# taz.de -- Gespräch über Angst in Corona-Zeiten: „Die Welt wackelt“ | |
> Durch die Pandemie erfährt eine Mehrheit, was es bedeutet, mit Ängsten zu | |
> leben. Ein Gespräch mit einer Psychose-Erfahrenen und einem Psychologen. | |
Bild: Händewaschen: In Corona-Zeiten verwischen die Grenzen zwischen Zwang und… | |
taz: Erfahren jetzt, wo so viele Angst haben, Menschen mit Angststörungen | |
mehr Verständnis, Frau Schulz? | |
Gwen Schulz: Ich weiß nicht, ob uns wirklich ein anderes Interesse | |
entgegengebracht wird, sodass gefragt würde: Wie kommt es, dass Sie eine | |
Angst haben, die ich nicht habe? Ich glaube aber, dass mindestens am Anfang | |
dieser Krise ein Verständnis für das Wackeln der Welt und für das Wackeln | |
der Personen in dieser Welt entstanden ist, für das Gefühl, bedroht sein zu | |
können. | |
Wie sieht dieses Wackeln der Welt und der Person aus? | |
Schulz: Meine Welt wackelt schon lange. Sowohl aus persönlichen Gründen, | |
aber auch wegen dem, was in der Welt passiert: Das ist jetzt nicht nur | |
Corona, das war die Klimakatastrophe, das ist die gesamte Veränderung von | |
Werten, dass wir alle mehr auf uns selber gucken als auf die Gemeinschaft. | |
Und das erreicht einen über alle Kanäle. Das Wackeln der Welt hat dazu | |
geführt, dass auch ich mich nicht besonders stabil fühle. | |
Thomas Bock: Ich stimme Gwen zu, dass die Welt lange wackelt, schon vor | |
Corona, mit der Umwelt- und Kriegsgefahr, der Spannweite von Arm und Reich. | |
Wir arbeiten ja schon lange zusammen, es gab häufige Situationen, wo ich | |
beschämt war, dass ich das so wenig spüre oder zulasse – zwar mit meinem | |
Verstand, aber nicht so tief mit meiner Seele. Da ist jemand, der | |
psychoseerfahren ist, und bei dem die Grenze zwischen innen und außen | |
durchlässiger ist, sicher ungeschützter und dadurch vielleicht sogar der | |
Wirklichkeit näher. | |
Wie ist es Ihnen persönlich mit dem Ausbruch der Pandemie ergangen, Frau | |
Schulz? | |
Schulz: Ich fand das am Anfang beruhigend. Ich hatte das Gefühl, es ist | |
nicht mehr so, dass ich alleine Kopf stehe, sondern die stehen alle Kopf – | |
das hat ein Gefühl von Unterschiedslosigkeit gemacht. Das war vielleicht | |
die ersten zwei, drei Wochen so, als alle versucht haben, irgendwie mit der | |
Situation zurechtzukommen. | |
Bock: Ich glaube, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr | |
unterschiedlich mit der Krise umgehen. Die einen fühlen sich ein Stück weit | |
aufgehoben, die anderen steigen erst recht aus der Realität aus. Es gibt | |
schon auch Menschen, die besonders isoliert sind, es gibt solche, die | |
sagen: Wir werden jetzt völlig allein gelassen, weil die Psychiatrie nur | |
noch auf Schmalspur läuft. Einige fühlen sich entlastet, weil alle | |
betroffen sind. Ich kenne Menschen, die den Zwang haben, sich die Hände zu | |
waschen, und dadurch im normalen Leben erheblich gestört sind. Weil jetzt | |
alle Hände waschen müssen, entwickelt sich das, was ein Zwang war, zurück | |
zum Ritual und wird erträglich. | |
Schwingt da auch ein Hauch von Genugtuung mit: Jetzt bin ich mal nicht | |
allein mit der Angst? | |
Bock: Genugtuung finde ich zu böse. Sich aufgehoben zu fühlen in der Angst, | |
wenn alle Angst haben, ist ja ein sehr berechtigtes Gefühl. | |
Schulz: Ich habe von Betroffenen gehört, die gesagt haben: Jetzt wisst ihr | |
auch mal, wie sich das anfühlt. Ich glaube, dass das auch davon abhängt, | |
wie aufgehoben man sich vorher gefühlt hat. | |
Warum ist die Situation für Sie gekippt, Frau Schulz? | |
Schulz: Ich finde, dass inzwischen wieder jeder mehr bei sich guckt: Wie | |
komme ich klar? Es gibt wieder Menschen, bei denen man ganz deutlich sieht: | |
Für sie ist es schwer, sie sind damit stärker alleine. Ich kenne deren | |
Seite: Wenn ich es irgendwie hinkriege, versuche ich, die Menschen | |
anzulächeln. Aber manchmal bleibt es mir einfach im Hals stecken, weil ich | |
so viel Angst habe. Die Leute sagen, man muss doch irgendwie Humor haben, | |
statt dass sie fragen: Warum kriegen manche Leute das besser hin und die | |
anderen schlechter? Da sind wir schon wieder weggerückt von der Solidarität | |
der Anfangszeit. | |
Glauben Sie, dass es einen Unterschied macht, als Angst-erfahrener Mensch | |
in die Coronakrise zu gehen? | |
Schulz: Ich glaube, diese Krise ist eine so umfassende Erschütterung, dass | |
niemand darauf eine bekannte Antwort in sich hat. Menschen die vorher mit | |
Ängsten zu kämpfen hatten, deren Welt immer mal wieder wackelt, kennen das | |
möglicherweise mehr. Sie kennen das Gefühl, nicht zu wissen, wie antworte | |
ich auf eine bestimmte Sache, die Welt geht zu schnell, ich weiß noch gar | |
nicht, wie ich das einsortieren soll, und trotzdem muss ich irgendwie | |
weitermachen. | |
Es lag auch etwas Wohltuendes in dem allgemeinen Nicht-weiter-Wissen zu | |
Beginn der Coronakrise, vielleicht kann man es Demut nennen. | |
Bock: Der Coronavirus macht keinen Unterschied zwischen Menschen, die | |
psychisch krank oder nicht psychisch krank sind. Darin sehe ich auch eine | |
große Chance, unseren Unterscheidungszwang zu überprüfen. In der | |
Psychiatrie setzt das voraus, dass wir als Fachleute auch zugestehen: „Der | |
Virus macht mir auch Angst.“ Und dass wir dann nicht sagen: „Du bist | |
kränker, ich bin gesünder“, sondern den Teil der Angst teilen und | |
versuchen, ihn gemeinsam auszuhalten. Das würde für mich etwas verändern im | |
Verhältnis und in der Beziehungsstruktur zwischen Profi und Patient, und | |
auch in der öffentlichen Wahrnehmung. | |
Schulz: Natürlich ist jeder Mensch verantwortlich dafür, sein Teil dazu | |
beizutragen – das ist die Seite von Corona, die ich super finde. Ich kann | |
nicht zum Therapeuten rennen und sagen: „Ich habe Angst, bitte sagen Sie | |
mir, dass ich sie nicht zu haben brauche.“ Es gibt niemanden, der stärker | |
ist, der trösten kann, es gibt niemanden, der davon unbeeindruckt ist. Das | |
ist einerseits eine Chance, dass sich dieses stark und schwach mehr | |
auflöst. Dass Menschen nicht nur trösten, sondern auch selber vorkommen mit | |
ihrer Bedürftigkeit, auch die vermeintlich Stärkeren. Ich arbeite als | |
[1][Genesungsbegleiterin] und höre von meinen Kollegen an der Hamburger | |
Uniklinik, dass Menschen, die als Hilfesuchende dorthin kommen, häufiger | |
fragen: „Wie geht es Ihnen?“ | |
Wie erleben Sie als Genesungsbegleiterin, wie Menschen mit Angststörungen | |
mit der Situation zurechtkommen? | |
Schulz: Ich bin ziemlich beeindruckt, dass es einige Menschen gibt, die | |
weiter an ihren Themen dran sind, so als gäbe es kein Corona. Viele | |
Menschen sind tatsächlich geübt darin, ein bisschen anders zu leben und da | |
ist dieses Ich-kann-mich-nicht-mit-vielen-Leuten-Treffen kein großer | |
Einschnitt. Sie sind froh, wenn sie sich mit einem Menschen treffen, den | |
sie gerne haben. Insgesamt gibt es mehr Menschen, von denen ich das Gefühl | |
habe, es beunruhigt sie nicht wahnsinnig stark. Mich treibt es sehr viel | |
mehr um. | |
Was hilft Ihnen? | |
Schulz: Es ist schon überwiegend die Natur, das sind Menschen, Begegnungen | |
und immer wieder die Ermahnung, Verantwortung zu übernehmen. Ich bin | |
sowieso niemand, der irgendwo hingeht und sagt: Bitte mach’ meine Angst | |
weg. Damit, dass die Termine wegfallen, habe ich überhaupt kein Problem, | |
dass die Tage so vergehen und ich weiß nicht, ist es Montag oder Mittwoch. | |
Auch weniger außerhalb zu sein, macht mir bisher nichts aus. Mich treibt | |
der Wunsch um, dass diese Welt auf eine gute Art weitergeht. Dass die | |
eigenen Ideen und das eigene Sein und das meiner Freunde gefragt bleiben. | |
Was uns zu Menschen macht, gilt das weiter? | |
Glauben Sie, dass nach der Pandemie der Blick auf Menschen mit Ängsten ein | |
anderer sein wird? | |
Bock: Ich fände es schon viel gewonnen, wenn wir eine neue Wertschätzung | |
entwickelten. Wenn wir sehen, dass Menschen mit Psychosen nicht nur | |
stoffwechselgesteuert sind, nicht nur auf innere Konflikte reagieren, | |
sondern auch auf äußere. Und dass sie damit auch eine Art | |
Seismografenfunktion haben. Wenn wir diese Wertschätzung entwickeln, könnte | |
das Risiko der Selbst- und Fremdstigmatisierung kleiner werden. Und ich | |
hoffe, dass die Psychiatrie auch in ihrer Struktur lernt: Dass man nicht | |
nur auf stationäre Unterbringung setzt, jetzt, wo die Leute in den Kliniken | |
nicht nur vor Stigmatisierung, sondern auch vor Ansteckung Angst haben. | |
Also die Akutpsychiatrie auch nach Hause bringt. | |
Empfinden sich Menschen mit Angststörungen genügend gesehen in der Krise? | |
Schulz: Eine Menge Menschen mit psychischen Problemen sind genervt davon, | |
dass jetzt gesagt wird: „Für die muss man ein besonderes Programm machen, | |
die sind besonders schwach.“ Die sagen: „Verdammt noch mal, wir sind gar | |
nicht so schwach. Redet mal von euch selbst, das macht etwas mit uns allen, | |
was hier passiert. Und ihr helft uns am meisten damit, wenn ihr euch nicht | |
wieder rauszieht, indem ihr uns helft, sondern indem wir uns mal | |
gegenseitig ein bisschen sichtbarer machen“. Ich finde es richtig, jetzt um | |
sich herum zu gucken, aber dann auch nachzufragen: Brauchen sie wirklich | |
mehr und falls ja, was brauchen sie eigentlich? | |
15 Aug 2020 | |
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[1] https://www.genesungsbegleiter.hamburg/ | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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