# taz.de -- Psyche und Corona: Jetzt nur keine Panik | |
> Corona macht uns ängstlicher, trauriger, vorsichtiger. Wie aber geht es | |
> Menschen, die an Angststörungen, Hypochondrie oder Depressionen leiden? | |
Bild: Gefühle der Überforderung... | |
Ella Schneider leidet unter Panikattacken. Die hat sie seit einigen | |
Monaten, zwei- bis dreimal die Woche, doch die Pandemie hat etwas | |
verändert. „Seit Corona sind sie intensiver geworden“, sagt sie an diesem | |
frühlingshaften Vormittag bei ihren Eltern auf dem Balkon. Es sieht nach | |
Kurzurlaub aus: Fensterläden aus Holz, die Sonne strahlt ihr ins Gesicht. | |
Auf dem Schoss hat sie den Laptop für das Skype-Gespräch. | |
Schneider, 29, arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation. Weil sie | |
Angst vor beruflichen Konsequenzen hat, steht in diesem Text nicht ihr | |
richtiger Name. Normalerweise lebt sie in einer WG in Berlin. Vor fast fünf | |
Wochen ist sie zu ihrer Familie ins Rhein-Main-Gebiet geflüchtet. Jetzt hat | |
sie große Angst davor, wie es weitergeht. | |
Thomas Höft aus Köln wirkt da abgeklärter, obwohl auch er beunruhigt ist. | |
Er ist 58, Künstler und bekennender Hypochonder. Vor ein paar Jahren machte | |
er seine Angst vor Krankheiten in einer NDR-Fernsehdoku öffentlich. Seit | |
dem „Shutdown“ lädt er Videos mit Hypochonder-Tipps bei Facebook hoch. | |
Humorvolle Reflexionen darüber, wie man der Krise auch positiv begegnen | |
kann, wenn man hinter jeden Ecke eine Krankheit lauern sieht. | |
Vielleicht kann er mit der Pandemie sogar besser umgehen als der | |
Durchschnittsbürger. „Die Aidskrise war eine enorme Schule“, sagt Höft in | |
einem Videotelefonat. Was vielen gewöhnungsbedürftig erscheint, ist für ihn | |
schon lange alltäglich. | |
Jurand Daszkowski hat keine Angst sich anzustecken, aber sein Alltag | |
verändert sich durch die Kontaktsperren deutlich. Seit seiner Kindheit | |
leidet er an Depressionen und musste schon früh in Rente gehen, er ist | |
jetzt 63. Sein Lebensinhalt ist seit fast 20 Jahren ehrenamtliches | |
Engagement. Er ist Vorstandsmitglied beim Bundesverband | |
Psychiatrie-Erfahrener und viel unterwegs, Sitzungen, Workshops, | |
Konferenzen. | |
„Das war mir in letzter Zeit beinahe zu viel“, sagt er am Telefon. Auch | |
wegen seiner Gehbehinderung. Deshalb ist es ihm eigentlich recht, dass er | |
nun direkt aus seiner Hamburger Wohnung an Konferenzen teilnehmen kann. | |
Andererseits findet er es mühsam, den Tag zu strukturieren, trotz seiner | |
Erfahrung mit der Depression und den richtigen Medikamenten. | |
Corona ist eine Belastung für alle. Aber was bedeutet die Krise für | |
Menschen, die ohnehin an einer psychischen Erkrankung leiden? | |
Wir haben mit einer Mitarbeiterin der Telefonseelsorge, mit Therapeut:innen | |
und Psychiater:innen gesprochen, die uns aus ihrem veränderten Alltag | |
berichtet haben. Doch unser Hauptaugenmerk liegt auf den Betroffenen. | |
Auf Ella Schneider sind wir über einen Instagram-Aufruf gestoßen, Thomas | |
Höfts Hypochonder-Videos sind uns in den Facebook-News-Feed gespült worden, | |
und Jurand Daszkowski haben wir über die Deutsche Depressionsliga | |
kennengelernt. Wir wollten wissen, wie es ihnen gerade geht. | |
## Vor Corona | |
Jurand Daszkowski wird 1957 in Danzig geboren. Als Kind erlebt er die | |
Mangelwirtschaft im sozialistischen Polen, Essen bekommt er nur auf Marken, | |
auch Toilettenpapier gibt es kaum. „Man musste stundenlang Schlange stehen, | |
viel schlimmer als jetzt“, sagt er. Man hört noch das harte R seiner | |
Muttersprache. | |
Seine erste depressive Phase hat er mit 11 Jahren, trotzdem ist er weiter | |
gut in der Schule und wird Arzt. 5 Jahre vor dem Mauerfall beantragt er | |
Asyl in Westdeutschland und findet eine Stelle als Altenpfleger. Fast 12 | |
Jahre bleibt er in dem Beruf, wechselt 20-mal seinen Arbeitsplatz. Er muss | |
oft Nachtschichten machen, seine Gesundheit verschlechtert sich. | |
1996 geht er mit Schwindelgefühlen zum Neurologen, der ihm sagt, dass er | |
arbeitsunfähig ist. „Da hat es bei mir klick gemacht“, sagt Daszkowski. | |
Wenig später wird bei ihm eine somatische Depression diagnostiziert, die | |
sich vordergründig in Gleichgewichtsstörungen äußert. | |
Eine berufliche Umschulung gewährt man ihm nicht, stattdessen muss er mit | |
42 Jahren in Rente gehen. Die Umstellung fällt ihm schwer, es folgt der | |
erste psychiatrische Aufenthalt, 14 Jahre später, nach dem Tod seiner | |
Freundin, der zweite. | |
„Psychisch habe ich mich so weit stabilisiert“, sagt er. Er wird | |
medikamentös therapiert, außerdem hilft ihm ein ambulanter Pflegedienst im | |
Haushalt. Denn Daszkowski muss sich wegen seiner Gehbehinderung auf eine | |
Krücke stützen. | |
Ella Schneider liebt Konzerte und Kneipenabende, bevor sie im Herbst 2019 | |
plötzlich regelmäßig das Gefühl bekommt, ohnmächtig zu werden. Meistens | |
passiert es, wenn sie in einer Konferenz, der U-Bahn oder im Theater sitzt. | |
„Mein Mund wird dann trocken, mein Herz pocht wie wild, und ich kann mich | |
kaum noch konzentrieren“, sagt sie. | |
Schneider glaubt, dass mit ihrem Kreislauf etwas nicht stimmt. Sie sucht | |
ihre Hausärztin auf, die zu ihrer Überraschung Panikattacken | |
diagnostiziert. Da sei ihr einiges klar geworden, erzählt sie. Früher habe | |
sie leichte Depressionen gehabt, und gerade ist sie von Hamburg nach Berlin | |
gezogen. Sie vermutet, dass ihre Psyche darauf reagiert hat. Zwei Monate | |
dauert es, bis sie ihre erste Therapiestunde hat. Dort wird klar: Die | |
Panikattacken kommen, wenn sie sich überfordert oder ausgeliefert fühlt. | |
Das Gefühl von Überforderung kennt Thomas Höft von früher gut. Bei ihm fing | |
das mit der Hypochondrie früh an. „Ich war ein besorgtes Kind“, sagt er. | |
Auf seinem T-Shirt prangt ein Tyrannosaurus Rex, der gefräßig das Maul | |
aufsperrt, als wollte Höft seine Sorgen damit in die Flucht schlagen. | |
Höft wächst im Wendland auf, seine Jugend wird durch die politische | |
Auseinandersetzung um das Atommülllager in Gorleben bestimmt und durch | |
Künstler:innen, die sich in der dünn besiedelten Region niederlassen. | |
Das erste Mal gerät sein Leben aus den Fugen, als er 21 Jahre alt ist. Höft | |
hat einen Tumor in der Schilddrüse, der zunächst unerkannt bleibt. Keiner | |
ahnt, wie schlecht es ihm geht. Nicht mal er selbst. „Ich bin im Supermarkt | |
kollabiert, und die Leute dachten, ich wäre auf Droge.“ | |
Kurze Zeit später sterben in Los Angeles etliche Menschen an einer | |
mysteriösen Lungenerkrankung. Thomas Höft hat gerade sein Comingout gehabt | |
und ist Teil der Hamburger Schwulenszene, als klar wird, dass die | |
überwiegende Mehrheit der Infizierten homosexuell ist. | |
Es ist der Beginn der Aidskrise, Anfang der 1980er Jahre. | |
Verschwörungstheorien entstehen: Aids sei die Strafe Gottes für einen | |
unsittlichen Lebenswandel. Oder: Aids sei erfunden worden, um Homosexuelle | |
zu diskriminieren. | |
„Ich war in totaler Panik. Niemand wusste, was das war und wie man es | |
bekommt. Man wusste nur, es ist extrem bedrohlich.“ Höft bildet sich nicht | |
ein, krank zu sein, sondern will um jeden Preis verhindern, krank zu | |
werden. „Für mich geht es um Kontrolle“, sagt er. „Was fasse ich an? Wem | |
begegne ich?“ | |
Solche Ängste beschäftigen die Menschen in der aktuellen Krise stärker als | |
sonst. Eine der Anlaufstellen für solche Probleme ist die | |
Telefonseelsorge, die deutschlandweit gerade ungewöhnlich häufig | |
kontaktiert wird. „Uns rufen aktuell 50 Prozent mehr Menschen an als vor | |
einem Jahr“, sagt Bettina Schwab, Psychologin bei der Telefonseelsorge | |
Berlin. | |
Dem gemeinsamen Dokumentationssystem von 74 Stellen bundesweit zufolge | |
lassen sich ein Drittel der Anrufe direkt auf die Pandemie zurückführen. | |
Die anderen vorherrschenden Themen sind Einsamkeit und Angst, beides steht | |
wiederum in Verbindung mit dem Virus und den Ausgangsbeschränkungen. | |
## Seit Corona | |
Ella Schneider sagt über den Beginn der Pandemie: „Ich habe mir viel früher | |
als andere ständig die Hände gewaschen.“ Sie erinnert auch ihre Freunde | |
regelmäßig daran, die reagieren irritiert. Also behält sie ihre Virenpanik | |
lieber für sich. | |
Heute findet sie es selbst erstaunlich, wie früh sie alarmiert gewesen ist. | |
Als viele Corona noch für eine harmlose Grippe halten, löst die Erkrankung | |
bei ihr bereits Horrorszenarien aus. Was wäre, wenn ihre Eltern an Covid-19 | |
erkranken und künstlich beatmet werden müssen? Was, wenn sie sie dann nicht | |
besuchen kann? Und was, wenn sie selbst krank wird? | |
Trotz ihrer Panik fährt sie Anfang März noch nach Leipzig. Eine Freundin | |
feiert Geburtstag und Schneider will sich ihre Angst nicht eingestehen. | |
Aber schon im Zug verkrampft sie sich von Minute zu Minute mehr. „Fass bloß | |
nichts an!“, „Fass dir bloß nicht ins Gesicht!“ sind das Einzige, woran … | |
denken kann. Bei der Party erfährt sie, dass eine der Mitfeiernden gerade | |
aus Italien gekommen ist. Ihr Panikkarussell dreht sich schneller und | |
schneller. | |
Nach zwei Tagen im Homeoffice muss sie am 13. März noch einmal ins Büro. | |
Ihr VPN-Zugang, mit dem sie von Zuhause aus auf das Intranet zugreifen | |
kann, funktioniert nicht richtig. Als sie im Büro steht, zählt sie die | |
Sekunden, so wenig erträgt sie es, dort zu sein. Wenn jetzt eine | |
Panikattacke kommt, kann sie sich nicht dagegen wehren, denkt sie noch, da | |
zeigt ihr Handy eine neue Sprachnachricht an. | |
Eine Freundin berichtet ihr, dass es in ihrem Bekanntenkreis einen | |
Corona-Verdachtsfall gibt. Sofort geht Schneider gedanklich alle Kontakte | |
durch und kommt zu dem Ergebnis, dass auch sie indirekt mit ihm in | |
Berührung gekommen ist. Ihre Stirn fängt an zu glühen, sie glaubt, Fieber | |
zu haben. | |
Das ist der Punkt, an dem etwas in ihr kapituliert; sie will nur noch weg. | |
Bisher hat sie die Großstadt geliebt, jetzt macht sie ihr eine Riesenangst. | |
„Wenn ich vor die Tür gehe, treffe ich Hunderte Menschen, und nicht jeder | |
nimmt Corona ernst.“ | |
Als ihre Mitbewohnerin von einem geplanten Date erzählt, fragt sie | |
suggestiv, ob sie glaube, dass Körperkontakt mit einem Fremden gerade eine | |
gute Idee sei. Die Mitbewohnerin geht trotzdem hin. Am nächsten Morgen | |
liegt sie mit Halsschmerzen im Bett, später steigt das Fieber. Schneider | |
bekommt Panik. Nachher stellt sich heraus, dass es nur eine | |
Mandelentzündung war. | |
Schon bevor es ein großes Medienthema ist, liest Thomas Höft alles über | |
Corona, was er finden kann. Er verschlingt die Informationen der WHO und | |
durchforstet das Netz nach Fachpublikationen. Denn trotz oder gerade wegen | |
seiner Hypochondrie faszinieren ihn Viren total. „Ein Virus kennt nur einen | |
Inhalt, nämlich,ich’. Das ist fantastisch, das ist Egozentrik in Reinform“, | |
sagt er. | |
Je mehr er über das Virus erfährt, desto besorgter wird er. Und versucht, | |
sich damit zu beruhigen, dass die Schweinegrippe, Sars und Mers auch | |
glimpflicher ausgegangen sind, als zunächst befürchtet. Er redet sich zu: | |
„Thomas, hab dich unter Kontrolle.“ | |
Er fährt weiter zu seinen Veranstaltungen. Zum letzten Mal am 5. März, als | |
er mit seinem Musikensemble Fetish Baroque einen Auftritt hat. In Antwerpen | |
beim Leather Pride, einem riesigen Fetischfestival mit Tausenden von | |
Menschen. | |
Als er das während des Skype-Gesprächs erzählt, springt er auf und kommt | |
mit einer grau-silber-pinkfarbenen Ganzkopfmaske zurück. Die hat er beim | |
Festival den ganzen Abend getragen. So fühlt er sich sicherer. | |
Nach dem Konzert wollen Höft und ein befreundeter Mediziner zu einer | |
Aftershowparty. Dann stehen die beiden Männer mit einem Mal in der | |
„Infektionshölle“, wie sein Begleiter es nennt. Im Club 1.500 Menschen, | |
die dichtgedrängt miteinander tanzen und trinken. | |
In diesem Moment merkt Höft, dass sein kontraphobisches Verhalten in | |
Unvernunft gekippt ist. Sie gehen. Höft packt seine Sachen und begibt sich | |
eine Woche vor der staatlichen Anweisung in Selbstisolation. | |
„Einer von den Festivalbeteiligten ist inzwischen tot“, sagt Höft. Er habe | |
sich mit Corona angesteckt und sei daran gestorben. | |
Da Jurand Daszkowski nicht das Virus selbst zu schaffen macht, sondern die | |
Kontaktsperren, ändert sich sein Leben weniger schlagartig. | |
Er hört Anfang Januar von der Ausbreitung, macht sich aber zunächst keine | |
großen Gedanken. „Als das Robert-Koch-Institut Anfang März einen Workshop | |
abgesagt hat, zu dem ich eingeladen war, dachte ich: Na gut, die wollen | |
jetzt vorbildlich sein.“ Auch jetzt hat Daszkowski keine Angst, krank zu | |
werden. Und das, obwohl er gefährdeter ist als Ella Schneider, die mit | |
ihren 29 Jahren nicht zur Risikogruppe gehört. | |
Doch Sorgen und Nöte, die durch psychische Erkrankungen hervorgerufen | |
werden, sind selten rational; die Psyche funktioniert nach ihren eigenen | |
Regeln. | |
## Mit Corona | |
Daszkowski sagt: „Einerseits ist da eine gewisse Erleichterung.“ Die | |
Sitzungen, für die er sonst anstrengende Reisen auf sich nehmen muss, | |
kommen per Knopfdruck in seine Wohnung. „Sonst war alles ziemlich verplant | |
bei mir, jetzt gehe ich manchmal um drei oder um vier Uhr morgens ins Bett | |
und schlafe bis nachmittags.“ Antriebslos fühlt er sich aber noch nicht. | |
„Meine Medikamente helfen, es sieht so aus, als würde ich keine neue | |
depressive Phase bekommen.“ | |
Ein paar Sorgen hat er trotzdem. Denn die Medikamente bekommt er von seinem | |
Pflegedienst, den er kürzlich gewechselt hat. „Ich habe ein bisschen Angst, | |
dass sie nicht alles bringen, was ich brauche“, sagt er. | |
Die Ausgangssperren wecken Erinnerungen bei ihm – an seine Zeit als | |
Asylbewerber in Deutschland. Damals durfte er den Ort, wo er in einer | |
Flüchtlingsunterkunft untergebracht war, nicht verlassen. „Mein Mitbewohner | |
hat gesagt, wer sich das Warten verkürzen will, kann sich aufhängen.“ | |
Dass Daszkowski sich 36 Jahre später so genau daran erinnert, könnte daran | |
liegen, dass er früher selbst an Suizidgedanken litt. Heute hat er sie im | |
Griff. Allerdings gibt es viele andere, die in der aktuellen Lage verstärkt | |
damit zu kämpfen haben. | |
Ein Anruf bei Madeline Albers. Seit vier Jahren schreibt die 28-Jährige in | |
dem Blog „Learningtolive“ über ihren Umgang mit Depressionen und | |
Suizidgedanken. Sie erinnert die jetzige Situation an die schlimmste Phase | |
ihres Lebens, die von sozialem Rückzug geprägt war. „Dass ich mich jetzt | |
wieder so verhalten muss, wirft mich sehr zurück“, sagt Albers. „Ich habe | |
Schwierigkeiten, einen Sinn in der Zeit zu finden, die ich mit mir allein | |
verbringen muss.“ | |
Daszkowski ist da an einem anderen Punkt. Er hat inzwischen genügend | |
Beschäftigung, eine Therapie und zahlreiche Bekannte, die ihn dabei | |
unterstützen, die schwere Zeit zu bewältigen. „Wer jetzt in einer Krise | |
ist, sollte die Hilfe von Angehörigen und Freunden in Anspruch nehmen“, | |
sagt er, macht eine Pause, „und sich notfalls ins Krankenhaus einweisen | |
lassen – trotz Corona.“ | |
Ella Schneider hat das Glück, dass ihre Familie für sie da ist und dass sie | |
ihren Job von jedem Ort aus machen kann. Als sie bei ihren Eltern ankommt, | |
plagt sie aber erst mal zwei Wochen die Sorge, dass sie das Virus selbst | |
eingeschleppt hat und Mutter und Vater unnötig gefährdet. | |
Die Furcht vor dem Virus ist dauernd präsent. Der hustende Vater am Morgen, | |
die Milchtüte aus dem Supermarkt. | |
Langsam geht es ihr aber etwas besser. Auch deshalb, weil sie ihren | |
Nachrichtenkonsum stark eingeschränkt hat. Corona-News liest sie nur noch | |
zweimal am Tag, andere ernste Themen schiebt sie zur Seite. Stattdessen | |
liest sie Comics aus der Sammlung ihres Vater, pflanzt im Garten Tomaten | |
und Zuckererbsen oder fährt mit dem Rennrad raus in die Natur. | |
## Tagelang wie paralysiert | |
In ihrem Bekanntenkreis sei ihr auch schon Egoismus vorgeworfen worden, | |
sagt Schneider. Sie solle sich nicht so anstellen, andere hätten viel | |
schlimmere Probleme. Das will sie auch gar nicht bestreiten. Doch es macht | |
sie traurig, wie wenig Empathie ihr manche entgegenbringen. | |
Und tatsächlich sind Panikattacken kein weinerliches Getue, sondern eine | |
ernste Angelegenheit. Steckt man erst mal mittendrin, fühlt man sich | |
stunden-, manchmal tagelang wie paralysiert. Oft schaffen es die | |
Betroffenen nur unter größten Anstrengungen, am normalen Leben | |
teilzunehmen. Dabei verstecken viele ihre Angst so gut, dass kaum jemand | |
etwas davon mitbekommt. | |
In Zeiten der Pandemie hat Schneider das Gefühl, dass sich ihre | |
Befürchtungen gar nicht mehr so sehr von denen der Mehrheitsbevölkerung | |
unterscheiden. Doch im Gegensatz zu vielen anderen hat sie eine | |
Therapeutin, mit der sie über ihre Ängste und Nöte sprechen kann. | |
Allerdings nicht mehr von Angesicht zu Angesicht. | |
## Aber wie funktioniert Psychotherapie in Coronazeiten? | |
Katherina Flaig bietet tiefenpsychologische Psychotherapie in der | |
brandenburgischen Kleinstadt Angermünde an. Momentan hat sie 30 | |
Klient:innen, von denen sie die meisten einmal die Woche in ihrer Praxis | |
sieht. Auch jetzt noch. „Ich habe das Glück, dass ich allein praktiziere | |
und der Landkreis noch nicht so sehr von Corona betroffen ist“, sagt sie. | |
Allerdings ist es nicht einfach, den Praxisbetrieb fortzuführen. Ohne | |
strenge Hygienemaßnahmen funktioniert es nicht. Die Klient:innen dürfen | |
keine Türklinken mehr anfassen, während der Therapie sitzen sie und ihr | |
Gegenüber mindestens zwei Meter voneinander entfernt. Nach der Stunde | |
sprüht Flaig den Sessel mit Desinfektionsmittel ein. | |
Nur wenige ihrer Klient:innen haben sich für die Videosprechstunde | |
entschieden. Dabei ist sie gerade das Mittel der Wahl. Vor allem | |
Therapeut:innen in psychiatrischen Institutsambulanzen und | |
Gemeinschaftspraxen greifen gern darauf zurück, weil dort das | |
Ansteckungsrisiko wegen der hohen Patient:innenenzahl hoch ist. Seit diesem | |
Monat dürfen sie für das zweite Quartal 100 Prozent ihrer Arbeit als | |
digitale Leistungen abrechnen, vorher waren es 20. | |
Für Flaig ist die digitale Sprechstunde nur ein mittelmäßiger Ersatz: | |
„Selbst wenn man Ton und Bild hat, geht die Direktheit verloren.“ Außerdem | |
gebe es Klient:innen, die zu Hause nicht frei sprechen könnten. | |
## Wenn er sich verliebt, nimmt er Ansteckung in Kauf | |
Doch es gibt auch Menschen, die auf den Gang zum Therapeuten konsequent | |
verzichten. Thomas Höft hatte stets den Ehrgeiz, sich selbst zu helfen. Und | |
auf gewisse Weise ist er auch vom Fach. Als studierter Sprachpsychologe, | |
der eine Zeit lang bei Gesprächstherapien assistiert hat. | |
Während der Aidskrise lernt er, mit der Hypochondrie umzugehen. „Man wusste | |
damals nicht, ob man sich unbesorgt küssen kann und ob Kondome schützen“, | |
sagt er. Also wägt er jedes Mal ab, ob das Risiko oder der Nutzen | |
überwiegt. Wenn er sich verliebt, nimmt er eine Ansteckung in Kauf. „Die | |
Inkubationszeit von Aids beträgt mehrere Jahre“, sagt er. Deshalb | |
beschließt er irgendwann, sich als infiziert zu betrachten. Danach geht es | |
ihm besser. Er hat sich dann nie mit dem HI-Virus infiziert. | |
„Wenn du ständig nur damit beschäftigt bist, dich vor dem Leben vorzusehen, | |
dann kontrollierst du nur noch und lebst nicht mehr“, sagt er. Diese | |
Gratwanderung zwischen Vermeidung und Akzeptanz wendet Höft jetzt auch auf | |
die Coronazeit an. Seine Erfahrung bringt ihm sogar einen leichten Vorteil. | |
„Ich habe mir schon mit Anfang 20 abtrainiert, mir unwillkürlich ins | |
Gesicht zu fassen“, sagt er. „Das, was ihr jetzt lebt, lebe ich schon | |
lange.“ | |
Aber er lebt es eine Spur eiserner als viele andere. Derzeit geht er nur | |
noch einmal die Woche einkaufen, abends um 22 Uhr. Er hat herausgefunden, | |
dass der Supermarkt dann am leersten ist. Danach steckt er den | |
Einkaufsbeutel in die Waschmaschine und wäscht das Obst, das er gekauft | |
hat, mit Spülmittel ab. | |
Aber man dürfe sich der Panik auf keinen Fall überlassen, betont er. Vor | |
allem nicht, wenn man Hypochonder ist in einer hypochondrischen Zeit. „Dann | |
fängst du an, dich vor dem Schlafengehen zu duschen, kochst deine | |
Bettwäsche jeden Morgen und gehst gar nicht mehr raus. Die | |
Eskalationsstufen sind unendlich, es hört nicht auf.“ | |
## Kreativität aus der Krise schöpfen | |
Da sei es ganz gut, sich hin und wieder daran zu erinnern, dass der Mensch | |
zu einem gewissen Prozentsatz aus Viren besteht, sagt er. „Sie sind Teil | |
unseres Lebens, und wir müssen sie willkommen heißen.“ Ihm ist klar, dass | |
das nicht alle so sehen können. Aber er ist Künstler. Aus der Krise wird | |
Kreativität. | |
Und das klappt gut. Unter seinen Videobotschaften schreiben die Leute: | |
„Lieber Thomas!! Du machst mir Mut!! Danke!!!“ und „Balsam. Danke sehr!�… | |
Das gibt ihm Kraft, die er auch beruflich gerade gut gebrauchen kann. Denn | |
eigentlich kuratiert er Festivals, durch Corona sind ihm Aufträge | |
weggebrochen. | |
In bedrohlichen Zeiten wie diesen bräuchte es eigentlich eine stärkere | |
psychologische Betreuung als sonst. Das Gegenteil ist der Fall. Wegen der | |
Infektionsgefahr haben zahlreiche Kliniken ihren Routinebetrieb | |
weitgehend heruntergefahren, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für | |
Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin und Präsident der | |
Fachgesellschaft DGPPN. „Jeder, der nicht akut aufgenommen werden muss, | |
wird momentan möglichst nicht aufgenommen, sondern ambulant versorgt.“ | |
Gleichzeitig würden derzeit viele aus Angst vor Ansteckung auf die | |
Kontaktaufnahme mit einer psychiatrischen Einrichtung verzichten, sagt | |
Heinz. Videosprechstunden seien auch nicht für alle geeignet, etwa arme und | |
alte Menschen, die die Geräte dazu nicht haben. Und was psychiatrische | |
Institutsambulanzen angeht, sei noch nicht bundesweit geklärt, ob sie | |
Telefongespräche wie Präsenztermine abrechnen können. | |
## Nicht jeder psychisch Erkrankte leidet mehr als sonst | |
Expert:innen halten einige Personengruppen in diesen Zeiten für besonders | |
betroffen: Menschen mit Angst- und Zwangsstörungen, Menschen, die an | |
Depressionen leiden, stressbedingte Belastungsstörungen haben oder | |
suizidgefährdet sind. | |
Doch nicht jeder psychisch Erkrankte leidet gerade automatisch mehr als | |
sonst, sagt der Psychiater Heinz. Manche würden sich in ihrer wachsamen | |
oder zurückgezogenen Lebensweise nun bestätigt sehen. Und: „Durch die | |
gemeinsam erlittene Katastrophe erleben viele Betroffene eine Solidarität, | |
die ihnen gut tut.“ | |
Was die Expert:innengespräche auch deutlich machen: Ob sich die aktuelle | |
Krise langfristig in gesteigerten Suizidraten oder vermehrten psychischen | |
Krankheiten auswirkt, lässt sich noch nicht sagen. | |
Dass es sich aber um eine ernstzunehmende Möglichkeit handelt, kann man | |
einem Mitte [1][April erschienenen Positionspapier] des Fachmagazins The | |
Lancet Psychiatry entnehmen. Darin befürchtet ein internationales Team aus | |
Psychiater:innen, Psycholog:innen und | |
Neurowissenschaftler:innen eine Zunahme von Angsterkrankungen, | |
Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und Suiziden. Dieser Anstieg | |
sei jedoch nicht unvermeidlich. | |
## Nach Corona | |
Ella Schneider sagt: „Am meisten freue ich mich darauf, ganz viele Freunde | |
auf einmal zu treffen und sie ganz, ganz fest zu umarmen.“ Und dann möchte | |
sie mit dem Rennrad über die Alpen fahren. | |
Jurand Daszkowski hofft, dass die Menschheit nach der Krise die Normalität | |
für weniger selbstverständlich hält und dadurch das Hier und Jetzt genießen | |
lernt. Zu Tagungen und Kongressen will er trotzdem wieder reisen. Aber | |
Sitzungen dürfen ruhig weiter per Telefon stattfinden. Das sei einfach | |
leichter. | |
Thomas Höft möchte sich nach der Pandemie einen kleinen Hausvorrat an | |
FFP2-Masken anlegen, um für die nächste Pandemie gewappnet zu sein. Und er | |
kann es kaum erwarten, seinen Partner in Österreich zu besuchen. | |
Hilfe im Krisenfall: Wenn Sie Ängste haben oder vielleicht sogar an Suizid | |
denken, versuchen Sie, mit anderen darüber zu sprechen. Unter anderem die | |
Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr kostenlose Beratung: 08001110111 | |
oder per Chat via telefonseelsorge.de | |
25 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lanpsy/PIIS2215-0366(20)30168-1.pdf | |
## AUTOREN | |
Anna Fastabend | |
Elin Disse | |
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