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# taz.de -- Psychiatriepatienten auf der Straße: „Puffer für soziale Proble…
> Immer mehr Psychiatriepatienten ohne Wohnung – das könnte die
> Errungenschaften der modernen Psychiatrie gefährden, sagt Oberarzt Stefan
> Gutwinski.
Bild: Eine ehemals obdachlose Frau hat übers Pilotprojekt Housing First eine W…
taz: Herr Gutwinski, macht Obdachlosigkeit psychisch krank oder werden
psychisch kranke Menschen schneller obdachlos?
Stefan Gutwinski: Beides. Psychisch kranke Menschen trifft die Zuspitzung
der Wohnungssituation mit aller Härte. Im Zuge von Sanierungen verlieren
sie zum Beispiel schneller ihre Wohnungen. Und wer auf der Straße lebt,
wird häufiger seelisch erkranken.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich möchte von zwei Patienten erzählen. Ich hatte einen Menschen mit einer
Psychose in Behandlung, der jahrelang in einer Weddinger Wohnung gelebt
hat. Im Rahmen der Gentrifizierung ist das Haus saniert worden, es kamen
neue Mieter und es ist einfach nicht mehr toleriert worden, dass da einer
nachts laut war. Schließlich wurde ihm die Wohnung gekündigt. In dieser
Situation kam er zu uns in die Klinik. Wir konnten ihn gut stabilisieren,
er hat neue Medikamente bekommen und wollte die Klinik verlassen. Aber es
war klar, er kann nicht in die Wohnung zurück. Wir haben versucht, eine
Unterbringungsmöglichkeit zu finden. Aber es war erst mal kein Platz
verfügbar.
Also ist er auf der Straße gelandet?
Er hat sich selbst auf die Straße entlassen. Das hat dazu geführt, dass er
seine Medikamente abgesetzt hat, sich zunehmend bedroht fühlte, auffällig
wurde und mehrfach aufgegriffen wurde. Er kam noch einmal in verschiedene
Kliniken, aber sein psychischer Zustand ist inzwischen so schlecht, dass er
gar nicht mehr behandelt werden will. Da sage ich: Hätten wir für diesen
Menschen sofort einen vernünftigen Wohnplatz gefunden, dann wäre er
vermutlich stabil geblieben. Er hatte vorher in einer Behindertenwerkstatt
gearbeitet, davon ist er jetzt weit entfernt. Und ich weiß auch gar nicht
mehr, wie wir an ihn rankommen sollen. Theoretisch könnte man eine
Betreuung und eine Behandlung gegen den Willen veranlassen. Aber wieso
sollten wir ihn dem aussetzen, solange wir keine Perspektive für diesen
Menschen haben.
Gibt es in Berlin nicht vielfältige Angebote für psychisch Erkrankte?
Es gibt ganz viele exzellente Angebote für diese Menschen: Trägerwohnungen,
betreute Wohngemeinschaften, Übergangseinrichtungen. Aber die sind
inzwischen so ausgelastet – sie können ihre stabilisierten Patienten ja
auch teilweise nicht entlassen, weil sie keine Wohnungen finden. Zudem
verlieren diese Träger mittlerweile auch ihre Mietverträge.
Erzählen Sie von dem zweiten Beispiel …
Ebenfalls ein Patient mit Psychose, mit massiven paranoiden Ängsten.
Eigentlich ein positiver Fall. Er kommt zu Gesprächsangeboten und Gruppen
und nimmt regelmäßig Medikamente ein. Er hilft einem Verwandten in einem
Imbiss, seine Frau hat einen Reinigungsjob. Sie finanzieren sich selbst und
leben in einer Einzimmerwohnung, vielleicht 30 Quadratmeter, mit ihrem
inzwischen 13-jährigen Kind. Ich habe dort einmal einen Hausbesuch gemacht
und da war der Wohn- und Schlafraum geschlossen, der Mann und seine Frau
saßen in der Küche. Sie erzählten mir, dass sie sich jeden Tag zwischen 17
und 19 Uhr in die Küche setzen, damit ihr Kind einmal am Tag zwei Stunden
für sich hat. Ich kenne die Familie seit vier Jahren, so lange suchen sie
nach einer größeren Wohnung. Aber sie haben weder das Tempo noch die
finanziellen Ressourcen noch das Auftreten, dass ein Vermieter sie aus
Dutzenden Bewerbern auswählen würde. Ich glaube nicht, dass es das Kind
noch einmal erleben wird, mit den Eltern in eine 2- oder 3-Zimmer-Wohnung
zu ziehen.
Wie hoch ist der Anteil der obdachlosen Menschen in der Psychiatrie?
Meine Kollegin Frau Dr. Schreiter und ich haben bei uns im St.
Hedwig-Krankenhaus eine Befragung organisiert, die Wohin-Studie, die wir
jetzt auch auf der Konferenz vorstellen wollen (siehe Kasten). Dafür haben
wir 1.200 Patienten für ein Interview angesprochen und 540 haben
mitgemacht. 30 bis 35 Prozent waren wohnungslos, da sind aber auch Menschen
dabei, die zum Beispiel in Therapieeinrichtungen untergebracht sind oder
bei Bekannten wohnen. 10 Prozent waren obdachlos.
Mit welchen Problematiken kommen diese 10 Prozent?
Im Grunde zeigen sich alle psychiatrischen Erkrankungen, etwas häufiger
Suchterkrankungen, Psychosen und Depressionen. Das sind
behandlungsbedürftige Erkrankungen und diese Menschen gehören nicht auf die
Straße. Mehr und mehr Patienten in den psychiatrischen Kliniken sind
außerdem pflegebedürftig. Es ist schwer, einen Platz in einem Pflegeheim
für einen Menschen zu finden, der nicht nur pflegebedürftig, sondern auch
psychisch erkrankt ist. Auch das ist Teil der Verdichtung in dieser Stadt.
Was ist deren Perspektive? Sie können ja einen pflegebedürftigen Menschen
nicht im Pflegebett auf die Straße rollen…
Häufig bedürfen diese Menschen in erster Linie intensiver Therapie.
Ungeachtet dessen kostet es uns aber inzwischen auch enorme Ressourcen, für
diese Patienten einen Wohnplatz zu finden. Dies ist in den letzten Jahren
zunehmend schwieriger geworden und stellt uns immer häufiger vor eine
nahezu unlösbare Aufgabe. Es ist ja nicht so, dass wir uns für diese
Patienten nicht zuständig fühlen wollen. Aber die Zuständigkeit muss auch
Grenzen haben, ein ausreichend stabilisierter Mensch gehört nicht in die
Klinik. Wir wollen niemanden hospitalisieren und wir müssen uns auch den
vielen anderen akuten Patienten widmen können.
Wie unzufrieden sind Sie und Ihre Mitarbeiter?
In meiner Klinik ist die Zufriedenheit sehr hoch. Aber das was Patienten in
der Psychiatrie gesund macht, ist Zeit für Therapie, Zeit für den Aufbau
von Beziehung und Vertrauen. Wenn diese Zeit fehlt, weil wir zunehmend zum
Puffer für soziale Probleme in dieser Stadt werden, ist das das Gegenteil
von dem, wofür wir stehen. Hier im Sankt Hedwig-Krankenhaus wurde das
Weddinger Modell entwickelt, ein innovatives Psychiatriekonzept: Behandlung
auf Augenhöhe, die Patienten nehmen an allen Besprechungen teil, in denen
das Team über sie spricht, Home-Treatment, Patientenverfügungen und so
weiter. Aber dafür braucht es Zeit und die Patienten brauchen ein Zuhause,
um gesund zu werden.
Welche Forderungen stellen Sie als Psychiater an die Politik?
Es gibt einfache Lösungen: Housing First zum Beispiel, mit dem der Senat
gerade begonnen hat. Dabei wird obdachlosen Menschen Wohnraum ohne
Vorbedingungen zur Verfügung gestellt. Und dann erst kommen die
Therapieangebote. Das hat sich international bewährt und ist das Erste, was
wir in ausreichender Zahl brauchen. Das bringt dem ganzen System Entlastung
und wir könnten wieder guten Gewissens obdachlose Patienten, die
ausreichend stabil sind, aus der Psychiatrie entlassen. Gleichzeitig
brauchen wir mehr sozialen Wohnraum und einen angemessenen
Personalschlüssel in der Psychiatrie.
Sind Sie für oder gegen Maßnahmen wie den Mietendeckel?
Lassen Sie es mich so formulieren: Der derzeitige Mietmarkt ist so
dereguliert, dass psychisch kranke und arme Menschen am stärksten von der
Wohnungsnot betroffen sind. Und alle sozialen Maßnahmen, die es den
Betroffenen einfacher machen, angemessenen Wohnraum zu finden und damit
auch eine Berufstätigkeit und ein Aufwachsen der Kinder in einem stabilen
Umfeld ermöglicht, sollten ernsthaft diskutiert werden.
Wie dringlich ist das aus Ihrer Sicht?
Wir müssen uns klarmachen: Wir stehen jetzt an einem Punkt, an dem New York
in den 1950er/60er Jahren stand. Eine Verdichtung des Wohnraums bringt
viele soziale Probleme mit sich. Wir bringen bei unserer Konferenz die
wichtigsten Akteure im Feld zusammen. Denn jetzt haben wir noch die
Möglichkeit einzugreifen.
24 Sep 2019
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
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