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# taz.de -- Psychisch krank und obdachlos: „Alle spüren den Druck“
> Über 70 Prozent der Obdachlosen haben eine akute psychische Erkrankung,
> sagt die Ärztin Stefanie Schreiter. Zu viele von ihnen blieben ohne
> Hilfe.
Bild: Ein Großteil der Obdachlosen leidet unter behandlungsbedürftigen psychi…
taz: Frau Schreiter, wie eng sind psychische Erkrankungen und
Wohnungslosigkeit miteinander verbunden?
Stefanie Schreiter: Natürlich ist es nicht so, dass jeder Mensch, der seine
Wohnung verliert, automatisch psychisch erkrankt. Aber eine Meta-Analyse
verschiedener Studien aus deutschen Großstädten hat gezeigt, dass über 70
Prozent der Menschen, die auf der Straße leben, eine aktuelle,
behandlungsbedürftige psychische Erkrankung haben. Über 90 Prozent hatten
schon einmal eine psychische Erkrankung in ihrem Leben.
Schließt sich die Frage an, was zuerst kommt: die Wohnungslosigkeit oder
die psychische Erkrankung?
Es gibt immer wieder die Diskussion um die Shift-or-Drift-Hypothese: Werden
wohnungslose Menschen vermehrt psychisch krank oder betrifft
Wohnungslosigkeit insbesondere Menschen, die bereits psychisch erkrankt
sind?
Und was davon ist wahr?
Beides. Wir sehen sowohl Menschen, vor allem mit Suchterkrankungen,
Psychosen und Depressionen, die Plätze in therapeutischen Einrichtungen
oder ihre eigenen Wohnungen verlieren und es dann sehr schwer haben, einen
neuen Ort zu finden. Aber natürlich führen auch immer wieder Jobverlust,
Schulden, Trennungen und andere soziale Probleme zum Verlust der Wohnung
und in der Folge zu Anpassungs- und Angststörungen, Depressionen und
Suchterkrankungen, teils auch als Bewältigungsstrategie. Das greift beides
sehr eng ineinander.
Es gibt ja die These, dass ein Teil der obdachlosen Menschen freiwillig auf
der Straße lebt. Aber wenn diese Menschen aufgrund psychischer Erkrankungen
nicht in vorhandenen Wohnungslosenunterkünften unterkommen können oder
wollen, kann man dann überhaupt von Freiwilligkeit sprechen?
Tatsächlich ist das vor allem eine rechtliche Frage: Wenn jemand als
unfreiwillig obdachlos gilt, steht ihm gemäß Ordnungsrecht eine mindestens
notfällige Unterbringung zu. Aber wir haben auch in unseren Kliniken immer
wieder Menschen, die zum Beispiel aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten
nicht in jedem Setting mit jedem zurechtkommen, spezielle Betreuung
bräuchten und die fallen dann aus den meisten Einrichtungen, die es gibt,
raus. Dann gibt es Menschen, die schlechte Erfahrungen gemacht haben,
stigmatisiert oder vielleicht durch Zwangsmaßnahmen traumatisiert wurden.
Ich finde es sehr gefährlich, dass Menschen, die aus Angst oder Frustration
Hilfen ablehnen, formal als freiwillig obdachlos gelten. Man sollte immer
fragen, warum jemand Hilfen ablehnt.
Warum ist es aus Ihrer Sicht dringlich, etwas gegen die Spirale aus
Wohnungslosigkeit und psychischen Erkrankungen zu unternehmen?
Alle Zahlen und unsere klinische Praxis sagen uns, dass das ein wachsendes
Problem ist. Da können wir einfach zuschauen, wie die Wohnungsnot vor allem
die trifft, die die wenigsten Ressourcen und keine Lobby haben. Aber es ist
natürlich viel nachhaltiger, diese Prozesse zu unterbrechen.
Deshalb haben Sie im September Vertreter aus Politik, Medizin und
Wissenschaft, öffentliche und private Vermieter, Betroffene und soziale
Träger in einer Konferenz zusammengebracht. Was waren die Erkenntnisse?
Erst einmal hat die Konferenz gezeigt: Es gibt sehr viele engagierte
Menschen und Angebote, gerade in Berlin. Wir haben die Berliner Kältehilfe
und die Wohnungslosenhilfe, das Versorgungssystem der Psychiatrien, die
Rettungsstellen und andere ambulante Stellen, und die
Wiedereingliederungshilfe, wo zum Beispiel Plätze in therapeutischen
Wohngemeinschaften zur Verfügung stehen. Wir haben die Jobcenter und andere
Leistungsträger. Es ist auch gut, dass so viele Stellen beteiligt sind,
weil Wohnungslosigkeit Menschen mit sehr unterschiedlichen Problemlagen
betrifft. Und trotzdem wird klar, dass Menschen aufgrund von
Schnittstellenproblemen durchs Raster dieses Systems fallen. Da müssen wir
uns noch besser vernetzen.
Wie denn zum Beispiel?
Indem wir als psychiatrisches Versorgungssystem enger mit Einrichtungen der
Wohnungslosenhilfe zusammenarbeiten und zum Beispiel auch dort aufsuchende
Therapiemöglichkeiten schaffen. Wir haben auch festgestellt, dass wir mehr
Angebote für Menschen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen, also für
ältere Menschen brauchen, und auch für Menschen mit Doppeldiagnosen, für
nichtversicherte Patienten. Alle spüren den Verbesserungsbedarf, aber der
ist, das sagen alle Beteiligten, klar limitiert durch den knappen
Wohnungsraum.
Es wird vermutet, dass ein Großteil der wohnungslosen Menschen aus anderen
EU-Ländern kommt. Genauer wissen wir das erst nach der erstmaligen Zählung
der Obdachlosen im Januar. Haben diese Menschen genauso Zugang zu
psychiatrischer Versorgung?
Zumindest die Psychiatrien als Akutversorgungssystem behandeln alle
Menschen, egal ob sie hier versichert sind oder nicht. Aber das sind
natürlich im Zweifel ungedeckte Kosten, die die Kliniken tragen müssen.
Wie kommen die wohnungslosen Menschen in die Psychiatrie und was passiert
nach der Behandlung?
Es gibt Menschen, die aufgegriffen und zu uns gebracht werden, weil sie für
sich oder andere eine Gefahr darstellen, aber das ist nur ein kleiner Teil.
Die meisten kommen freiwillig. Wir haben auf unseren Stationen
Sozialarbeiter, die mit den Patienten Kontakt aufnehmen und versuchen, die
weitere Situation zu klären. Allerdings dauert es mitunter sehr lange, bis
wir, wenn der Patient das wünscht, einen Platz in therapeutischen
Wohngemeinschaften oder anderen Einrichtungen finden. Deshalb kommt es
immer wieder vor, dass Menschen aus Frust die Station verlassen oder wir
sie in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe vermitteln müssen.
Das bedeutet doch, dass Sie einen Menschen stabilisieren und wissen, im
Zweifel ist der in einem halben Jahr wieder da, weil er auf der Straße ja
nicht gesünder wird. Das ist doch auch für Sie frustrierend.
Klar, das ist frustrierend für beide. Die Phase nach einer stationären
Behandlung ist immer schwierig und für wohnungslose Menschen noch einmal
besonders. Das Zuhause ist eine wichtige Ressource für Genesung, das ist
uns eigentlich allen klar, aber wir denken vielleicht nicht mehr aktiv
daran. In der psychiatrischen Behandlung gibt es gerade aus diesem Grund
immer mehr Konzepte für aufsuchende Behandlung. Bei Wohnungslosen ist das
vor allem mit Housing First denkbar, da gibt es ja jetzt ein Modellprojekt,
bei dem Menschen ohne Bedingungen erst einmal mit Wohnraum versorgt werden.
Aber auch da sind die Plätze natürlich limitiert.
Da sind wir wieder beim knappen Wohnraum in dieser Stadt …
Wir können uns viele Konzepte und Verbesserungen ausdenken, wenn sie am
Wohnungsmangel scheitern. Vor allem die Frage, was die psychisch erkrankten
Menschen und Wohnungslosen sich selbst eigentlich wünschen und brauchen,
die leidet darunter.
29 Dec 2019
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
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Psychische Erkrankungen
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