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# taz.de -- Politik und Psychotherapie: Rechts im Stuhlkreis
> Unser Autor arbeitet als Psychiater in Brandenburg und trifft öfter auf
> Patienten mit rechter Gesinnung. Wie soll er als Therapeut damit umgehen?
Bild: Was tun, wenn die Diskussionen um Thor-Steinar-Klamotten den Stuhlkreis s…
Frau Hüther ist seit einigen Tagen bei uns in Behandlung. Sie ist Anfang
50, leidet an einer Depression und an einer Persönlichkeitsstörung, wegen
der sie seit mehreren Jahren arbeitsunfähig und berentet ist. Sie ist
bereits zum dritten Mal bei uns. In den Gruppengesprächen klagt sie über
die Arbeitsbelastung an ihrem letzten Arbeitsplatz, über die „betrieblichen
Umstrukturierungen“ und dass sie es irgendwann nicht mehr geschafft habe.
Traurig blickt sie dann auf den Boden.
Mir ist Frau Hüther sympathisch. Sie ist ein leutseliger Mensch, kann die
anderen sehr genau spüren, vermag es, mit jedem hier in der Klinik
Anknüpfungspunkte für eine Plauderei zu finden. Sie begibt sich gerne unter
Menschen, mit einer Sehnsucht, die ich auch von mir selbst kenne, als wären
die anderen eine wohlige Decke, mit der sie sich umhüllen kann.
Doch jetzt, da sie traurig auf den Boden blickt, hat sie keine Decke. Sie
kommt mir sehr einsam vor. In die Ecke gedrängt, zu einem wehrlosen Opfer
ihrer Lebensgeschichte gemacht. Ich denke an ihren strengen und
gewalttätigen Vater, dem sie immer alles recht machen will und dem sie nie
recht genug ist.
Und dann bricht ihre Stimme um, wird laut und wütend. Frau Hüther spricht
über den „entfesselten Kapitalismus“ und darüber, dass es doch heute nur
noch um Profit gehe. Sie macht sich Sorgen um ihre zwei Kinder, in was für
einer Welt sie aufwachsen würden. Man müsse etwas dagegen tun, wir alle,
und dabei blickt sie in die Runde. Je länger sie spricht, desto mehr redet
sie sich in Rage. Mir gelingt es nicht, die Lücke zwischen ihren Worten zu
finden, um sie aus ihrem Monolog herauszureißen.
## Wo ist die Grenze?
Ich habe über sechs Jahre Medizin studiert und befinde mich seit drei
Jahren in meiner klinischen Ausbildung zum Psychiater und
Psychotherapeuten. In meiner Ausbildung habe ich gelernt, politische
Diskussionen aus der [1][Psychotherapie] herauszuhalten. Wir behandeln
Menschen unabhängig von kultureller Herkunft, Alter, Geschlecht, sexueller
Orientierung und eben auch politischer Gesinnung.
Und wir behandeln Menschen in Lebenskrisen – nicht das gesellschaftliche
System. Deshalb haben auch Diskussionen hierüber in der Psychotherapie
streng genommen nichts zu suchen. Doch in der Praxis ist das gar nicht so
einfach – in Wahrheit wirken politische Ansichten immer wieder latent in
die Therapie hinein. Aber wo ist die Grenze, die ich ziehen muss?
So ertappe ich mich dabei, dass ich den Gedanken Frau Hüthers folge und
insgeheim zustimme: Alles, was sie sagt, passt für mich aus meiner linken
Perspektive zusammen und ich fühle mich mit ihr diesseits meiner
therapeutischen Rolle verbunden – bis sie auf einmal sagt: „Und dass unsere
deutsche Geschichte nur wegen dieser zwölf Jahre so schlecht sein soll und
wir deswegen nicht stolz auf sie sein dürfen, das ist doch eine
Schweinerei!“
Nach diesem Satz, den sie viele Monate vor Gaulands „Vogelschiss-Zitat“ in
unserer Gruppentherapie ausspricht, muss ich sie unterbrechen. Während ein
paar Mitpatient*innen nickend ihre Zustimmung zu Frau Hüther signalisieren,
schreite ich ein: „So, Frau Hüther, ich glaube, wir sollten jetzt hier
nicht über politische Ansichten debattieren. So was gehört nicht hierhin.
Bleiben Sie bitte bei sich.“
Während ich innerlich noch überlege, wo „so was“ denn eigentlich hingehö…
und Frau Hüther mich erbost anblickt, stelle ich eine typische
Therapeutenfrage an die Gruppe: „Kennen denn andere hier auch solche
Situationen, in denen sie sich durch die Erwartungen anderer überfordert
fühlen und sie immer denken, sie müssten es allen recht machen?“
## Politische Gesinnung, die die Gespräche bestimmt
Zu meiner Erleichterung nimmt das Gespräch eine andere Richtung. Es fällt
mir schwer, die weitere Gruppenstunde zu leiten. Innerlich bin ich
aufgebracht und lege mir Argumente gegen die Verharmlosung der Nazizeit
zurecht.
[2][In den Brandenburger Kliniken, in denen ich bislang tätig war, haben
wir es immer wieder mit Patient*innen zu tun, deren Gesinnung im Verlaufe
der Therapie die Gespräche bestimmt]. Frau Hüther ist nur ein Beispiel, an
dem sich zeigen lässt, wie schwer es uns fällt, damit umzugehen. Um sie als
Person nicht identifizierbar zu machen und das Arztgeheimnis zu wahren,
habe ich ihren Namen und wenige Details geändert.
Einige Tage später schaue ich aus dem Fenster meines Büros. Draußen im
Hinterhof diskutieren Patient*innen miteinander. Frau Hüther redet auf die
anderen ein, ich kann nicht genau verstehen, was sie sagt. Die meisten
nicken, manche runzeln die Stirn. Wenn ich jemanden bei uns aufnehme, sage
ich gerne: „Unser therapeutisches Team macht nur einen Teil der Arbeit. Den
fast wichtigeren Teil machen Sie miteinander, in den Pausengesprächen, wenn
Sie sich über Ihre Krisen austauschen. Da sind wir ganz raus.“
Dass wir da ganz raus sind, ist banal, denn natürlich geht es uns nichts
an, worüber sich unsere Patient*innen in ihren privaten Pausengesprächen
unterhalten. Andererseits sind genau diese ungezwungenen Pausengespräche
Teil dessen, was man in der Psychiatrie als „Milieutherapie“ bezeichnet.
Damit ist nicht die Herkunft der Patient*innen gemeint, sondern das
Setting einer Einrichtung und die alltäglichen Aktivitäten, etwa das
gemeinsame Kaffeetrinken oder die Zigarettenpausen, in denen kein
ausdrückliches therapeutisches Ziel verfolgt wird. Dieser institutionelle
Alltag vermittelt Stabilität und sozialen Austausch und trägt so zur
Genesung der eigenen Lebenskrise bei, zugleich bauen die weiteren Therapien
immer auf diesem Alltag auf.
## Als Therapeut bin ich da raus
Im Gespräch im Hinterhof, so viel kann ich verstehen, geht es um die
„Flüchtlingskrise“; dieses Wort schnappe ich neben den Worten „Merkel“…
„AfD“ von meinem Büro aus auf. Wenig später erfahre ich von einer Kollegi…
dass Frau Hüther Mitglied der AfD ist. Mein Bauch zieht sich zusammen. Ich
fühle, was ich ja eigentlich wusste: Nicht nur in der Selbsthilfe zwischen
den Betroffenen, sondern auch in den politischen Gesprächen zwischen den
Therapien bin ich als Therapeut ganz raus, das geht mich nichts an. „Pause
ist ja Pause – was da geredet wird, können wir nicht vorschreiben“, sage
ich mir und habe zugleich das Gefühl, dass uns gerade etwas entgleitet.
Denn natürlich geht es uns etwas an, wenn jemand agitiert und sich eine
Stimmung in unserer Klinik ausbreitet, die die Therapie der anderen
Patient*innen erschwert. Beklemmung überkommt mich, Wut auf Frau Hüther und
die Situation. Gedanken steigen in mir auf – „Warum ist die überhaupt da?�…
„Warum braucht die unsere Hilfe?“ oder: „So krank kann sie ja nicht sein,
wenn sie hier herumschwadroniert!“ Dabei weiß ich, dass sie wie jeder
andere Mensch Anspruch auf therapeutische Hilfe in Not hat.
Zwei Tage später trägt Frau Hüther ein T-Shirt von Thor Steinar. [3][Thor
Steinar ist eine rechtsextreme Kleidungsmarke], die sich mit ihren Zeichen
und Slogans geschickt an der Grenze zu verfassungsrechtlich verbotener
Symbolik bewegt. Thor-Steinar-Kleidung sehen wir hier gelegentlich, ein
Patient erklärte mir einmal, die Stücke seien „einfach gut verarbeitet“.
Das klingt harmlos, dabei stehen auf den T-Shirts und Pullis Sprüche wie
„Ich bin einer von denen, die schon länger hier leben“, „Für die Sippe,…
die Heimat“, „Mein Land, meine Regeln“, meist versehen mit Reichsadler,
Wehrmachtszeichen oder Thors Hammer.
Auf dem T-Shirt von Frau Hüther posiert ein muskelbepackter Mann mit langem
Bart und Hammer in der Hand. Darunter steht: „Dein Gott wurde ans Kreuz
genagelt, mein Gott hat einen Hammer!“
Ich spreche das bei einer unserer Teamsitzungen an. Das Team besteht neben
Ärzt*innen aus Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Pfleger*innen,
Ergo- und Physiotherapeut*innen. Die Marke ist im Team nicht allen bekannt,
das T-Shirt von Frau Hüther ihnen zum Teil gar nicht aufgefallen. Reagiere
ich überempfindlich auf die Patientin, suche nach Punkten, die mich an ihr
und ihrer politischen Gesinnung stören? Vermische ich die Thematik
künstlich mit unserem therapeutischen Auftrag?
## Die Debatte im Team
Darüber sprechen wir, und alle stimmen schließlich darin überein, dass ich
die Patientin auffordern soll, Kleidung dieser Marke nicht in unserer
Klinik zu tragen. In ähnlichen Situationen gab es damit bislang keine
Probleme. Meist reagierten die Patienten mit Äußerungen wie „Keine Angst,
ich mach hier keinen Krawall“ oder „Dass Thor Steinar rechtsradikal ist,
ist ein totales Missverständnis – aber klar, dass Sie mir das dann
verbieten müssen.“ Sie ließen die Kleidungsstücke dann aber zu Hause.
Frau Hüther dagegen weigert sich. Thor Steinar sei verfassungsrechtlich
nicht verboten und sie dürfe anziehen, was sie wolle. Sie schreibt auch
einen Brief an die Klinikleitung, verweist auf Marken, die angeblich
Linksradikale und Randalierer tragen – die müsse man dann auch verbieten.
Im Team beginnt eine intensive Debatte. Die Meinungen gehen teils weit
auseinander und doch habe ich manchmal das Gefühl, dass sich im Kreis der
Kolleg*innen politische Auseinandersetzungen leichter führen lassen als in
der Arbeit mit unseren Patient*innen. Ich bin jedenfalls für ein striktes
Verbot der Marke. Andere meinen, man solle Frau Hüthers Kleidungsstil
ignorieren, um ihr die Bühne zu nehmen.
Immer wieder kommt im Team und den Supervisionen aber auch die Frage auf:
„Worum geht es hier eigentlich?“ Ist der Streit um die Marke nicht ein
Nebenschauplatz? Lenkt die Patientin bewusst oder unbewusst von ihren
eigentlichen Krisenthemen ab, also dem Verhältnis zu ihrem Vater oder der
Trauer um ihren verlorenen Arbeitsplatz oder auch davon, dass sie sich
selbst in ihrem Leben immer wieder als Opfer der Umstände empfindet?
## Konsequent darauf ansprechen
Überfrachtet sie diesen Opferstatus, indem sie sich als Teil jener Gruppe
„redlicher Deutscher“ definiert, die vom Staat und dem „System Merkel“
manipuliert, angefeindet und schließlich mit der angeblichen
„Flüchtlingswelle“ in ihrer Existenz bedroht werde? Fordert sie das
Kleidungsverbot heraus, um auch hier zum Opfer oder sogar zur Märtyrerin
für die rechte Sache zu werden?
Wir einigen uns darauf, der Patientin ihre Kleidung nicht zu verbieten, sie
aber in den Therapien konsequent darauf anzusprechen und kritisch nach dem
Zusammenhang ihrer politischen Botschaften mit ihrer konkreten
Lebenssituation zu fragen.
In einigen Gesprächen gelingt das. Frau Hüther wird zugewandter. „Endlich
verurteilt mich jemand mal nicht für das, was ich denke, und hört mir zu“,
sagt sie. Wir sprechen mit der Patientin über ihre Kindheit, ihren strengen
Vater, seine Leistungserwartungen und seine Prügelstrafen, wenn sie etwas
falsch gemacht habe. Frau Hüther erzählt aufgewühlt von ihren späteren
Erfahrungen mit der Stasi und von der beruflichen Umschulung nach der
Wende, als ihr früherer Abschluss nicht anerkannt wurde.
Immer wieder kommt mir dabei das Konzept des autoritären Charakters der
Frankfurter Schule in den Sinn, das allerdings in der heutigen Psychiatrie
kaum mehr verwendet wird, was ich falsch finde. Die Entwertung eigener
Bedürfnisse und Fähigkeiten sowie die Unterwerfung gegenüber der
elterlichen, später staatlichen Autorität scheint mir bei Frau Hüther diese
seltsame Mischung zu erzeugen: Einerseits der mal versteckte, mal offene
Hass gegen alles Fremde, „die Ausländer“, „die da oben“, andererseits
dieser starke, fast kindliche Wunsch nach Anerkennung und Verbundenheit, im
Zeichen einer vermeintlich tieferliegenden Autorität – „wir Deutschen“.
Dieses Muster erkenne ich bei vielen meiner Patient*innen wieder.
## Die Ästhetik der Runenschrift
Auch hier zeigt sich, dass der Anspruch aus meiner Ausbildung, zwischen
Politik und Therapie zu trennen, in der Praxis kaum aufrechtzuerhalten ist:
Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass eine autoritäre Erziehung eher
zu rechten politischen Einstellungen führt. Frau Hüther scheint mir dafür
ein gutes Beispiel zu sein.
Trotz dieser Fortschritte habe ich aber ein ungutes Gefühl. Mein Eindruck
ist, dass wir, auch wenn wir der Patientin therapeutisch helfen und wir sie
besser verstehen, zugleich ihre Sehnsucht nach einer homogenen und innigen
Gemeinschaft insgeheim doch befriedigen. Sie sieht in uns nun Verbündete,
die wir nicht sind. Und obwohl wir die Patientin kritisch auf ihre
politische Agenda im Hinterhof angesprochen hatten, führt sie diese nun
lediglich subtiler fort; etwa indem sie nur noch mit Einzelnen spricht oder
das Thema Einwanderung scheinbar beiläufig in Diskussionen einfließen
lässt.
Auch versucht sie, Mitpatient*innen die Ästhetik der Runenschrift oder der
nordischen Mythologie nahezubringen, was ich ebenfalls als politische
Strategie empfinde. Ich frage mich, ob sie auf der Suche nach Mitgliedern
für ihre Partei ist, die AfD. Aber da ich nicht den ganzen Tag den
Gesprächen im Hinterhof lauschen und meinen Patient*innen
hinterherspionieren will, kann ich das nicht sicher sagen. Ich versuche,
das zu verdrängen.
Doch es gelingt mir nicht. Frau Hüther und die Debatten im Team strengen
mich an. Ich hatte anfangs Sympathien für die Patientin und ihre Situation,
im wörtlichen Sinne des Mit-ihr-Leidens (altgr.: sym-páthein), das in
meinen Augen für jede therapeutische Arbeit nötig ist. Jetzt stößt mich ihr
politisches Denken ab und wirft finsteres Licht auf nahezu alles, was sie
sagt.
## Unterschied zwischen Arzt und Psychotherapeut
Hier wird der Unterschied zwischen ärztlicher und psychotherapeutischer
Arbeit deutlich: Um einen Menschen körperlich zu untersuchen oder zu
behandeln, spielt das Mit-leiden-Können der Ärztin streng genommen keine
Rolle. Um einen Menschen aber in seiner Depression psychotherapeutisch zu
behandeln, ist die therapeutische Beziehung der entscheidende Wirkfaktor –
und wenn sich diese Beziehung aufgrund politischer Gefühle und Antipathien
der Beteiligten nicht aufbauen kann, geht die Therapie kaputt.
Alles verbindet sich. Frau Hüther steht für eine Entwicklung, die ich mit
meinem Privileg als weißer Großstadtakademiker bisher so leicht verdrängen
konnte, indem ich die Nachrichtenseite im Browser einfach wegklickte oder
weil ich mich in ganz anderen Kreisen bewegte. Frau Hüther erschließt mir
eine ganze Atmosphäre, die eigentlich schon lange da war, die mir jetzt
aber bewusst wird.
Auf der Zugfahrt nach der Arbeit sehe ich, wie zwei Neonazis miteinander
Freundschaft schließen. Sie hören gemeinsam über einen kleinen Lautsprecher
Musik: „Wir sind gewaltbereite Neonazis und wir kommen in deine Stadt …!“
Alle hören mit, niemand sagt etwas.
Auch ich bin zu erschöpft von einem langen Arbeitstag. Irgendwann traue ich
mich doch, stehe auf und sage: „Eure politische Gesinnung finde ich zum
Kotzen.“ Einer der beiden antwortet: „Jedem das Seine.“ Der Satz, der am
Tor des KZ Buchenwald stand. Mit Herzklopfen verlasse ich das Abteil.
## Neonazis in der Rettungsstelle
Neonazis kommen immer wieder in die Rettungsstelle unseres Krankenhauses,
auf der ich als Psychiater regelmäßig Nachtdienste machen muss. Ein paar
Tage nach der Zugfahrt etwa wird ein junger Mann von der Polizei gebracht,
der im Streit mit seiner Freundin seine Wohnung zerlegt hat. Jetzt sitzt er
mir mit feurigem Blick auf der Untersuchungsliege gegenüber. Er trägt ein
Baseballcap mit der Aufschrift „88“ und, wie ich bei der Untersuchung sehe,
ein kleines Hakenkreuz knapp unter seiner Unterhose.
Er sieht, dass ich es sehe, mustert mich. Ich denke an die Neonazis im Zug
und sage nichts. Ich bin froh über meinen weißen Kittel: Als Arzt soll ich
eine „akute Selbst- oder Fremdgefährdung“ aufgrund einer psychischen oder
körperlichen Erkrankung ausschließen. Diese Aufgabe fülle ich gemäß dem
ärztlichen Berufsethos und den rechtlichen Vorgaben aus. Meine Gefühle als
Psychotherapeut spielen dabei keine Rolle. Nachdem ich eine Erkrankung
ausschließen kann, bin ich erleichtert, als der Patient die Rettungsstelle
wieder verlässt.
Einige Tage später, wieder eine Sitzung mit der Gruppe, zu der auch Frau
Hüther gehört. Gemeinsames Singen steht an, alle dürfen etwas vorschlagen.
Frau Hüther will, dass wir die Nationalhymne singen. Es kommt mir vor wie
ein schlechtes Skript. Ich und meine Kolleg*innen blicken uns ratlos an.
Ich denke an unsere Diskussionen, daran, dass wir das Politische
therapeutisch verwerten wollen, anstatt Therapie zu Politik zu machen. Aber
ich kann das nicht. Ich habe genug.
„Ich will dieses Lied jetzt nicht mit Ihnen singen“, sage ich und schlage
ein anderes Lied vor. „Aha. Na gut!“, antwortet sie, gekränkt, aber doch
so, als hätte sie es schon erwartet. Der Vorfall zieht seine Kreise. Frau
Hüther macht ihrem Ärger zwischen den Therapien bei den Mitpatient*innen
Luft.
## „Es ist alles ein System“
Gruppentherapie. Wir sitzen im Kreis, Schweigen schon bei der
Themenfindung. „Woher kommt das Schweigen heute?“, fragen mein Kollege und
ich, dabei ahnen wir es schon. Irgendwann packt Frau Hüther aus:
„Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Es ist alles ein System, früher in
der DDR wie heute, früher die Stasi und die SED, heute der
Verfassungsschutz, die Regierung und die Medien, die uns alle manipulieren
und vorschreiben, was wir denken sollen. Ich dachte, hier in der Klinik, da
wäre das noch erlaubt. Aber selbst hier dürfen wir nicht sagen, was wir
denken, obwohl es uns doch schlecht geht und wir Hilfe brauchen! Selbst
hier gelten schon diese Verhältnisse. Ich fühle mich verzweifelt, müde und
erschöpft. Aber man erlaubt mir meine Verzweiflung nicht, nicht einmal
hier. Das alles darf ich ja nicht sagen, weil ich mich mit mir beschäftigen
soll. Aber das beschäftigt mich doch! Und dann haben Sie uns auch noch die
Nationalhymne verboten, aber sie ist doch unsere Hymne!“
Eine jüngere Patientin stimmt Frau Hüther zu: „Die Nationalhymne haben wir
sogar in der Schule gelernt! Soll die jetzt auch noch verboten sein?“
Dann wieder Frau Hüther, bestärkt: „Stattdessen kommen die Flüchtlinge
hierher, und alles, was Deutsch ist, ist auf einmal nicht mehr erlaubt.
Weihnachtsmärkte heißen jetzt Wintermarkt.“ Das ist längst widerlegt, aber
taugt offenbar als ideologische Munition.
Ein anderer Patient sagt: „Im Supermarkt habe ich einen Ramadan-Kalender
gesehen! Bald ist das hier nicht mehr unsere Heimat.“ „Genau“, antwortet
Frau Hüther, „aber das darfst du bloß nicht sagen, weil dann, dann nennen
sie dich gleich Nazi, dann kommt gleich die Nazikeule!“ Das Wort
„Nazikeule“ kostet sie aus.
Alle Patient*innen im Raum nicken. Frau Hüther ist in ihrem Element. „Ja,
da fühle ich mich so schlecht und traurig, dass man die Politik nicht
ändern kann …“ Es wird einen Moment still. Als hätte Frau Hüther diesen
Moment einkalkuliert, spricht sie nach einer Pause weiter: „Aber man kann
die Politik ändern. Wir alle können etwas tun. Und deswegen bin ich in
meiner Partei.“
## Wie konnte das passieren?
Wie konnte uns diese Therapiestunde nur so entgleiten? Ich erlebe mit, wie
machtvoll dieses Narrativ ist – die Fremden, die da oben, die böse
Regierung, der Staat und wir da unten, wir Opfer, hilflos, aber stolz und
edel, die wir zugleich Opfer bringen, für die gute Sache, für sie
miteinander vereint. Frau Hüther hat alle um sich geschart.
Ich hingegen komme mir gefangen vor in meiner therapeutischen Rolle. Ich
möchte schreien, Frau Hüther Wort für Wort ihre politischen Äußerungen
zerlegen. Ich ertrage es nicht, in dieser Situation „therapeutisch
abstinent“ zu sein, in nachdenklicher Therapeutenpose, mit überkreuzten
Beinen mich auf Lehrbuchfloskeln wie „Aha, was fühlen Sie, wenn Sie das so
hören?“ oder „Was löst das bei den anderen aus?“ zu beschränken. Das k…
mir sinnlos vor. Denn ich bin nicht nur Therapeut, ich bin ein Mensch und
ein politisches Wesen. Wie therapeutisch kann Abstinenz sein, wenn ich mich
in der Therapie nicht als mich selbst zu erkennen gebe – und eben auch
entsprechende Grenzen markiere?
Schließlich wird es wieder still. Die Gruppe scheint unsere Ratlosigkeit zu
bemerken und auf eine Antwort zu warten. Wir erklären, dass wir diese
politischen Ansichten nicht teilen und dass wir auch nicht möchten, dass
sie hier geteilt werden. Wir wollen ihnen ihre Ansichten nicht verbieten,
aber wir lehnen es ab, sie zum Teil der Therapie zu machen. Denn Therapie
heißt für uns „Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben“ und nicht mit der
Politik. Die Diskussion geht daraufhin noch weiter, insgesamt löst sich die
Situation in der Sitzung jedoch einigermaßen.
## Kein Nebenschauplatz
Abfinden kann ich mich aber nicht damit, dass das Therapeutische nicht
politisch sein soll. Gerade weil diese Trennung so unscharf ist, macht es
mir den Umgang mit Frau Hüther so schwer. In jeder Begegnung muss die
Trennung neu verhandelt werden. Und in einer jeden solchen Verhandlung
werde ich, werden wir zur Zielscheibe ihres politischen Ressentiments,
selbst wenn es „nur“ um Thor Steinar geht. Dabei ist diese Marke kein
Nebenschauplatz. Sie ist Ort und Ausdruck dieses tiefliegenden
Ressentiments, das sich nicht einfach psychologisieren lässt, indem wir es
aus den psychischen Krisen unserer Patientin, beispielsweise aus dem
Verhältnis zu ihrem Vater, erklären. Es ist ein Ressentiment, zu dem sich
Frau Hüther entscheidet und für das sie verantwortlich ist; es breitet sich
überall aus und wir müssen uns dagegen auch in unserer Klinik zur Wehr
setzen.
Ich bespreche die Situation noch einmal mit meinem Oberarzt und schließlich
mit unserer Chefärztin. Nach einigen Diskussionen wird eine Hausordnung für
unsere Klinik verabschiedet, in der das Tragen von Marken wie etwa Thor
Steinar und Consdaple untersagt wird. Ich bin über diesen Beschluss
erleichtert. Auch wenn er vermutlich mehr Symbolkraft als praktischen
Nutzen hat, glaube ich doch, selbstbewusster und auf Grundlage einer
gemeinsamen Übereinkunft entsprechenden Patient*innen gegenübertreten und
eine Grenzen markieren zu können.
Gleichzeitig entschließe ich mich, einen Workshop für
Stammtischkämpfer*innen der Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“ zu
besuchen. Mir ist deutlich geworden, dass meine psychotherapeutischen
Kompetenzen nicht dafür gemacht sind, mit den politischen Argumenten und
Polemiken meiner Patient*innen umzugehen.
Psychotherapie ist kein Stammtischgespräch, aber der Stammtisch kommt immer
wieder in die Psychotherapie, auch wenn wir Therapeut*innen das nicht
wahrhaben wollen. Und ich will mit diesem Stammtisch angemessen umgehen
können.
Einige Wochen später wird Frau Hüther aus unserer stationären Behandlung
entlassen. Zur Stabilisierung nimmt sie noch an ambulanten Gruppenangeboten
unserer Klinik teil, in die ich jedoch nicht involviert bin. Von meinen
Kolleg*innen erfahre ich, dass sie unsere Hausordung immer wieder auf die
Probe stellt. Manchmal sehe ich sie, wie sie mit anderen Patient*innen im
Wartezimmer sitzt, verstohlen treffen sich unsere Blicke.
Dass sie weiter heimlich für ihre Partei agitiert, ahne ich. Vor der Tür
steht ihr Auto mit einem AfD-Sticker am Heck, daneben mein Fahrrad mit
einem „Kein-Mensch-ist-illegal“-Aufkleber. Der Konflikt bleibt, draußen wie
drinnen.
4 Oct 2019
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