# taz.de -- Politik und Psychotherapie: Rechts im Stuhlkreis | |
> Unser Autor arbeitet als Psychiater in Brandenburg und trifft öfter auf | |
> Patienten mit rechter Gesinnung. Wie soll er als Therapeut damit umgehen? | |
Bild: Was tun, wenn die Diskussionen um Thor-Steinar-Klamotten den Stuhlkreis s… | |
Frau Hüther ist seit einigen Tagen bei uns in Behandlung. Sie ist Anfang | |
50, leidet an einer Depression und an einer Persönlichkeitsstörung, wegen | |
der sie seit mehreren Jahren arbeitsunfähig und berentet ist. Sie ist | |
bereits zum dritten Mal bei uns. In den Gruppengesprächen klagt sie über | |
die Arbeitsbelastung an ihrem letzten Arbeitsplatz, über die „betrieblichen | |
Umstrukturierungen“ und dass sie es irgendwann nicht mehr geschafft habe. | |
Traurig blickt sie dann auf den Boden. | |
Mir ist Frau Hüther sympathisch. Sie ist ein leutseliger Mensch, kann die | |
anderen sehr genau spüren, vermag es, mit jedem hier in der Klinik | |
Anknüpfungspunkte für eine Plauderei zu finden. Sie begibt sich gerne unter | |
Menschen, mit einer Sehnsucht, die ich auch von mir selbst kenne, als wären | |
die anderen eine wohlige Decke, mit der sie sich umhüllen kann. | |
Doch jetzt, da sie traurig auf den Boden blickt, hat sie keine Decke. Sie | |
kommt mir sehr einsam vor. In die Ecke gedrängt, zu einem wehrlosen Opfer | |
ihrer Lebensgeschichte gemacht. Ich denke an ihren strengen und | |
gewalttätigen Vater, dem sie immer alles recht machen will und dem sie nie | |
recht genug ist. | |
Und dann bricht ihre Stimme um, wird laut und wütend. Frau Hüther spricht | |
über den „entfesselten Kapitalismus“ und darüber, dass es doch heute nur | |
noch um Profit gehe. Sie macht sich Sorgen um ihre zwei Kinder, in was für | |
einer Welt sie aufwachsen würden. Man müsse etwas dagegen tun, wir alle, | |
und dabei blickt sie in die Runde. Je länger sie spricht, desto mehr redet | |
sie sich in Rage. Mir gelingt es nicht, die Lücke zwischen ihren Worten zu | |
finden, um sie aus ihrem Monolog herauszureißen. | |
## Wo ist die Grenze? | |
Ich habe über sechs Jahre Medizin studiert und befinde mich seit drei | |
Jahren in meiner klinischen Ausbildung zum Psychiater und | |
Psychotherapeuten. In meiner Ausbildung habe ich gelernt, politische | |
Diskussionen aus der [1][Psychotherapie] herauszuhalten. Wir behandeln | |
Menschen unabhängig von kultureller Herkunft, Alter, Geschlecht, sexueller | |
Orientierung und eben auch politischer Gesinnung. | |
Und wir behandeln Menschen in Lebenskrisen – nicht das gesellschaftliche | |
System. Deshalb haben auch Diskussionen hierüber in der Psychotherapie | |
streng genommen nichts zu suchen. Doch in der Praxis ist das gar nicht so | |
einfach – in Wahrheit wirken politische Ansichten immer wieder latent in | |
die Therapie hinein. Aber wo ist die Grenze, die ich ziehen muss? | |
So ertappe ich mich dabei, dass ich den Gedanken Frau Hüthers folge und | |
insgeheim zustimme: Alles, was sie sagt, passt für mich aus meiner linken | |
Perspektive zusammen und ich fühle mich mit ihr diesseits meiner | |
therapeutischen Rolle verbunden – bis sie auf einmal sagt: „Und dass unsere | |
deutsche Geschichte nur wegen dieser zwölf Jahre so schlecht sein soll und | |
wir deswegen nicht stolz auf sie sein dürfen, das ist doch eine | |
Schweinerei!“ | |
Nach diesem Satz, den sie viele Monate vor Gaulands „Vogelschiss-Zitat“ in | |
unserer Gruppentherapie ausspricht, muss ich sie unterbrechen. Während ein | |
paar Mitpatient*innen nickend ihre Zustimmung zu Frau Hüther signalisieren, | |
schreite ich ein: „So, Frau Hüther, ich glaube, wir sollten jetzt hier | |
nicht über politische Ansichten debattieren. So was gehört nicht hierhin. | |
Bleiben Sie bitte bei sich.“ | |
Während ich innerlich noch überlege, wo „so was“ denn eigentlich hingehö… | |
und Frau Hüther mich erbost anblickt, stelle ich eine typische | |
Therapeutenfrage an die Gruppe: „Kennen denn andere hier auch solche | |
Situationen, in denen sie sich durch die Erwartungen anderer überfordert | |
fühlen und sie immer denken, sie müssten es allen recht machen?“ | |
## Politische Gesinnung, die die Gespräche bestimmt | |
Zu meiner Erleichterung nimmt das Gespräch eine andere Richtung. Es fällt | |
mir schwer, die weitere Gruppenstunde zu leiten. Innerlich bin ich | |
aufgebracht und lege mir Argumente gegen die Verharmlosung der Nazizeit | |
zurecht. | |
[2][In den Brandenburger Kliniken, in denen ich bislang tätig war, haben | |
wir es immer wieder mit Patient*innen zu tun, deren Gesinnung im Verlaufe | |
der Therapie die Gespräche bestimmt]. Frau Hüther ist nur ein Beispiel, an | |
dem sich zeigen lässt, wie schwer es uns fällt, damit umzugehen. Um sie als | |
Person nicht identifizierbar zu machen und das Arztgeheimnis zu wahren, | |
habe ich ihren Namen und wenige Details geändert. | |
Einige Tage später schaue ich aus dem Fenster meines Büros. Draußen im | |
Hinterhof diskutieren Patient*innen miteinander. Frau Hüther redet auf die | |
anderen ein, ich kann nicht genau verstehen, was sie sagt. Die meisten | |
nicken, manche runzeln die Stirn. Wenn ich jemanden bei uns aufnehme, sage | |
ich gerne: „Unser therapeutisches Team macht nur einen Teil der Arbeit. Den | |
fast wichtigeren Teil machen Sie miteinander, in den Pausengesprächen, wenn | |
Sie sich über Ihre Krisen austauschen. Da sind wir ganz raus.“ | |
Dass wir da ganz raus sind, ist banal, denn natürlich geht es uns nichts | |
an, worüber sich unsere Patient*innen in ihren privaten Pausengesprächen | |
unterhalten. Andererseits sind genau diese ungezwungenen Pausengespräche | |
Teil dessen, was man in der Psychiatrie als „Milieutherapie“ bezeichnet. | |
Damit ist nicht die Herkunft der Patient*innen gemeint, sondern das | |
Setting einer Einrichtung und die alltäglichen Aktivitäten, etwa das | |
gemeinsame Kaffeetrinken oder die Zigarettenpausen, in denen kein | |
ausdrückliches therapeutisches Ziel verfolgt wird. Dieser institutionelle | |
Alltag vermittelt Stabilität und sozialen Austausch und trägt so zur | |
Genesung der eigenen Lebenskrise bei, zugleich bauen die weiteren Therapien | |
immer auf diesem Alltag auf. | |
## Als Therapeut bin ich da raus | |
Im Gespräch im Hinterhof, so viel kann ich verstehen, geht es um die | |
„Flüchtlingskrise“; dieses Wort schnappe ich neben den Worten „Merkel“… | |
„AfD“ von meinem Büro aus auf. Wenig später erfahre ich von einer Kollegi… | |
dass Frau Hüther Mitglied der AfD ist. Mein Bauch zieht sich zusammen. Ich | |
fühle, was ich ja eigentlich wusste: Nicht nur in der Selbsthilfe zwischen | |
den Betroffenen, sondern auch in den politischen Gesprächen zwischen den | |
Therapien bin ich als Therapeut ganz raus, das geht mich nichts an. „Pause | |
ist ja Pause – was da geredet wird, können wir nicht vorschreiben“, sage | |
ich mir und habe zugleich das Gefühl, dass uns gerade etwas entgleitet. | |
Denn natürlich geht es uns etwas an, wenn jemand agitiert und sich eine | |
Stimmung in unserer Klinik ausbreitet, die die Therapie der anderen | |
Patient*innen erschwert. Beklemmung überkommt mich, Wut auf Frau Hüther und | |
die Situation. Gedanken steigen in mir auf – „Warum ist die überhaupt da?�… | |
„Warum braucht die unsere Hilfe?“ oder: „So krank kann sie ja nicht sein, | |
wenn sie hier herumschwadroniert!“ Dabei weiß ich, dass sie wie jeder | |
andere Mensch Anspruch auf therapeutische Hilfe in Not hat. | |
Zwei Tage später trägt Frau Hüther ein T-Shirt von Thor Steinar. [3][Thor | |
Steinar ist eine rechtsextreme Kleidungsmarke], die sich mit ihren Zeichen | |
und Slogans geschickt an der Grenze zu verfassungsrechtlich verbotener | |
Symbolik bewegt. Thor-Steinar-Kleidung sehen wir hier gelegentlich, ein | |
Patient erklärte mir einmal, die Stücke seien „einfach gut verarbeitet“. | |
Das klingt harmlos, dabei stehen auf den T-Shirts und Pullis Sprüche wie | |
„Ich bin einer von denen, die schon länger hier leben“, „Für die Sippe,… | |
die Heimat“, „Mein Land, meine Regeln“, meist versehen mit Reichsadler, | |
Wehrmachtszeichen oder Thors Hammer. | |
Auf dem T-Shirt von Frau Hüther posiert ein muskelbepackter Mann mit langem | |
Bart und Hammer in der Hand. Darunter steht: „Dein Gott wurde ans Kreuz | |
genagelt, mein Gott hat einen Hammer!“ | |
Ich spreche das bei einer unserer Teamsitzungen an. Das Team besteht neben | |
Ärzt*innen aus Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Pfleger*innen, | |
Ergo- und Physiotherapeut*innen. Die Marke ist im Team nicht allen bekannt, | |
das T-Shirt von Frau Hüther ihnen zum Teil gar nicht aufgefallen. Reagiere | |
ich überempfindlich auf die Patientin, suche nach Punkten, die mich an ihr | |
und ihrer politischen Gesinnung stören? Vermische ich die Thematik | |
künstlich mit unserem therapeutischen Auftrag? | |
## Die Debatte im Team | |
Darüber sprechen wir, und alle stimmen schließlich darin überein, dass ich | |
die Patientin auffordern soll, Kleidung dieser Marke nicht in unserer | |
Klinik zu tragen. In ähnlichen Situationen gab es damit bislang keine | |
Probleme. Meist reagierten die Patienten mit Äußerungen wie „Keine Angst, | |
ich mach hier keinen Krawall“ oder „Dass Thor Steinar rechtsradikal ist, | |
ist ein totales Missverständnis – aber klar, dass Sie mir das dann | |
verbieten müssen.“ Sie ließen die Kleidungsstücke dann aber zu Hause. | |
Frau Hüther dagegen weigert sich. Thor Steinar sei verfassungsrechtlich | |
nicht verboten und sie dürfe anziehen, was sie wolle. Sie schreibt auch | |
einen Brief an die Klinikleitung, verweist auf Marken, die angeblich | |
Linksradikale und Randalierer tragen – die müsse man dann auch verbieten. | |
Im Team beginnt eine intensive Debatte. Die Meinungen gehen teils weit | |
auseinander und doch habe ich manchmal das Gefühl, dass sich im Kreis der | |
Kolleg*innen politische Auseinandersetzungen leichter führen lassen als in | |
der Arbeit mit unseren Patient*innen. Ich bin jedenfalls für ein striktes | |
Verbot der Marke. Andere meinen, man solle Frau Hüthers Kleidungsstil | |
ignorieren, um ihr die Bühne zu nehmen. | |
Immer wieder kommt im Team und den Supervisionen aber auch die Frage auf: | |
„Worum geht es hier eigentlich?“ Ist der Streit um die Marke nicht ein | |
Nebenschauplatz? Lenkt die Patientin bewusst oder unbewusst von ihren | |
eigentlichen Krisenthemen ab, also dem Verhältnis zu ihrem Vater oder der | |
Trauer um ihren verlorenen Arbeitsplatz oder auch davon, dass sie sich | |
selbst in ihrem Leben immer wieder als Opfer der Umstände empfindet? | |
## Konsequent darauf ansprechen | |
Überfrachtet sie diesen Opferstatus, indem sie sich als Teil jener Gruppe | |
„redlicher Deutscher“ definiert, die vom Staat und dem „System Merkel“ | |
manipuliert, angefeindet und schließlich mit der angeblichen | |
„Flüchtlingswelle“ in ihrer Existenz bedroht werde? Fordert sie das | |
Kleidungsverbot heraus, um auch hier zum Opfer oder sogar zur Märtyrerin | |
für die rechte Sache zu werden? | |
Wir einigen uns darauf, der Patientin ihre Kleidung nicht zu verbieten, sie | |
aber in den Therapien konsequent darauf anzusprechen und kritisch nach dem | |
Zusammenhang ihrer politischen Botschaften mit ihrer konkreten | |
Lebenssituation zu fragen. | |
In einigen Gesprächen gelingt das. Frau Hüther wird zugewandter. „Endlich | |
verurteilt mich jemand mal nicht für das, was ich denke, und hört mir zu“, | |
sagt sie. Wir sprechen mit der Patientin über ihre Kindheit, ihren strengen | |
Vater, seine Leistungserwartungen und seine Prügelstrafen, wenn sie etwas | |
falsch gemacht habe. Frau Hüther erzählt aufgewühlt von ihren späteren | |
Erfahrungen mit der Stasi und von der beruflichen Umschulung nach der | |
Wende, als ihr früherer Abschluss nicht anerkannt wurde. | |
Immer wieder kommt mir dabei das Konzept des autoritären Charakters der | |
Frankfurter Schule in den Sinn, das allerdings in der heutigen Psychiatrie | |
kaum mehr verwendet wird, was ich falsch finde. Die Entwertung eigener | |
Bedürfnisse und Fähigkeiten sowie die Unterwerfung gegenüber der | |
elterlichen, später staatlichen Autorität scheint mir bei Frau Hüther diese | |
seltsame Mischung zu erzeugen: Einerseits der mal versteckte, mal offene | |
Hass gegen alles Fremde, „die Ausländer“, „die da oben“, andererseits | |
dieser starke, fast kindliche Wunsch nach Anerkennung und Verbundenheit, im | |
Zeichen einer vermeintlich tieferliegenden Autorität – „wir Deutschen“. | |
Dieses Muster erkenne ich bei vielen meiner Patient*innen wieder. | |
## Die Ästhetik der Runenschrift | |
Auch hier zeigt sich, dass der Anspruch aus meiner Ausbildung, zwischen | |
Politik und Therapie zu trennen, in der Praxis kaum aufrechtzuerhalten ist: | |
Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass eine autoritäre Erziehung eher | |
zu rechten politischen Einstellungen führt. Frau Hüther scheint mir dafür | |
ein gutes Beispiel zu sein. | |
Trotz dieser Fortschritte habe ich aber ein ungutes Gefühl. Mein Eindruck | |
ist, dass wir, auch wenn wir der Patientin therapeutisch helfen und wir sie | |
besser verstehen, zugleich ihre Sehnsucht nach einer homogenen und innigen | |
Gemeinschaft insgeheim doch befriedigen. Sie sieht in uns nun Verbündete, | |
die wir nicht sind. Und obwohl wir die Patientin kritisch auf ihre | |
politische Agenda im Hinterhof angesprochen hatten, führt sie diese nun | |
lediglich subtiler fort; etwa indem sie nur noch mit Einzelnen spricht oder | |
das Thema Einwanderung scheinbar beiläufig in Diskussionen einfließen | |
lässt. | |
Auch versucht sie, Mitpatient*innen die Ästhetik der Runenschrift oder der | |
nordischen Mythologie nahezubringen, was ich ebenfalls als politische | |
Strategie empfinde. Ich frage mich, ob sie auf der Suche nach Mitgliedern | |
für ihre Partei ist, die AfD. Aber da ich nicht den ganzen Tag den | |
Gesprächen im Hinterhof lauschen und meinen Patient*innen | |
hinterherspionieren will, kann ich das nicht sicher sagen. Ich versuche, | |
das zu verdrängen. | |
Doch es gelingt mir nicht. Frau Hüther und die Debatten im Team strengen | |
mich an. Ich hatte anfangs Sympathien für die Patientin und ihre Situation, | |
im wörtlichen Sinne des Mit-ihr-Leidens (altgr.: sym-páthein), das in | |
meinen Augen für jede therapeutische Arbeit nötig ist. Jetzt stößt mich ihr | |
politisches Denken ab und wirft finsteres Licht auf nahezu alles, was sie | |
sagt. | |
## Unterschied zwischen Arzt und Psychotherapeut | |
Hier wird der Unterschied zwischen ärztlicher und psychotherapeutischer | |
Arbeit deutlich: Um einen Menschen körperlich zu untersuchen oder zu | |
behandeln, spielt das Mit-leiden-Können der Ärztin streng genommen keine | |
Rolle. Um einen Menschen aber in seiner Depression psychotherapeutisch zu | |
behandeln, ist die therapeutische Beziehung der entscheidende Wirkfaktor – | |
und wenn sich diese Beziehung aufgrund politischer Gefühle und Antipathien | |
der Beteiligten nicht aufbauen kann, geht die Therapie kaputt. | |
Alles verbindet sich. Frau Hüther steht für eine Entwicklung, die ich mit | |
meinem Privileg als weißer Großstadtakademiker bisher so leicht verdrängen | |
konnte, indem ich die Nachrichtenseite im Browser einfach wegklickte oder | |
weil ich mich in ganz anderen Kreisen bewegte. Frau Hüther erschließt mir | |
eine ganze Atmosphäre, die eigentlich schon lange da war, die mir jetzt | |
aber bewusst wird. | |
Auf der Zugfahrt nach der Arbeit sehe ich, wie zwei Neonazis miteinander | |
Freundschaft schließen. Sie hören gemeinsam über einen kleinen Lautsprecher | |
Musik: „Wir sind gewaltbereite Neonazis und wir kommen in deine Stadt …!“ | |
Alle hören mit, niemand sagt etwas. | |
Auch ich bin zu erschöpft von einem langen Arbeitstag. Irgendwann traue ich | |
mich doch, stehe auf und sage: „Eure politische Gesinnung finde ich zum | |
Kotzen.“ Einer der beiden antwortet: „Jedem das Seine.“ Der Satz, der am | |
Tor des KZ Buchenwald stand. Mit Herzklopfen verlasse ich das Abteil. | |
## Neonazis in der Rettungsstelle | |
Neonazis kommen immer wieder in die Rettungsstelle unseres Krankenhauses, | |
auf der ich als Psychiater regelmäßig Nachtdienste machen muss. Ein paar | |
Tage nach der Zugfahrt etwa wird ein junger Mann von der Polizei gebracht, | |
der im Streit mit seiner Freundin seine Wohnung zerlegt hat. Jetzt sitzt er | |
mir mit feurigem Blick auf der Untersuchungsliege gegenüber. Er trägt ein | |
Baseballcap mit der Aufschrift „88“ und, wie ich bei der Untersuchung sehe, | |
ein kleines Hakenkreuz knapp unter seiner Unterhose. | |
Er sieht, dass ich es sehe, mustert mich. Ich denke an die Neonazis im Zug | |
und sage nichts. Ich bin froh über meinen weißen Kittel: Als Arzt soll ich | |
eine „akute Selbst- oder Fremdgefährdung“ aufgrund einer psychischen oder | |
körperlichen Erkrankung ausschließen. Diese Aufgabe fülle ich gemäß dem | |
ärztlichen Berufsethos und den rechtlichen Vorgaben aus. Meine Gefühle als | |
Psychotherapeut spielen dabei keine Rolle. Nachdem ich eine Erkrankung | |
ausschließen kann, bin ich erleichtert, als der Patient die Rettungsstelle | |
wieder verlässt. | |
Einige Tage später, wieder eine Sitzung mit der Gruppe, zu der auch Frau | |
Hüther gehört. Gemeinsames Singen steht an, alle dürfen etwas vorschlagen. | |
Frau Hüther will, dass wir die Nationalhymne singen. Es kommt mir vor wie | |
ein schlechtes Skript. Ich und meine Kolleg*innen blicken uns ratlos an. | |
Ich denke an unsere Diskussionen, daran, dass wir das Politische | |
therapeutisch verwerten wollen, anstatt Therapie zu Politik zu machen. Aber | |
ich kann das nicht. Ich habe genug. | |
„Ich will dieses Lied jetzt nicht mit Ihnen singen“, sage ich und schlage | |
ein anderes Lied vor. „Aha. Na gut!“, antwortet sie, gekränkt, aber doch | |
so, als hätte sie es schon erwartet. Der Vorfall zieht seine Kreise. Frau | |
Hüther macht ihrem Ärger zwischen den Therapien bei den Mitpatient*innen | |
Luft. | |
## „Es ist alles ein System“ | |
Gruppentherapie. Wir sitzen im Kreis, Schweigen schon bei der | |
Themenfindung. „Woher kommt das Schweigen heute?“, fragen mein Kollege und | |
ich, dabei ahnen wir es schon. Irgendwann packt Frau Hüther aus: | |
„Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Es ist alles ein System, früher in | |
der DDR wie heute, früher die Stasi und die SED, heute der | |
Verfassungsschutz, die Regierung und die Medien, die uns alle manipulieren | |
und vorschreiben, was wir denken sollen. Ich dachte, hier in der Klinik, da | |
wäre das noch erlaubt. Aber selbst hier dürfen wir nicht sagen, was wir | |
denken, obwohl es uns doch schlecht geht und wir Hilfe brauchen! Selbst | |
hier gelten schon diese Verhältnisse. Ich fühle mich verzweifelt, müde und | |
erschöpft. Aber man erlaubt mir meine Verzweiflung nicht, nicht einmal | |
hier. Das alles darf ich ja nicht sagen, weil ich mich mit mir beschäftigen | |
soll. Aber das beschäftigt mich doch! Und dann haben Sie uns auch noch die | |
Nationalhymne verboten, aber sie ist doch unsere Hymne!“ | |
Eine jüngere Patientin stimmt Frau Hüther zu: „Die Nationalhymne haben wir | |
sogar in der Schule gelernt! Soll die jetzt auch noch verboten sein?“ | |
Dann wieder Frau Hüther, bestärkt: „Stattdessen kommen die Flüchtlinge | |
hierher, und alles, was Deutsch ist, ist auf einmal nicht mehr erlaubt. | |
Weihnachtsmärkte heißen jetzt Wintermarkt.“ Das ist längst widerlegt, aber | |
taugt offenbar als ideologische Munition. | |
Ein anderer Patient sagt: „Im Supermarkt habe ich einen Ramadan-Kalender | |
gesehen! Bald ist das hier nicht mehr unsere Heimat.“ „Genau“, antwortet | |
Frau Hüther, „aber das darfst du bloß nicht sagen, weil dann, dann nennen | |
sie dich gleich Nazi, dann kommt gleich die Nazikeule!“ Das Wort | |
„Nazikeule“ kostet sie aus. | |
Alle Patient*innen im Raum nicken. Frau Hüther ist in ihrem Element. „Ja, | |
da fühle ich mich so schlecht und traurig, dass man die Politik nicht | |
ändern kann …“ Es wird einen Moment still. Als hätte Frau Hüther diesen | |
Moment einkalkuliert, spricht sie nach einer Pause weiter: „Aber man kann | |
die Politik ändern. Wir alle können etwas tun. Und deswegen bin ich in | |
meiner Partei.“ | |
## Wie konnte das passieren? | |
Wie konnte uns diese Therapiestunde nur so entgleiten? Ich erlebe mit, wie | |
machtvoll dieses Narrativ ist – die Fremden, die da oben, die böse | |
Regierung, der Staat und wir da unten, wir Opfer, hilflos, aber stolz und | |
edel, die wir zugleich Opfer bringen, für die gute Sache, für sie | |
miteinander vereint. Frau Hüther hat alle um sich geschart. | |
Ich hingegen komme mir gefangen vor in meiner therapeutischen Rolle. Ich | |
möchte schreien, Frau Hüther Wort für Wort ihre politischen Äußerungen | |
zerlegen. Ich ertrage es nicht, in dieser Situation „therapeutisch | |
abstinent“ zu sein, in nachdenklicher Therapeutenpose, mit überkreuzten | |
Beinen mich auf Lehrbuchfloskeln wie „Aha, was fühlen Sie, wenn Sie das so | |
hören?“ oder „Was löst das bei den anderen aus?“ zu beschränken. Das k… | |
mir sinnlos vor. Denn ich bin nicht nur Therapeut, ich bin ein Mensch und | |
ein politisches Wesen. Wie therapeutisch kann Abstinenz sein, wenn ich mich | |
in der Therapie nicht als mich selbst zu erkennen gebe – und eben auch | |
entsprechende Grenzen markiere? | |
Schließlich wird es wieder still. Die Gruppe scheint unsere Ratlosigkeit zu | |
bemerken und auf eine Antwort zu warten. Wir erklären, dass wir diese | |
politischen Ansichten nicht teilen und dass wir auch nicht möchten, dass | |
sie hier geteilt werden. Wir wollen ihnen ihre Ansichten nicht verbieten, | |
aber wir lehnen es ab, sie zum Teil der Therapie zu machen. Denn Therapie | |
heißt für uns „Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben“ und nicht mit der | |
Politik. Die Diskussion geht daraufhin noch weiter, insgesamt löst sich die | |
Situation in der Sitzung jedoch einigermaßen. | |
## Kein Nebenschauplatz | |
Abfinden kann ich mich aber nicht damit, dass das Therapeutische nicht | |
politisch sein soll. Gerade weil diese Trennung so unscharf ist, macht es | |
mir den Umgang mit Frau Hüther so schwer. In jeder Begegnung muss die | |
Trennung neu verhandelt werden. Und in einer jeden solchen Verhandlung | |
werde ich, werden wir zur Zielscheibe ihres politischen Ressentiments, | |
selbst wenn es „nur“ um Thor Steinar geht. Dabei ist diese Marke kein | |
Nebenschauplatz. Sie ist Ort und Ausdruck dieses tiefliegenden | |
Ressentiments, das sich nicht einfach psychologisieren lässt, indem wir es | |
aus den psychischen Krisen unserer Patientin, beispielsweise aus dem | |
Verhältnis zu ihrem Vater, erklären. Es ist ein Ressentiment, zu dem sich | |
Frau Hüther entscheidet und für das sie verantwortlich ist; es breitet sich | |
überall aus und wir müssen uns dagegen auch in unserer Klinik zur Wehr | |
setzen. | |
Ich bespreche die Situation noch einmal mit meinem Oberarzt und schließlich | |
mit unserer Chefärztin. Nach einigen Diskussionen wird eine Hausordnung für | |
unsere Klinik verabschiedet, in der das Tragen von Marken wie etwa Thor | |
Steinar und Consdaple untersagt wird. Ich bin über diesen Beschluss | |
erleichtert. Auch wenn er vermutlich mehr Symbolkraft als praktischen | |
Nutzen hat, glaube ich doch, selbstbewusster und auf Grundlage einer | |
gemeinsamen Übereinkunft entsprechenden Patient*innen gegenübertreten und | |
eine Grenzen markieren zu können. | |
Gleichzeitig entschließe ich mich, einen Workshop für | |
Stammtischkämpfer*innen der Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“ zu | |
besuchen. Mir ist deutlich geworden, dass meine psychotherapeutischen | |
Kompetenzen nicht dafür gemacht sind, mit den politischen Argumenten und | |
Polemiken meiner Patient*innen umzugehen. | |
Psychotherapie ist kein Stammtischgespräch, aber der Stammtisch kommt immer | |
wieder in die Psychotherapie, auch wenn wir Therapeut*innen das nicht | |
wahrhaben wollen. Und ich will mit diesem Stammtisch angemessen umgehen | |
können. | |
Einige Wochen später wird Frau Hüther aus unserer stationären Behandlung | |
entlassen. Zur Stabilisierung nimmt sie noch an ambulanten Gruppenangeboten | |
unserer Klinik teil, in die ich jedoch nicht involviert bin. Von meinen | |
Kolleg*innen erfahre ich, dass sie unsere Hausordung immer wieder auf die | |
Probe stellt. Manchmal sehe ich sie, wie sie mit anderen Patient*innen im | |
Wartezimmer sitzt, verstohlen treffen sich unsere Blicke. | |
Dass sie weiter heimlich für ihre Partei agitiert, ahne ich. Vor der Tür | |
steht ihr Auto mit einem AfD-Sticker am Heck, daneben mein Fahrrad mit | |
einem „Kein-Mensch-ist-illegal“-Aufkleber. Der Konflikt bleibt, draußen wie | |
drinnen. | |
4 Oct 2019 | |
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