängsten zu
leben. Ein Gespräch mit einer Psychose-Erfahrenen und einem Psychologen.
Isabel Bogdan über ihren Roman „Laufen“: „Es wird immer eine Wunde bleib…
In Isabel Bogdans Roman „Laufen“ joggt eine Frau, deren Partner sich das
Leben nahm, zurück ins Leben. Dem spürt der Schreibrhythmus sensibel nach.
Psychotherapeutin über den Lockdown: „Auch per Video kann es intensiv werden…
Die Coronakrise habe bei vielen ihrer Patient*innen Ängste freigesetzt,
sagt die Hamburger Psychotherapeutin Ulrike Lupke.
Psychische Belastung in der Corona-Krise: Wie geht's nach dem Lockdown?
Erste Studien deuten auf mehr depressive Symptome hin, jüngere beklagen
Einsamkeit. Neben Therapieplätzen hilft Aufklärung über Selbstfürsorge.
Pastor über die Aktualität der Seelsorge: „Viele Debatten erlebt“
Krischan Heinemann, neuer Leiter des Beratungs- und Seelsorgezentrums an
St. Petri in Hamburg, hat mitten in der Coronakrise den Job gewechselt.
Protokoll aus Berliner Psychiatrie: „Das Virus als Wahninhalt“
In der Psychiatrie stranden nun die Menschen, denen das Coronavirus
zusetzt. Chefarzt Felix Bermpohl erwartet noch mehr Menschen mit
Depressionen.
Depressionen und die Coronakrise: Das Virus kann auch helfen
Psychotherapeuten berichten: Das „handfeste Alltagsproblem“ Corona
relativiere bei manchen Patienten das persönliche psychische Leid.
Der Corona-Städtevergleich III: Kleine Schritte Richtung Normalität
Wie sieht der Alltag der europäischen Großstädter in Corona-Zeiten aus? Die
taz wirft erneut einen Blick nach Rom, Paris, Warschau und Berlin.
Premieren dank Corona: Man soll niemals „nie“ sagen
Corona nötigt uns Verhaltensänderungen ab, im Guten wie im Schlechten. Wir
haben unsere KollegInnen gefragt, was in dieser Zeit ihr erstes Mal war.
Maßnahmen gegen Corona: Wie die Maskenpflicht befolgt wird
Seit Montag gilt in fast allen Bundesländern eine Maskenpflicht. Aber
halten sich die Leute auch daran? Unsere Korrespondent*innen haben
nachgeschaut.
Ausgang für Risikogruppen: Kein Stubenarrest für Heimbewohner
Heime gelten als ganz besonders gefährdet durch Corona. Einsperren dürfen
sie ihre Bewohner trotzdem nicht, auch wenn einzelne das wohl versuchen.
Langzeitfolgen sozialer Isolierung: „Angst, Verzweiflung, Aggressionen“
Die psychosozialen Folgen der Corona-Kontaktsperre sind nicht abzusehen.
Viele der Betroffenen haben das Gefühl, die Türen seien überall für sie zu.
Entschleunigung in Zeiten der Krise: Der Corona-Effekt
Die einen haben zu viel davon, die anderen zu wenig: Die Zeit ist aus den
Fugen. Markiert Corona eine Zeitenwende?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.