# taz.de -- Obdachlos ohne Krankenversicherung: Die Leiden des Giovanni | |
> Als EU-Bürger hat Giovanni Maramotti kaum eine Chance, mehr als die | |
> Notfallversorgung im Krankenhaus zu bekommen. Dabei ist er depressiv. | |
Bild: Giovanni Maramotti am Alexanderplatz in Berlin, dort hält er sich oft auf | |
Im Sommer letzten Jahres besuchte ich fast täglich die | |
Amerika-Gedenk-Bibliothek, ich hatte es als freier Journalist mit einer | |
längeren Recherche zu tun und nutzte dafür die Bibliothek am Blücherplatz. | |
Dabei fiel mir immer dieser wuchtige Mann auf: Obwohl seine | |
heruntergekommene Kleidung und zwei prall gefüllte Plastiktüten ihn als | |
Obdachlosen kennzeichneten, strahlte er eine große Würde aus. | |
Eines Tages traute ich mich, ihn auf einen Kaffee einzuladen. Er stimmte | |
zu. Und so saßen wir immer häufiger bei einem Kaffee auf der Bank und | |
redeten. Giovanni, so heißt er, hatte schon seit längerer Zeit seinen | |
Lebensmittelpunkt in die Bibliothek verlegt – sie böte ihm Wärme, erzählte | |
er mir, soziale Kontakte, eine kostenlose Toilette und Zugang zum Internet. | |
Die Amerika-Gedenk-Bibliothek ist auch an Sonntagen geöffnet, und für einen | |
Obdachlosen wie Giovanni ist dies gerade in der kalten Jahreszeit | |
existenziell. Zudem fand er hier einen relativ sicheren Schlafplatz am | |
Nachtschalter der Bibliothek. Giovanni war zuvor an anderen Plätzen | |
mehrfach [1][überfallen und geschlagen] worden. | |
Mir bedeutete die aufkommende Freundschaft mit Giovanni bald sehr viel. | |
Auch wenn es sich kitschig anhören mag: Ich verspürte eine tiefe | |
Bewunderung für diesen zufrieden wirkenden Mann, trotzdem er beinahe alle | |
Ängste auf seinen Schultern trug, die sich ein Mensch in Deutschland | |
ausmalen kann: der Verlust des sicheren Heims, der Verlust aller | |
finanziellen Mittel, eine ungewisse Zukunft und keinerlei Aussicht auf eine | |
Rente. Manchmal stellte ich mir schmunzelnd vor, wie Giovanni als Experte | |
in ausverkauften Hallen über Zukunftsangst und Gelassenheit spräche. | |
Irgendwann erzählte mir Giovanni seine Lebensgeschichte: Er stamme aus der | |
kleinen Stadt Sassuolo im Norden Italiens. Die Gegend ist berühmt für ihre | |
Keramikfliesen, er begann dort eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich | |
und habe 13 Jahre im Vertrieb gearbeitet. Geschwister habe er keine. Seine | |
Mutter, sagt er, habe unter einer bipolaren Erkrankung gelitten und mehrere | |
Suizidversuche unternommen, die er miterlebte. | |
Giovanni sagt, er habe früh lernen müssen, selbstständig zu sein. Den Vater | |
lernte er nie kennen. Als er elf Jahre alt gewesen sei, habe sich ein Onkel | |
um ihn „gekümmert“, berichtet er mir – er habe ihn jahrelang sexuell | |
missbraucht. Im Laufe der Jahre, seine Mutter war inzwischen gestorben, sei | |
der Wunsch stärker geworden, Italien zu verlassen: wegen seiner | |
Homosexualität sei er ausgegrenzt worden, die katholische Kirche sei | |
einflussreich in seiner Heimatstadt. | |
Giovanni trifft eine weitreichende Entscheidung: Er kündigt seinen Job, | |
löst seine Wohnung auf und reist mit seinem wenigen Ersparten im Jahr 2013 | |
nach Berlin. | |
## I. Aufbruch aus Italien, Absturz in Berlin | |
In einer schwulen Wohngemeinschaft in Schöneberg findet Giovanni ein Zimmer | |
und feiert dort seinen 45. Geburtstag – die schönste Zeit in seinem Leben, | |
erzählt er mir. In Berlin besucht Giovanni mit großer Hingabe Deutschkurse, | |
er spricht die Sprache nahezu perfekt. Überhaupt liebt er Sprachen, auch | |
Französisch und Englisch gehören zu seinem Repertoire. | |
Nach etwa zwei Jahren sind seine Ersparnisse aufgebraucht, und Giovanni | |
landet auf der Straße. Die meisten Freunde von Giovanni wenden sich von ihm | |
ab, als sie erfahren, dass er wohnungslos ist. | |
Zwar versucht Giovanni eine Arbeit zu finden, doch habe ihm, wie er selbst | |
zugibt, die letzte Konsequenz dabei gefehlt. [2][Giovanni hat immer wieder | |
depressive Phasen, in denen er sich völlig zurückzieht.] | |
Man unterschätzt schnell, was für eine enorme Anstrengung ein Leben auf der | |
Straße mit sich bringt. Giovannis Taschen wiegen mindestens 20 Kilogramm, | |
er hat sie jederzeit bei sich. Sein Essen und Trinken muss er sich täglich | |
erbetteln, hinzu kommt die allabendliche Suche nach einem halbwegs | |
trockenen und sicheren Schlafplatz. | |
Giovanni lernt durch Beratungsstellen und Mund-zu-Mund-Propaganda unter den | |
Obdachlosen verschiedene Hilfsangebote kennen: Wann und wo warmes Essen | |
verteilt wird, wo es Ausgabestellen für kostenlose Kleidung gibt und welche | |
[3][medizinischen Ambulanzen Menschen ohne Krankenversicherung] versorgen. | |
Schon bald distanziert Giovanni sich von vielen Obdachlosen, er meidet | |
Notschlaf-Unterkünfte, weil er sich dort häufig mit Gewalt und | |
Suchtproblemen konfrontiert sieht. Immer wieder erklärt Giovanni in unseren | |
Gesprächen: „Ich rauche nicht, ich trinke nicht, aber essen ist meine | |
Sucht.“ Ängste und Sorgen versucht er mit Chips und billigen Süßigkeiten zu | |
vertreiben, dafür reicht das Geld meist, das er von PassantInnen erbittet. | |
## II. Schutzlos am Nollendorfplatz | |
Als ich im Herbst dieses Jahres von einer längeren Reise wieder zurück nach | |
Berlin komme, ist Giovanni nicht mehr an seinem Stammplatz in der | |
Bibliothek auffindbar. Ich frage Besucher, die mit ihm bekannt sind, doch | |
niemand weiß etwas über seinen Verbleib. Schließlich suche ich die Orte ab, | |
an welchen Giovanni sich für gewöhnlich aufhält. | |
Endlich finde ich Giovanni am Nollendorfplatz. Er liegt auf der Bank einer | |
wenig genutzten Bushaltestelle, inmitten einer vielbefahrenen, vierspurigen | |
Straße, während nur ein paar Meter über ihm im Minutentakt die U2 rattert. | |
Es ist der letzte Ort, der einem vielleicht einfiele, um Schlaf zu finden, | |
dafür sei es aber relativ sicher hier, sagt Giovanni – die belebte Straße | |
ist auch ein Schutz. | |
Minutenlang schweigt Giovanni, er scheint immer wieder einzuschlafen. Seine | |
sonst so wachen Augen sind starr und rot unterlaufen. Schließlich richtet | |
er sich mühsam auf und sagt: „Christian, ich kann nicht mehr.“ | |
Giovanni berichtet von dem Vorfall, der ihn veranlasste, die Bibliothek zu | |
meiden. Einer der Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts habe ihn immer wieder | |
angefeindet. Die Bibliothek äußert sich auf taz-Anfrage bisher nicht zu dem | |
von Giovanni geschilderten Vorfall. | |
Giovanni, der am Nachtschalter der Bibliothek zuvor einen sicheren Ort | |
hatte, sich zumindest geduldet fühlte, ist bitter enttäuscht über die | |
Ablehnung. | |
Er beschließt, der Bibliothek völlig den Rücken zu kehren und verliert | |
damit jenes Quäntchen Sicherheit, seine soziale Heimat. Schnell verfällt | |
Giovanni in eine tiefe Depression, in völlige Selbstaufgabe. Auch sein | |
rechtes Bein ist entzündet, er kann immer nur ein paar Schritte gehen. | |
Ich mache Giovanni das Angebot, ihn mit dem Auto abzuholen und zum | |
Sozialamt zu fahren. Ich versuche, ihm Hoffnung zu vermitteln und ich | |
glaubte auch selbst daran, dass es in Deutschland mit seinem weitreichenden | |
Gesundheitssystem Hilfsangebote für Menschen in seiner Lage geben muss. | |
## III. Vom Sozialamt in die Notaufnahme | |
Als wir am nächsten Tag das Sozialamt Tempelhof-Schöneberg betreten, haben | |
wir kaum Wartezeit, bis wir zum ersten Termin vorgelassen werden. | |
Doch schon bald die völlige Ernüchterung: Niemand fühlte sich zuständig, | |
denn immer fehlte ein entscheidendes Dokument: Giovanni kann keinen | |
Mietvertrag vorlegen, er hat keine Krankenversicherung und auch keinen Pass | |
– er sagt, der sei ihm gestohlen worden. Er hat nie in Deutschland | |
gearbeitet, hat also auch keinen Anspruch auf Sozialleistungen. | |
Die Beamten auf dem Amt sind zwar ungemein höflich und zuvorkommend, doch | |
letztendlich verweist uns jeder an die jeweils andere Stelle. Schließlich | |
verlassen wir das Amt ohne auch nur die kleinste Hoffnung auf Hilfe. | |
Giovanni setzt sich draußen auf die Steinstufen und bricht zusammen: Er | |
könne nicht mehr auf der Straße leben, sonst werde er sterben. Immer wieder | |
deutet er an, sich das Leben nehmen zu wollen. Schließlich überzeuge ich | |
ihn, in ein Krankenhaus zu fahren. | |
Einem Arzt in der Notaufnahme erzählt Giovanni von seiner völligen | |
Hoffnungslosigkeit, den drängenden Suizidgedanken. Schließlich erklärt der | |
Mediziner, dass ein Krankenhaus der falsche Ort für Giovanni sei, da aus | |
seiner Sicht die Obdachlosigkeit der ursächliche Grund für die lebensmüden | |
Gedanken seien. | |
Giovanni will schon aufstehen, um zu gehen, da schalte ich mich in das | |
Gespräch ein und sage, dass auch ein Obdachloser an einer Depression | |
erkranken könne, die nicht zwingend etwas mit seiner Wohnungslosigkeit zu | |
tun haben muss . | |
Doch der Arzt wiegelt ab. Nach längerer Diskussion erklärt er sich bereit, | |
Giovanni zu untersuchen – unter der Bedingung, dass ich ihn dusche, da | |
Giovanni in seinem Zustand dazu nicht in der Lage ist. Erst als ich | |
Giovanni in einem kleinen Bad der Notaufnahme wasche, kommt mir ein | |
verstörender Gedanke: Nur durch meine Anwesenheit bekommt Giovanni die | |
Chance, medizinisch untersucht zu werden. | |
Ich empfinde Empörung, denke aber zugleich: Wie häufig gehen wir weiter, | |
unternehmen nichts, wenn wir an einem auf dem Gehweg reglos ausgestreckten, | |
verwahrlosten Menschen vorübereilen. Der Mensch könnte betrunken sein, | |
höchstwahrscheinlich wird er schlafen – genauso könnte er aber auch einen | |
Herzinfarkt erlitten haben. Würde dieser Mensch einen Anzug tragen, wäre | |
die Reaktion wahrscheinlich eine andere. | |
Nach der Dusche untersucht der Arzt Giovanni. Er notiert in der Überweisung | |
für die Kollegen der Psychiatrie: schwere depressive Episode, Suizidalität. | |
Ich bin erleichtert, Giovanni wird stationär aufgenommen. | |
Bei meinem Besuch am nächsten Tag ist Giovanni völlig konsterniert. Anstatt | |
eines Arztes habe ihn eine Frau von der Kostenstelle des Krankenhauses | |
besucht. Sie habe ihm erklärt, dass er nicht lange bleiben könne. | |
Schließlich suche ich ein Gespräch mit dem Arzt. Auch er deutet an, dass | |
Giovanni nur kurz hier untergebracht werden könne, da die Kostenstelle | |
Druck mache. | |
Noch am gleichen Tag telefoniere ich mit der italienischen Botschaft, um | |
die Vorgehensweise für die Beantragung eines neuen Passes zu erfahren. Ich | |
werde mit einem Mitarbeiter der Abteilung für Soziales verbunden. Er | |
erklärt sich bereit, schon bald in die Klinik zu kommen, um Giovanni zu | |
beraten. Inzwischen recherchiere ich im Internet, dass die Caritas über | |
eine Krankenwohnung für Wohnungslose ohne Krankenversicherung verfügt – | |
wieder kommt Hoffnung auf. Sogleich rufe ich in der Krankenwohnung an. | |
An Giovannis Entlassungstag sitzen Giovanni und der Sozialberater von der | |
italienischen Botschaft in einem Besprechungszimmer der Station. Für die | |
Beantragung eines neuen Ausweises brauche Giovanni einen festen Wohnsitz, | |
erklärt der ungemein bemühte und verständnisvolle Sozialberater. | |
Er rät Giovanni, nach Italien zurückzukehren, da er dort Anspruch auf eine | |
kostenlose Krankenversorgung hätte. | |
Doch für Giovanni erscheint eine Rückkehr nach Italien keine Option, er hat | |
keinen Kontakt zu seiner Familie, sein Bekanntenkreis ist auf Berlin | |
beschränkt. Der Sozialberater übergibt Giovanni seine Visitenkarte, er | |
könne sich jederzeit bei ihm melden. | |
Nach dem Gespräch wird Giovanni aus dem Krankenhaus entlassen. Gemeinsam | |
fahren wir zur Ambulanz der Caritas. Die Ambulanz wird ehrenamtlich von | |
Krankenschwestern und Medizinern betreut. | |
Gleich nach der Untersuchung von Giovanni unterschreibt der Arzt ihm eine | |
Überweisung in eine Krankenwohnung. Allerdings stellt sich heraus, dass für | |
den heutigen Tag kein Platz mehr frei ist. Man bietet Giovanni an, dass er | |
die Nacht in einer der [4][Notübernachtungsstellen] verbringen könne. | |
Doch Giovanni wiegelt ab, er will zum Nollendorfplatz. Ich fahre ihn | |
dorthin mit dem Versprechen, gleich morgen wieder die Krankenwohnung zu | |
kontaktieren. Als ich am nächsten Morgen nach Giovanni sehe, ist er | |
verschwunden. Drei Tage suche ich nach ihm. Inzwischen meldet sich die | |
Krankenwohnung, dass sie zurzeit keine Kapazitäten für Giovanni hätten, da | |
viele Patienten mit psychischer Erkrankung aufgenommen wurden. | |
Immer stärker kommt bei mir die Befürchtung auf, dass Giovanni sich etwas | |
angetan hat. Aufgrund eines dringlichen Termins muss ich an diesem Tag nach | |
Hamburg, ein letztes Mal fahre ich zum Nollendorfplatz und finde Giovanni | |
zusammengekauert an der Bushaltestelle liegend. Er sagt, er habe sich | |
mehrmals an die Gleise der U-Bahn gestellt, er wolle sich umbringen. Er | |
habe es nicht über sich gebracht, aber er werde es wieder versuchen. | |
Giovanni ruft immer wieder zwei italienische Wörter: „O capitano! Mio | |
capitano!“ Später erklärt er mir, das habe er aus seinem Lieblingsfilm, | |
„Der Club der toten Dichter“. Nach dem Suizid eines Mitschülers und der | |
darauf folgenden Entlassung des geliebten Lehrers steigen die Schüler auf | |
ihre Tische und rufen: „Oh Käpt’n, mein Käpt’n!“. | |
Ich versuche, Giovanni zu beruhigen, doch nichts dringt mehr zu ihm durch. | |
Schließlich rufe ich einen Krankenwagen. Ich bitte die Sanitäter, Giovanni | |
nicht in das Krankenhaus zu fahren, in dem wir das letzte Mal waren. Sie | |
erwidern, das nächste Krankenhaus sei ohnehin woanders, dorthin würden sie | |
ihn auch fahren. Ich verabschiede mich von Giovanni und verspreche, gleich | |
nach meiner Ankunft in Hamburg im Krankenhaus anzurufen und mich nach ihm | |
zu erkundigen. | |
## IV. Atempause in der Psychiatrie | |
Als ich am Abend mit der Telefonzentrale des Klinikums telefoniere, habe | |
ich kaum Hoffnung, dass Giovanni aufgenommen wurde. Doch die Frau in der | |
Zentrale findet einen Giovanni mit dem richtigen Nachnamen und verbindet | |
mich auf die Station. Eine Schwester reicht das Telefon an Giovanni weiter, | |
er sagt: „Ciao, hier ist Giovanni.“ | |
Giovanni wird auf einer geschützten Station untergebracht und bekommt | |
intensive therapeutische Hilfe. Währenddessen entwerfe ich zusammen mit ihm | |
einen Flyer, in dem seine Situation geschildert wird. Wir formulieren eine | |
Bitte um eine Unterkunft für eine begrenzte Zeit – Giovanni hätte dann eine | |
Meldeadresse, mit der er einen Ausweis beantragen und sich beim Jobcenter | |
melden könnte. Ich verteile das Flugblatt an öffentlichen Plätzen, in | |
Kirchen und sozialen Einrichtungen, und poste es in den einschlägigen | |
sozialen Netzwerken. | |
Leider kam bis zum heutigen Tag keine einzige Rückmeldung. | |
Ich gehe mit Giovanni außerdem zu Sozialberatungsstellen wie dem | |
Frostschutzengel. Der uns dort zugewiesene Sozialarbeiter ist sehr | |
hilfsbereit und informiert uns unter Vorbehalt, da er auf osteuropäische | |
Länder spezialisiert ist, dass es zwischen Italien und Deutschland ein | |
spezielles Fürsorgeabkommen gebe. Hoffnung kommt auf, wir gehen zur Feier | |
des Tages in eine Pizzeria essen, die er aus besseren Berlin-Tagen noch in | |
Erinnerung hat. Giovanni erzählt mir, wie lange der letzte Restaurantbesuch | |
für ihn zurückliege. | |
Doch schon am nächsten Tag herrscht wieder völlige Ernüchterung: Wir | |
erfahren, dass das Fürsorgeabkommen der EU inzwischen stark eingeschränkt | |
wurde. Für Giovanni besteht keinerlei Möglichkeit, Sozialleistungen in | |
Deutschland zu beziehen. | |
Anfang Oktober wird Giovanni schließlich aus der Psychiatrie entlassen. Er | |
erhält Medikamente für drei Tage, gegen seine Depressionen und den hohen | |
Bluthochdruck, der auf längere Sicht lebensbedrohlich sei. | |
Meine Wohnsituation lässt es nicht zu, dass Giovanni bei mir unterkommen | |
kann. Er bittet mich, ihn zum Alexanderplatz zu fahren, um dort weitere | |
Flyer verteilen zu können. Da die Nächte immer kälter werden, schläft | |
Giovanni nun doch in den Notübernachtungen der Obdachlosenhilfe. | |
## V. Ernüchterung zu Weihnachten | |
Als ich Anfang Dezember für längere Zeit Berlin verlasse, beschleicht mich | |
ein Gefühl von Traurigkeit, der Gedanke nicht genug für Giovanni getan zu | |
haben. Wir schreiben uns fast täglich per Mail, Giovanni nutzt weiterhin | |
das Internet in den öffentlichen Bibliotheken. Vor Weihnachten habe ich | |
Giovanni ein Paket mit etwas Geld, Medikamenten und Lebkuchen geschickt. Da | |
er über keine Postadresse verfügt, wird es ihn über die ehrenamtlichen | |
Mitarbeiter vom Kälteschutz Mehringhof, einer Notunterkunft in der | |
Gneisenaustraße in Kreuzberg, erreichen. | |
An den Feiertagen besucht Giovanni die von vielen Ehrenamtlichen liebevoll | |
gestalteten Veranstaltungen für obdachlose Menschen. Die Silvesternacht | |
will er in einer Notunterkunft verbringen, da er sich vor den vielen | |
Betrunkenen in der U-Bahn fürchte. | |
Giovanni hofft für das neue Jahr, dass sich doch noch eine Möglichkeit | |
auftut, um nicht mehr länger auf der Straße leben zu müssen. Sein | |
bescheidener Traum für 2020: „Ich brauche nicht viel, nur ein kleines | |
Zimmer, damit ich einen Ausweis beantragen und Arbeit finden kann.“ | |
28 Dec 2019 | |
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