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# taz.de -- Protokoll aus Berliner Psychiatrie: „Das Virus als Wahninhalt“
> In der Psychiatrie stranden nun die Menschen, denen das Coronavirus
> zusetzt. Chefarzt Felix Bermpohl erwartet noch mehr Menschen mit
> Depressionen.
Bild: Kann ganz schön aufs Gemüt schlagen, das Coronavirus
„Anfang April herrschte bei uns in der Psychiatrie eine Ruhe, die ganz
gespenstisch war. Da haben Menschen aus Angst vor Ansteckung offensichtlich
abgewartet. Und nun kommen Patienten mit Vergiftungen, die in ihrer Not zu
viel Alkohol und andere Substanzen eingenommen haben. Menschen, bei denen
die Tagesstruktur, die Selbsthilfegruppen wegen Corona weggefallen sind und
die alleine zu Hause ihren Gedanken und Ängsten ausgesetzt sind. Es sind
besonders viele schwere Fälle, die sich im Moment vorstellen und die wir
nicht abweisen können.
Psychiatrie ist ein Beziehungsfach. Wir arbeiten mit unseren Patienten,
indem wir mit ihnen sprechen und eine Beziehung aufbauen. Durch
Kontaktbeschränkungen und Hygieneauflagen wird uns diese Beziehungsaufnahme
erschwert. In der Psychiatrie kommt dazu noch eine besondere Gratwanderung:
Auf der einen Seite sind Menschen gerade jetzt auf unsere Unterstützung
angewiesen. Auf der anderen Seite sind viele unserer Patienten nicht nur
seelisch krank, sondern auch körperlich und damit besonders zu schützen.
Während in der somatischen Medizin die Patienten in der Regel in ihren
Betten liegen und maximal noch ihren Zimmernachbarn anstecken, wäre eine
Infektionswelle in der Psychiatrie schon besonders ungünstig. Die Patienten
bewegen sich tagsüber frei zwischen den Angeboten: Einzel- und
Gruppentherapie, Kunst, Musik, Ergotherapie, Bewegungsangebote, Ausgänge
ins Freie. Da gibt es viel Austausch und Ansteckungsmöglichkeiten. Bei
einigen unserer Patienten kommt noch dazu, dass sie sich aufgrund ihrer
psychischen Erkrankungen nur schwer an Regeln halten: Mund-Nasen-Schutz
tragen, Abstand halten, immer wieder Hände waschen. Patienten mit Demenz
oder einer Manie kann man eben nicht einfach sagen, halten Sie Abstand zu
Herrn Soundso, er ist besonders gefährdet.
## Vorsichtmaßnahmen getroffen
Auf den Stationen hatten wir aber glücklicherweise noch keine Fälle. Das
liegt sicher auch daran, dass wir sehr viele Vorsichtsmaßnahmen getroffen
haben. Das war in der Phase, als wir in Italien gesehen haben, wie das
Gesundheitssystem überfordert ist, und erwartet haben, dass uns das
innerhalb von zwei Wochen auch erreicht. Innerhalb von einer Woche haben
wir das ganze Haus umstrukturiert, um dem nicht schutzlos ausgesetzt zu
sein.
Normalerweise ist unsere Klinik nach Schwerpunkten gegliedert:
Abhängigkeitserkrankungen, psychotische Erkrankungen, depressive Störungen,
Traumafolgeerkrankungen, Gerontopsychiatrie. Und jetzt haben wir Bereiche
für: bestätigte Coronafälle – dieser Bereich ist zum Glück leer – und
Verdachtsfälle. Es sind kurzfristig Handwerker gekommen und haben innerhalb
eines Tages Trockenwände hochgezogen, um für diese Bereiche
Hygieneschleusen zu schaffen. Dann haben wir jetzt eine Station für
Patienten, die neu kommen, und eine für vorerkrankte und ältere Patienten,
die besonders gefährdet sind. Auf einer weiteren Station sind die
Patienten, die schon länger in der Klinik sind.
Eigentlich möchte Psychiatrie ja offen sein und wir bemühen uns nach
Kräften, das hartnäckige wie unberechtigte Image der geschlossenen
Einrichtung abzulegen. Diese Offenheit können wir uns im Moment aber nicht
leisten. Der Ausgang und Besuche sind sehr stark eingeschränkt. Nur bei
schwer kranken Patienten, bei denen wir befürchten, dass sie suizidal oder
fremdaggressiv reagieren, organisieren wir unter strengen Auflagen einen
Besuch. Wir planen jetzt eine Lockerung der Besuchsregelung, und
hoffentlich wird es bald auch möglich sein, dass Patienten ihre Besucher
auf dem Klinikgelände treffen – immer unter Wahrung von Hygieneregeln
natürlich.
## Bereit für Verschwörungstheorien
Wir beobachten in der Krise genau, welche Patienten vermehrt kommen, und
werden das in einer Studie aufbereiten. Aber ich kann ja schon einmal von
meinem subjektiven Eindruck berichten: Neben den Vergiftungsfällen sehen
wir viele Menschen mit Psychosen, die durch die Pandemie belastet sind.
Psychotiker neigen dazu, sich bedroht zu fühlen oder Verschwörungstheorien
zu entwickeln und den Dingen eine Bedeutung zu geben, die sie vielleicht
gar nicht haben.
Und diese Menschen integrieren jetzt das Coronageschehen in ihre
Psychopathologie. Sie haben dann zum Beispiel die Fantasie, dass die
Pandemie von irgendjemand gemacht wurde. Dass da der Geheimdienst
dahintersteckt oder eine fremde Regierung. Das, was eben durch die Presse
geht und ja offenbar sogar von seelisch gesunden Menschen in Betracht
gezogen wird, ist für Menschen mit Psychosen besonders naheliegend. Solche
Fälle haben wir jetzt sehr viele, und ich glaube, dass das Coronavirus als
Wahninhalt uns in der Psychiatrie noch eine Weile beschäftigen wird.
Es gibt aber auch Menschen, die unter dem Druck der Krise plötzlich
Fortschritte machen, die vorher nicht möglich waren. Da kommen Menschen mit
bestehenden Depressionen plötzlich raus aus ihrer Passivität. Es gibt bei
Psychiatern die These, dass Krisen- und Kriegszeiten keine neurotischen
Störungen kennen, weil es notwendig ist zu funktionieren. Aber ehrlich
gesagt: Nicht alles, was ich jetzt beobachte, verstärkt diese These. Wir
haben den Eindruck, dass bestimmte neurotische Störungen regelrecht
aufblühen.
Was wir als Folge dieser Krise noch erwarten, sind viele Patienten mit
depressiven Reaktionen. Denken Sie an den Restaurantbesitzer, der Insolvenz
anmelden muss, weil er die Pause ökonomisch nicht überlebt, dann vielleicht
noch seine Wohnung verliert oder Probleme in der Beziehung bekommt. Das
sind Belastungen, die jeden von uns krank machen können. Noch sehen wir das
relativ wenig, aber wir rechnen damit, dass das noch kommt. Viele dieser
Personen kämpfen ja gerade noch.“ Protokoll: Manuela Heim
26 May 2020
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Psychiatrie
Charité
Einsamkeit
Verschwörungsmythen und Corona
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
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