# taz.de -- Menschenrechte in Deutschland: Sammeldusche bis zum Ende | |
> Würdiges Wohnen ist im Grundgesetz garantiert. Viele Wohnungslose müssen | |
> aber Jahre in teils verwahrlosten Sammelunterkünften verbringen. | |
Bild: Ordentlich hat ein Wohnungsloser seine Habseligkeiten unter einer Brücke… | |
BERLIN taz | Seit zehn Jahren lebt Herr R. in einem Heim für wohnungslose | |
Menschen auf 12 Quadratmetern. Immerhin ein Zimmer hat er für sich allein. | |
Dusche, Toilette und Küche teilt sich Herr R. dagegen mit anderen | |
BewohnerInnen. Eine Wohnung, die er bezahlen kann, findet er trotz | |
jahrelanger Suche nicht. Um etwas Geld für sich zu haben, sammelt Herr R. | |
Flaschen. Er ist 81 Jahre alt. | |
Herr R. ist ein Fallbeispiel aus dem Menschenrechtsbericht, den das | |
Deutsche Institut für Menschenrechte seit vier Jahren jährlich an die | |
Bundesregierung übergibt. Die Situation wohnungsloser Menschen ist das | |
Schwerpunktthema des aktuellen Berichts und die Erkenntnisse der nicht | |
repräsentativen Untersuchung sind alarmierend: Viel zu lange leben immer | |
mehr Wohnungslose in Wohnheimen, in teils menschenunwürdigen Verhältnissen. | |
„Was ursprünglich als Übergangslösung konzipiert war, wird zunehmend zur | |
längerfristigen Unterbringungsform. Da müssen dann auch die Bedingungen in | |
den Unterkünften stimmen, was nicht immer der Fall ist. Hier muss | |
Deutschland nachbessern“, erklärte die Direktorin des Deutschen Instituts | |
für Menschenrechte, Beate Rudolf, bei der Vorstellung am Mittwoch in | |
Berlin. | |
Erster Kritikpunkt des Berichts aber ist die schlechte Datenlage: Weder | |
wissen wir genau, wie viele wohnungslose Menschen es in Deutschland gibt, | |
noch in welchen Umständen sie leben (müssen). Die im Bericht zitierten | |
Schätzungen bewegen sich zwischen 313.000 und 542.000 (Stand Mai/Juni | |
2018), davon bis zu 37 Prozent Frauen und bis zu 25 Prozent Kinder. Die | |
jüngste Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe liegt | |
mit [1][678.000 Wohnungslosen] noch deutlich höher. Frühestens ab 2022 ist | |
mit einer validen bundesweiten Wohnungslosenstatistik zu rechnen. | |
## An der Grenze zur Verwahrlosung | |
Als wohnungslos gilt in der politischen und wissenschaftlichen Debatte, wer | |
nicht über mietvertraglich abgesicherten Wohnraum oder Wohneigentum | |
verfügt. Die Lebenswirklichkeit wohnungsloser Menschen sieht dann so aus: | |
Ein Leben als ObdachloseR auf der Straße, Schlafen bei Verwandten oder | |
Freunden, im Wohnwagen oder aber – und das betrifft den größten Teil der | |
Wohnungslosen – die Unterbringung durch den Staat. | |
In Nordrhein-Westfalen, dem einzigen Bundesland mit fortlaufender | |
Wohnungslosenstatistik, wird der Anteil untergebrachter Wohnungsloser auf | |
70 Prozent geschätzt. Zwischen 2014 und 2018 hat sich die Zahl der dort | |
Untergebrachten auf über 30.000 verdreifacht. Betroffen sind auch Menschen, | |
die nach Abschluss ihres Asylverfahrens gezwungen sind, in einer | |
Gemeinschaftsunterkunft zu verbleiben, weil es schlicht nicht genügend | |
Wohnraum gibt. [2][Laut einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft | |
Wohnungslosenhilfe] aus dem November machen diese Geflüchteten [3][rund | |
zwei Drittel aller Wohnungslosen in Deutschland] aus. | |
Die Kommunen sind verpflichtet, unfreiwillig obdachlose Menschen | |
unterzubringen. Die sogenannte ordnungsrechtliche Unterbringung ergibt sich | |
aus den Ordnungs- und Polizeigesetzen. Wo und wie diese Menschen | |
untergebracht werden, ist dagegen gesetzlich nicht geregelt. So ist die | |
Bandbreite dem Bericht zufolge groß: von normalen Wohnungen bis hin zu | |
Mehrbettzimmern in Sammelunterkünften, von hygienisch einwandfrei bis an | |
der Grenze zur Verwahrlosung, von Anknüpfung ans Hilfesystem bis zu völlig | |
auf sich allein gestellt. | |
Nur in einzelnen Bundesländern gibt es verbindliche Mindeststandards an die | |
ordnungsrechtliche Unterbringung. Generell gelten für Not- oder | |
Wohnungslosenunterkünfte geringere Standards als für regulären Wohnraum, | |
weil es sich um ein Notversorgungssystem handelt, ausgelegt für eine | |
kurzfristige Überbrückung. | |
## Kranke haben es besonders schwer | |
Tatsächlich verbringen laut den für den Bericht befragten Expert*innen | |
wohnungslose Menschen aber in vielen Fällen Monate und Jahre in diesem | |
Notsystem, teilweise bis zu ihrem Lebensende. Auch Repräsentative | |
Befragungen in Hamburg und Baden-Württemberg ergaben, dass rund die Hälfte | |
der ordnungsrechtlich untergebrachten Menschen bereits länger als ein | |
beziehungsweise zwei Jahre in der Einrichtung waren. Der Hauptgrund dafür | |
liegt auf der Hand: die Diskriminierung wohnungsloser, geflüchteter und oft | |
auch psychisch erkrankter Menschen auf dem angespannten Wohnungsmarkt. | |
Im aktuellen Bericht zur Entwicklung der Menschenrechtssituation in | |
Deutschland wird außerdem kritisiert, dass einzelne Kommunen immer wieder | |
ihre Verpflichtung zur Unterbringung missachten. Insbesondere weil sie die | |
Unterbringung an einen sozialrechtlichen Leistungsbezug knüpfen und damit | |
etwa EU-Ausländer*innen ausschließen oder weil sie schlicht zu wenig | |
Unterbringungsplätze haben. | |
Für Frauen und Menschen mit Behinderung lassen die wenigen verfügbaren | |
Daten vermuten, dass bedarfsgerechte Unterkunftsplätze fehlen. Suchtkranke | |
und psychisch kranke Menschen landeten zwar oft in der ordnungsrechtlichen | |
Unterbringung, gehörten aber mit ihrem umfassenden Hilfebedarf gar nicht | |
hierher – die Herausforderung für Mitarbeiter*innen und andere | |
Bewohner*innen sind entsprechend hoch. Pflegebedürftige Wohnungslose lebten | |
oft unter menschenunwürdigen Bedingungen in Unterkünften, weil sie keinen | |
Zugang zum Pflegesystem haben. | |
Der Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte wirft die Frage auf, | |
ob die Praxis der ordnungsrechtlichen Unterbringung dem im Grundgesetz | |
zugesicherten Recht auf menschenwürdiges Wohnen entspricht. Die Autor*innen | |
beantworten die Frage vor dem Hintergrund der teils jahrelangen Wohndauer | |
klar mit Nein. Zur Einhaltung verfassungs- und menschenrechtlicher | |
Verpflichtungen könnten Bund und Länder nicht länger auf die Kommunen | |
verweisen, sondern seien selbst in der Pflicht, Mindestanforderungen an die | |
Unterbringung wohnungsloser Menschen beispielsweise in einem Modellprojekt | |
zu entwickeln. | |
„Dies ist aber nur ein Baustein, um die Situation wohnungsloser Menschen zu | |
verbessern“, so Direktorin Rudolf. „Ziel staatlichen Handelns sollte es in | |
erster Linie sein, Wohnungslosigkeit zu vermeiden beziehungsweise zu | |
überwinden und damit auch die Aufenthaltsdauer in der ordnungsrechtlichen | |
Unterbringung wieder zu verkürzen.“ Der Bundestag ist gesetzlich | |
verpflichtet, zum Bericht des Instituts Stellung zu nehmen. | |
4 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Wohnungs--und-Obdachlosigkeit/!5636956 | |
[2] https://www.bagw.de/de/presse/index~173.html | |
[3] /Wohnungs--und-Obdachlosigkeit/!5636956 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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