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# taz.de -- Kältehilfe in Berlin: Ohne Ehrenamt kein Obdach
> Gegen das Erfrieren: Ohne den Einsatz ehrenamtlicher Helfer*innen sind
> die Noteinrichtungen für obdachlose Berliner undenkbar.
Bild: Ehrenamtlicher Arzt im Behandlungszimmer der Johanniter-Notübernachtung
„Schmalzstullen gibt es nur heute für die Presse.“ Am Tag vor der Eröffnu…
steht Christian von Wissmann im Essensraum der Johanniter-Notübernachtung
in Kreuzberg. Bereit für die Gäste, wie man sie hier nennt. Der
pensionierte Arzt ist einer von über 100 Ehrenamtlichen, die ab heute die
Einrichtung in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in der Ohlauer
Straße in Betrieb nehmen. Im Essensraum wird es dann jeden Abend und Morgen
halales Essen und mindestens ein vegetarisches Gericht geben.
„Es sind nicht nur viele Muslime, sondern auch immer mehr Vegetarier unter
den Obdachlosen“, sagt von Wissmann. Und Frauen. Und Familien. In den
oberen Etagen sind die 100 Betten schon frisch bezogen. In einem kleinen
Eckzimmer im zweiten Stock hat von Wissmann für sich und KollegInnen einen
Behandlungsraum eingerichtet.
Passend zu den Temperaturen, den ersten Nächten mit Minusgraden, beginnt
heute die Kältehilfesaison. Weit über hundert Einrichtungen und
Initiativen versuchen zu verhindern, dass Menschen auf Berlins Straßen
erfrieren. Jedes Jahr werden es mehr Angebote und Schlafplätze. So wie es
jedes Jahr mehr Obdachlose in der Stadt gibt. Wie viele genau, das weiß
niemand, zwischen 4.000 und 10.000, schätzen die Hilfsorganisationen. Im
Januar sollen sie erstmals gezählt werden (siehe Kasten).
## Unkonventionelle Hilfe
Die Johanniter betreiben zum zweiten Mal die Notübernachtung in der Ohlauer
Straße. „Die Gäste vom letzten Jahr fragen schon, wann wir endlich
aufmachen“, sagt Projektleiterin Marie Schneider. Das Besondere dieser
Einrichtung: Viele der ehrenamtlichen HelferInnen haben medizinische
Kenntnisse, die christlichen Johanniter kommen traditionell aus der
Krankenversorgung. Und medizinische Versorgung, das ist eines der
Hauptprobleme für Menschen, denen das harte Leben auf der Straße den Körper
und die Seele ruiniert. „Wir machen alles, was man vor Ort machen kann“,
erzählt von Wissmann.
Wenn der pensionierte Arzt in der letzten Kältehilfe-Saison mal nicht im
Haus war, dann beriet er per Messaging-App, wie eine Wunde am besten zu
versorgen sei. Regelmäßig wurden hier Fäden gezogen und Verbände
gewechselt, weil die Krankenhäuser obdachlose Patienten nach wenigen Tagen
auch „blutig“ entlassen. Nach der Krankenkassenkarte fragt in der Ohlauer
Straße niemand. „Unsere unkonventionelle Hilfe hat uns viele
Sympathiepunkte gebracht bei den Menschen, die sonst keinen Anspruch auf
Versorgung haben“, sagt Projektleiterin Schneider.
Möglich ist all das, ist fast die gesamte Kältehilfe nur durch das
Engagement von Ehrenamtlichen. „Wir bekommen auch Zuschüsse vom Bezirk,
aber das ist bei Weitem nicht auskömmlich“, heißt es von den Johannitern.
„Zum Glück kommen nicht nur die Obdachlosen, sondern auch die Helfer immer
wieder“, sagt Ehrenamtskoordinator Grzegorz Wierciochin. Viele seien
Mitglieder des Johanniterordens, RettungssanitäterInnen, Pflegekräfte,
„die manchmal zwischen zwei Nachtschichten noch einen Dienst in der
Notübernachtung schieben“. Aber es kommen auch Banker, Anwälte, Models,
Schüler, Studenten, viele Geflüchtete. Oder Nachbarn, die den Obdachlosen
aus dem Kiez beistehen wollen.
„Für viele ist das ein Perspektivwechsel von enormem Ausmaß“, sagt
Wierciochin. Die Arbeit in der Notunterkunft sei eine, die erde, aber auch
viele Fragen aufwerfe: warum man nicht mehr tun könne als nur Nothilfe,
warum Menschen in dieser Stadt überhaupt auf der Straße leben müssen. „Wir
geben hier den Raum, dass Leute ihre Sensibilität in die Arbeit mit den
Obdachlosen einbringen, aber auch solche Fragen reflektieren können“, sagt
Wierciochin.
Einen dieser sensiblen Helfer, die Wierciochin meint und von denen man auch
in dieser Saison dringend noch mehr brauche, verbindet eine besondere
Geschichte mit der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule. Einer der
Flüchtlinge, die ab 2012 das Gebäude aus Protest gegen die
Flüchtlingspolitik besetzt hielten, kehrte im vergangenen Winter in das
Haus zurück. „Er stand einfach da und hat gefragt: Was soll ich tun?“, so
Wierciochin. Der Mann habe sechs Jahre hier wohnen können, jetzt sei er da,
um zu helfen. In diesem Jahr ist der einstige Besetzer, noch immer ohne
Aufenthaltserlaubnis, wieder als Ehrenamtlicher dabei.
1 Nov 2019
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Obdachlosigkeit
Ehrenamt
Kältehilfe
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Wohnungslosigkeit
Obdachlosigkeit
Elke Breitenbach
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