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# taz.de -- Erste Obdachlosenzählung in Berlin: Leute, schaut auf eure Stadt!
> Mehr als Statistik: Im Januar zählt Berlin erstmals die Menschen, die auf
> der Straße leben müssen. Freiwillige werden noch dringend gesucht.
Bild: Klaus-Peter Licht (oben) und sein Team organisieren Berlins erste Obdachl…
Die Tausendermarke wollen sie in dieser Woche knacken: Ein kleines Team
arbeitet in der Senatsverwaltung für Soziales seit dem 1. September daran,
Berlins erste Obdachlosenzählung vorzubereiten und dafür mindestens 2.000
Freiwillige anzuwerben. Es sitzt unter dem Dach der Verwaltung in bisher
ungenutzten Büros, die eher nach Start-up-Etage als nach Behörde aussehen.
Weißes Mauerwerk, viel Licht, die Wände vollgepinnt mit bunten Timelines
und kleinteiligen Stadtplänen, auf einem Flipchart die Zahlen: Anfang der
Woche sind es 847 Freiwillige, die sich über das Onlineportal angemeldet
haben. Es ist ein Projekt, das die Stadt verändern soll.
Spätestens seit den 1980er Jahren fordern Wohlfahrtsverbände und
Expert:innen, die Obdachlosen der Stadt genau zu erfassen. „Stattdessen
arbeiten wir bis heute mit zum Teil irrwitzigen Schätzungen zwischen 2.000
und 20.000 Betroffenen“, sagt Susanne Gerull, Armutsforscherin an der
Alice-Salomon-Hochschule und eine der Initiator:innen des Projekts.
Die Anzahl der Menschen ohne Wohnung soll in den Jahren des
Turbomietenmarktes stark gestiegen sein, aber Zahlen aus
Wohnungsloseneinrichtungen und Notunterkünften liefern dafür nur
Anhaltspunkte. Aus verschiedenen Gründen lebt ein Teil der Wohnungslosen
auch im bittersten Winter auf der Straße. Es gibt nur Vermutungen und
Einzelbeobachtungen, wie viele das sind, wie viele davon EU-Bürger:innen,
Frauen oder Familien und ob auch sie durch Bautätigkeiten oder Vertreibung
in die Außenbezirke verdrängt werden.
„Das ist ein Pilotprojekt, einmalig in Deutschland“, sagt Projektleiter
Klaus-Peter Licht. Beispielhafte Vorhaben gibt es vor allem aus
internationalen Großstädten, allen voran in New York und seit zwei Jahren
auch Paris. 1.700 Pariser:innen waren dort in der letzten „Nuit de la
Solidarité“ ehrenamtlich unterwegs, um die Obdachlosen der Stadt zu
erfassen. Die nächste Zählung wird quasi gleichzeitig mit der Berliner
stattfinden.
Dass das Berliner Projekt „Nacht der Solidarität“ heißt, macht deutlich,
dass Paris in vielerlei Hinsicht Vorbild ist. Doch es gibt einen
Unterschied, den „wir alle so nicht erwartet haben“, sagt Projektleiter
Licht: „Berlin ist fast neunmal so groß wie Paris.“ Allein der
Innenstadtring hat die Ausmaße der französischen Hauptstadt. Deshalb wird
man mindestens 2.000 Freiwillige brauchen, um die Zählung im ganzen
Stadtraum durchzuführen und nicht wie in New York nur an Hot Spots. 3.000
wären prima, 5.000 ein Traum, sagt Licht. Seit Ende Oktober ist die
[1][Website zur Registrierung] freigeschaltet.
## Nicht stören, nicht wecken
Mindestens 500 Teams sollen die Stadt in der Nacht des 29. Januar ablaufen.
In Zusammenarbeit mit Stadtteilpolitiker:innen und Streetworker:innen, die
ihre Kieze am besten kennen, werden die Touren geplant. Jedes Team soll aus
mindestens einem Profi der Obdachlosenarbeit, einem Studierenden und einem
Laien bestehen.
Mit Fragebögen in acht Sprachen werden sie nicht nur zählen, sondern auch
ein paar Fragen stellen: Geschlecht, Alter, Sprache, Dauer der
Obdachlosigkeit, Familie. Alle wird man auch bei der Zählung nicht
erreichen können. „Wer nicht gefunden werden will, wird auch nicht
gefunden“, sagt Licht. Verhaltensregeln für die Teams: Nicht stören, nicht
wecken, kein Gefahr eingehen.
Klaus Seilwinder hat selbst viele Jahre auf der Straße gelebt, heute ist er
in Obdachloseninitiativen aktiv und gibt Stadtführungen zu den Stationen
seiner Zeit auf der Straße. „Die Frau Breitenbach macht das ganz gut“, sagt
er zur von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) geplanten Zählung. Vor
allem die Tatsache, dass es Freiwillige, Menschen aus der Bevölkerung sein
sollen, die in der Nacht des 29. Januar nach Obdachlosen Ausschau halten
und mit ihnen ins Gespräch kommen, begeistert Seilwinder. „Da geht das
Thema den Leuten mal wieder wirklich durch den Kopf.“
Schon jetzt informierten die Hilfeeinrichtungen die Obdachlosen über die
Zählung. Er habe von Bedenken gehört, so Seilwinder. „Nach dem Motto: Dann
kennen die meinen Schlafplatz. Und das ist das Einzige, was du hast als
Obdachloser.“ Aber es gebe ja die Möglichkeit, sich in der Nacht der
Zählung in einer Hilfeeinrichtung aufzuhalten, um erfasst zu werden und den
Schlafplatz nicht preiszugeben.
## Nicht mehr wegschauen
In der Nacht der Zählung sollen auch die erfasst werden, die in
Wohnungsloseneinrichtungen schlafen. In Verbindung mit einer
Räumungsstatistik ergeben sich so die ersten belastbaren Zahlen zu Berlins
Wohnungs- und Obdachlosen und Erkenntnisse darüber, wer sich wo in der
Stadt aufhält. Die Zählung soll nur die erste von vielen sein, für mehr
Genauigkeit abwechselnd im Winter und Sommer durchgeführt. „Berlin wird auf
Grundlage der Zahlen seine Hilfs- und Beratungsangebote ausweiten und
spezialisieren“, verspricht die Sozialsenatorin. Aber das ist nur das eine.
„Diese Aktion ist im Kern eine zivilgesellschaftliche“, sagt Klaus-Peter
Licht. Ab 2015 hatte er die Arbeit der Ehrenamtlichen koordiniert, als die
damals zuständige Behörde angesichts hoher Flüchtlingszahlen zu kollabieren
drohte. „Da habe ich erfahren, was an zivilgesellschaftlichem Engagement
möglich ist und wie sehr das die Menschen verändert.“ Die Nacht der
Solidarität, sie sei auch dazu da, die Obdachlosen des eigenen Kiezes
kennenzulernen, vielleicht ein Startpunkt für mehr Engagement. „Auf jeden
Fall die Entscheidung, nicht mehr wegzuschauen“, sagt Klaus-Peter Licht.
In Frankreich mussten sie das Portal für die Freiwilligensuche nach zwei
Wochen schließen, weil so viele Pariser:innen dabei sein wollten. In Berlin
fehlen derzeit noch mehr als 1.000 Freiwillige für die erste „Nacht der
Solidarität“.
Freiwillige können sich unter
[2][berlin.de/nacht-der-solidaritaet/mitmachen] anmelden.
20 Nov 2019
## LINKS
[1] https://www.berlin.de/nacht-der-solidaritaet/mitmachen/
[2] https://www.berlin.de/nacht-der-solidaritaet/mitmachen/
## AUTOREN
Manuela Heim
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