| # taz.de -- Sprecher Landesarmutkonferenz Berlin: „Wir lassen sie verrecken“ | |
| > Seit 10 Jahren gibt es die Landesarmutskonferenz. Weniger arm ist Berlin | |
| > in der Zeit nicht geworden. Sprecher Hermann Pfahler hat klare | |
| > Forderungen. | |
| Bild: Konkrete Folge der Wohnungsnot | |
| taz: Herr Pfahler, die Landesarmutskonferenz feiert heute ihr zehnjähriges | |
| Bestehen. Haben Sie viel Grund zu feiern? | |
| Hermann Pfahler: Wir haben leider die Armut in Berlin weder abschaffen noch | |
| verringern können, wenn Sie das meinen. Aber wir haben doch auch eine Menge | |
| erreicht. | |
| Wie hat sich die Dringlichkeit Ihrer Arbeit verändert in den Jahren seit | |
| der Gründung? | |
| Es gibt so viel verschämte Armut bei Menschen im Alter, mit | |
| Migrationshintergrund, bei Familien. Ich bin seit über 30 Jahren in diesem | |
| Geschäft und wir hatten noch nie, wirklich noch nie, so viele Familien, die | |
| wohnungslos sind. Das ist absolut erschreckend, man denke nur an die | |
| Kinder. | |
| Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit für die nächsten zehn Jahre? | |
| Eines unserer Hauptthemen wird es sein, Solidarität in der Gesellschaft | |
| einzufordern. Es gibt zum Glück sehr viel ehrenamtliches Engagement in der | |
| Stadt und viele Menschen, die sich für die Bekämpfung von Armut | |
| aussprechen. Aber die Gefahr, dass wir auseinanderbrechen und immer mehr | |
| Leute nur noch schauen, wie sie ihr eigenes Bündel retten, ist groß. Wir | |
| haben Situationen, da wollen Kirchengemeinden auf ihrem eigenen Grund, zum | |
| Beispiel auf ungenutzten Friedhofsflächen, dringend benötigte | |
| Sozialwohnungen bauen. Und dann gibt es immer wieder Behörden und | |
| Privatleute, die das behindern. | |
| Inwiefern? | |
| Da kommen Argumente wie „Ich kann meinen Hund nicht mehr schön ausführen.“ | |
| Und dabei lassen wir Menschen auf der Straße verrecken. Das ist doch | |
| gepflegter Egoismus. Man kann angesichts der Wohnungsnot auch nicht jede | |
| Kleingartenlaube retten, sondern wir müssen die Akzeptanz dafür steigern, | |
| dass Erholung vielleicht besser im schönen Brandenburg aufgehoben ist als | |
| an den S-Bahn-Gleisen im Innenstadtring. | |
| Wie wollen Sie da gegensteuern? | |
| Gerade arbeiten wir mit Karikaturisten zusammen, um auf Plakaten und | |
| Postkarten auf das Thema Armut und Ausgrenzung in der Stadt aufmerksam zu | |
| machen. Wir sind nicht die, die Krawall machen, wir appellieren an die | |
| Einsicht der Menschen. | |
| Der Jahrestag ist auch ein Anlass zurückzuschauen: Vielleicht erzählen Sie | |
| mal, warum es vor zehn Jahren überhaupt eine Landesarmutskonferenz | |
| brauchte. | |
| 2010 war das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung. Das | |
| war der Anlass für mehrere Initiativen und Aktive ein Bündnis zu bilden, um | |
| geballt gegen Armut in Berlin vorzugehen. Bei uns sind, und das ist das | |
| Besondere, nicht nur die Wohlfahrtsverbände dabei, sondern auch Hochschulen | |
| wie die Alice-Salomon oder die Evangelische Hochschule und Initiativen wie | |
| das Berliner Arbeitslosenzentrum BALZ. Ein wesentlicher Antrieb war damals | |
| die hohe Zahl der Wohnungslosen. Mit 10.000 bis 12.000 haben wir 2009 | |
| gerechnet. Inzwischen müssen wir leider davon ausgehen, dass sich die Zahl | |
| verfünffacht hat. Genaue Zahlen gibt es ja leider immer noch nicht. | |
| Aber bald: Am 29. Januar sollen erstmals [1][die Obdachlosen Berlins | |
| gezählt] werden. | |
| Das ist auch unser Erfolg, wir waren da von Anfang eingebunden und haben | |
| seit unserer Gründung dafür gekämpft. Wir haben auch damals schon auf etwas | |
| gedrängt, das jetzt zaghaft begonnen wurde und inzwischen [2][„Housing | |
| First“] genannt wird: Wir brauchen keine Übergangsheime, sondern | |
| wohnungslose Menschen brauchen Wohnraum. | |
| Aber woher soll der Wohnraum kommen? | |
| Es ist schön, dass die Bezirke jetzt Häuser aufkaufen, aber das nützt den | |
| 50.000 wohnungslosen Menschen erst einmal gar nichts. Deswegen fordere ich, | |
| dass konsequent zehn Prozent der gekauften Wohnungen wohnungslosen Menschen | |
| zur Verfügung gestellt und mehr Sozialwohnungen gebaut werden. Es kann | |
| nicht sein, dass obdachlose Menschen mit [3][„Safe Places“]und [4][„Tiny | |
| Homes“] abgespeist werden. Mit diesen Begrifflichkeiten reden wir uns | |
| schön, was eigentlich ein Skandal ist. | |
| Auch der Neubau kommt ja im Moment vorrangig Besserverdienenden zugute. | |
| In Sachen Neubau von günstigem Wohnraum sind nicht nur die Landeseigenen | |
| gefordert. Neben Genossenschaften und Kirchengemeinden denke ich da zum | |
| Beispiel auch an die Krankenhäuser aus Kaiserszeiten, die über riesige | |
| Parkflächen verfügen, auf denen man auch das ein oder andere Haus noch | |
| bauen könnte. Wenn die gemeinnützigen Organisationen genügend Unterstützung | |
| von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bekommen, dann sind, da bin | |
| ich überzeugt, eine ganze Reihe von denen bereit, in den Wohnungsbau mit | |
| einzusteigen. | |
| Kommen wir noch mal zurück zu Ihren Erfolgen der letzten zehn Jahre … | |
| Wir sind im Prinzip ein klassischer Lobbyverein für Menschen, die sich | |
| selbst nicht zu Wort melden. Wir sprechen zum Beispiel die Politiker an, | |
| die neu ins Abgeordnetenhaus kommen, um für die Interessen unserer | |
| Mitgliedsorganisationen und damit für die Interessen armer Menschen in | |
| Berlin zu werben. So haben wir es uns über die Jahre erkämpft, dass wir in | |
| den wichtigen politischen Runden wie etwa den Strategiekonferenzen zur | |
| Bekämpfung von Wohnungslosigkeit und Kinderarmut dabei sind. Gegen | |
| Kinderarmut wird, auch auf unser Betreiben hin, gerade eine Art Rahmenplan | |
| entwickelt. Wir waren es auch, die maßgeblich darauf gedrängt haben, die | |
| Übernachtungsplätze in der Kältehilfe auszubauen. Und bei der Anpassung der | |
| „AV Wohnen“ … | |
| Also den Vorschriften, wie hoch die übernommene Miete bei Empfängern von | |
| Sozialleistungen sein darf … | |
| … nehmen wir mit gewissem Erfolg permanent Einfluss. Vor zwei Jahren haben | |
| wir eine Broschüre herausgebracht zum Thema „Was tun, wenn die | |
| Wohnungskündigung droht“. Sie ist in einfacher Sprache verfasst und wird | |
| von uns kostenlos weitergegeben. Eine ganze Reihe Jobcenter und | |
| Bezirksämter haben sie uns in großen Stückzahlen abgenommen und inzwischen | |
| wird sie in Hamburg und Bremen nachgedruckt. Segmente daraus verfilmen wir | |
| gerade, um noch mehr Personenkreise zu erreichen. | |
| 26 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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