# taz.de -- Mit dem Kältebus durch Berlin: Nur niemanden aufgeben | |
> Der Kältebus hilft denen, die im Winter draußen zu erfrieren drohen. Das | |
> würden immer mehr, sagt Mitbegründerin Karen Holzinger. | |
Bild: Der Kältebus bei Obdachlosen am Alex | |
„Ich habe nie so viele Menschen auf der Straße sterben sehen wie in den | |
letzten Jahren“, sagt Karen Holzinger, auf der Rückbank des blauen | |
Kältebusses sitzend, unterwegs zu einer Gruppe von Wohnungslosen am Alex. | |
Holzinger, eine aufgeräumte Frau um die Fünfzig, hat den Vergleich, denn | |
seit Jahrzehnten arbeitet sie für die Stadtmission in der | |
Wohnungslosenhilfe, zunächst in der City Station in Wilmersdorf. | |
Dann, 1994, hatte der erste bekannt gewordene Erfrierungstod eines | |
Obdachlosen Holzinger und ihren Kollegen Ulrich Neugebauer dazu bewegt, mit | |
einem ungenutzten Stadtmissions-Bulli die Stadt abzufahren. Zum | |
25-Jährigen durften nun auch Journalist*innen einmal auf einer solchen | |
„Tour“ mitfahren. | |
Damals wie heute gelte es mit dem Kältebus denjenigen Wohnungslosen | |
entgegen zu kommen, die sich aus eigener Kraft nicht mehr vor der | |
Winterkälte schützen können, erklärt Holzinger. Im Winter 2018/19 waren die | |
Kleinbusse 15.000 Kilometer durch Berlin gefahren und haben mehr als 2.000 | |
Menschen erreicht. | |
Wer nicht in eine der Notübernachtungen mitfahren will, wie Sascha, Nicole | |
und Sabrina, die sich in der S-Bahnunterführung am Alex eingerichtet haben, | |
bekommt durch die Kältebusteams zumindest ein heißes Getränk und bei Bedarf | |
einen Schlafsack. „Die Junkies kriegen alles, aber wir dürfen mit den | |
Hunden nicht in die Notübernachtung“, sagt der 29-jährige Sascha | |
unzufrieden. Die Wohnung, die ihm im vergangenen Jahr über die City Station | |
vermittelt wurde, hatte er nach neun Jahren auf der Straße nicht halten | |
können, erzählt der gebürtige Berliner. Ohne die Hunde wolle er nicht in | |
eine Notunterkunft. Sascha ist noch jung, pflegt sich, weiß sich auch im | |
Freien zu helfen und hat für den Notfall die Nummer des Kältebusses. | |
## „Fünf Hunde sind zu viele“ | |
„Fünf Hunde sind einfach zu viele, auch für das Hundezimmer in der | |
Notübernachtung“, erklärt Karen Holzinger in Bezug auf Sascha. Schon was | |
die Zahl an Menschen anginge, stünden die Einrichtungen an ihren | |
Belastungsgrenzen. | |
Von November bis April öffnet die Stadtmission drei | |
Kältehilfe-Einrichtungen. Ganzjährig geöffnet sind die Stationen in der | |
Charlottenburger Franklinstraße und am Containerbahnhof in Friedrichshain. | |
51.000 Übernachtungen zählte die evangelische Organisation im letzten | |
Winter. | |
Im letzten Vierteljahrhundert, meint Holzinger, habe sich die | |
Obdachlosigkeit in der Stadt in tragischer Weise entwickelt. Die Zahl der | |
Wohnungslosen sei durch die EU-Osterweiterung deutlich gestiegen. Der | |
Stadtmission zufolge stammen 75 Prozent der Betroffenen aus osteuropäischen | |
Ländern und hätten nur einen zweitklassigen Zugang zur medizinischen | |
Versorgung. | |
Insgesamt habe sich der physische Zustand der betroffenen Personengruppe | |
verschlechtert. Besonders lebensbedrohlich für Wohnungslose sei, wenn diese | |
ihre Beine verlieren und sich im Rollstuhl wiederfinden würden, meint | |
Holzinger. „Viele sagen ja, dass bei Obdachlosen schneller amputiert wird, | |
weil das preiswerter ist, als das Bein zu erhalten. Manchmal werden die | |
noch mit blutigen Wunden aus dem Krankenhaus entlassen. Und weil ihnen | |
später ja keiner aus dem Rollstuhl helfen kann, sitzen sie dann in ihrer | |
Scheiße.“ | |
Der Zustand mancher Gäste, die mit dem Kältebus oder auf anderem Wege in | |
der Notübernachtung ankommen, bringe die ehren- und hauptamtlichen | |
Mitarbeitenden dort an ihre Grenzen, hatte Holzingers Kollege Ulrich | |
Neugebauer schon vor Abfahrt des Kältebusses in der Notübernachtung Lehrter | |
Straße erzählt. | |
## Mehr Rollstuhlfahrer | |
Die Ehrenamtlichen in blauen Schürzen bereiten hier gerade das Abendessen | |
vor, etwa 40 vor allem männliche Gäste warten schon auf der schmalen | |
Kellertreppe auf den Einlass um 21.00 Uhr. Während die etwa 130 nächtlichen | |
Besucher*innen mit einem warmen Essen, mit medizinischer Hilfe, frischer | |
Wäsche und Schlafplätzen versorgt werden müssten, sei es oftmals unmöglich, | |
den Rollstuhlfahrenden beim Lösen von durch Blut und Eiter verkrusteter | |
Kleidung und beim Duschen zu helfen, erklärt der Leiter der Kältehilfe. | |
„Auch wenn unsere Ehrenamtlichen hochmotiviert sind, ist das nicht zu | |
schaffen. Vor zwanzig Jahren hatten wir so gut wie keinen Rollstuhlfahrer, | |
im vergangenen Jahr waren es 35.“ Viele davon sind in diesem Jahr nicht | |
mehr zu finden. „Wo sind die denn, warum sind die nicht mehr da?“, fragt | |
Neugebauer – und weiß, dass sie vermutlich zu Tode gekommen sind. | |
Eine etwas bessere Versorgung und ein leichterer Transport von | |
rollstuhlstuhlfahrenden Wohnungslosen wird für die Stadtmissionar*innen | |
neuerdings durch den neuen Ambulanzbus möglich, der seit diesem Jahr die | |
zwei Minibusse ergänzt. Das Fahrzeug ist durch eine Rampe barrierefrei und | |
enthält ein kleines Waschbecken mit fließendem heißen Wasser. Gespendet | |
wurde die mobile Ambulanz von einer Unternehmensstiftung. | |
„Es wird Zeit, dass sich auch die öffentliche Hand mehr an der Kältehilfe | |
beteiligt. Bis jetzt kommt das Geld fast ausschließlich durch Spenden“, | |
meint Ulrich Neugebauer. Etwa 100.000 Euro würden die drei Kältebusse im | |
Jahr kosten. Mit 17.000 Euro bezuschusst der Bezirk Neukölln das Projekt, | |
denn hier war vor 25 Jahren noch die Zentrale der Stadtmission angesiedelt. | |
Unterwegs sind die Busse aber in ganz Berlin. „Eigentlich sollte zumindest | |
die Hälfte der Kosten von der Stadt gedeckt sein“, findet Neugebauer. Einen | |
entsprechenden Antrag habe die Stadtmission nun beim Senat gestellt. | |
„Auch wenn viele der Menschen, mit denen wir arbeiten, sich schon | |
aufgegeben haben, möchten wir sie nicht aufgeben“, sagt Karen Holzinger am | |
immerhin noch 8 Grad kalten Alexanderplatz. „Vielleicht können sie ja doch | |
noch einmal etwas in ihrem Leben ändern. Aber das geht eben nur, wenn sie | |
vorher nicht sterben.“ | |
24 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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