# taz.de -- Obdachlosenzählung in Paris und Berlin: „Wir zählten viel mehr … | |
> Berlin zählt erstmals obdachlose Menschen und orientiert sich dabei an | |
> Paris. Paul Henry, Mitarbeiter der Pariser Sozialverwaltung, über | |
> Erkenntnisse. | |
Bild: Ein Team bei der 2. Pariser Obdachlosenzählung Anfang 2019 | |
taz: Monsieur Henry, am 29. Januar zählen wir in Berlin erstmals die | |
Menschen, die auf der Straße leben. Das große Vorbild ist Paris … | |
Paul Henry: Wir haben das genauso gemacht. Vor unserer ersten Zählung in | |
Paris haben wir auch auf die Städte mit längerer Erfahrung geschaut: | |
Brüssel, Budapest, Athen und vor allem New York, die bereits seit vielen | |
Jahren zählen. | |
Sie waren im Vorbereitungsteam der ersten Zählung in Paris, wie haben Sie | |
diese erlebt? | |
Das Projekt war Teil eines Paktes gegen Ausgrenzung, der zwischen der | |
Stadt, dem Staat und Wohlfahrtsverbänden unterzeichnet wurde. Es | |
mobilisierte alle Akteure und fand eine sehr positive Resonanz bei den | |
Bürgern im gesamten Pariser Gebiet. Man konnte sich wie jetzt bei Ihnen in | |
Berlin als Freiwillige über ein Internetportal anmelden. Innerhalb weniger | |
Tage war die Liste voll. | |
Gab es tatsächlich nur Zustimmung für das Projekt oder auch Kritik? | |
Für einige Wohlfahrtsorganisationen und auch einige Freiwillige war es | |
anfangs schwer zu akzeptieren, dass sie auf Menschen mit großen Problemen | |
treffen, aber nicht unmittelbar helfen, sondern nur zählen. Aber diese | |
Bedenken sind inzwischen viel kleiner geworden, weil sich der Nutzen der | |
Zählung gezeigt hat. | |
Hier in Berlin gibt es auch Stimmen, die sagen: Wir brauchen keine Zahlen, | |
wir brauchen Wohnungen. Was ist Ihre Erfahrung, was bringen denn Zahlen? | |
Es war ja hier in Paris so, dass wir überhaupt keine Ahnung hatten, wie | |
viele obdachlose Menschen es gibt. | |
Das ist in Berlin ähnlich. | |
Die meisten Schätzungen lagen zwischen 2.000 und 8.000. | |
Wir reden von 4.000 bis 10.000. | |
Ja, die Unterschiede sind wirklich unglaublich. Es gab dafür auch zwei | |
Gründe. Erstens: Paris ist acht mal kleiner als Berlin. Die Stadtgrenzen | |
sind die gleichen wie 1860 und die Bevölkerung hat stabil etwa 2 Millionen | |
Einwohner. Wie schon gesagt, Paris ist eine kleine Stadt, die Preise sind | |
immens, aber vor allem ist alles dicht bebaut und es gibt, anders als immer | |
noch in Berlin, überhaupt keinen Platz. Was sich wirklich verändert hat, | |
sind die Vororte. Dort leben heute bis zu 11 Millionen Menschen. Und nun | |
ist eben die Frage: Zähle ich die Obdachlosen, die sich ja bewegen, zum | |
Stadtgebiet oder zu den Vororten? Dazu kommt, dass sich viele Obdachlose | |
verstecken. Und zwar vor allem die Frauen. | |
Und wie viele haben Sie dann gezählt? | |
2019 haben wir 3.641 Obdachlose im Stadtgebiet gezählt. | |
Gibt es weitere Erkenntnisse, die die Zählung gebracht hat? | |
Was besonders bemerkenswert ist: Die Staatliche Statistik ging bis zur | |
Zählung von einem Frauenanteil unter den obdachlosen Menschen von zwei bis | |
vier Prozent aus. Eine unserer größten Überraschungen war, dass wir bei den | |
beiden bisherigen Zählungen 12 beziehungsweise 14 Prozent Frauen zählten. | |
Das ist wichtig, denn Frauen und insbesondere Frauen mit Kindern haben | |
Priorität in der sozialen Arbeit, weil sie besonders ungeschützt sind auf | |
der Straße. | |
Was hat sich konkret verändert? | |
Wir haben direkt nach der ersten Zählung 3.000 neue Plätze in Unterkünften | |
für Wohnungslose geschaffen, die Hälfte davon für Frauen. Außerdem hat die | |
Stadt inzwischen neuartige Zentren zur Unterbringung eingerichtet, die als | |
Orte der Ruhe gedacht sind. Und zwar dort, wo der Bedarf am größten ist und | |
gerade für die Menschen, die von den bestehenden Einrichtungen nicht | |
akzeptiert wurden. Da haben wir uns an New Yorks Konzept der Safe Places | |
orientiert. Dann haben wir noch zwei neue Sozialrestaurants gegründet. | |
… und welche weiteren Erkenntnisse gab es? | |
Noch etwas ganz konkretes: Obdachlose Menschen können ja oft nur in der | |
Nacht beherbergt werden, am Tag wissen sie nicht wohin mit all ihrem | |
Gepäck. Deshalb haben wir Orte geschaffen, wo sie es sicher verwahren | |
können. Und zwar einen in jedem Bezirk. Außerdem haben wir vor einem Jahr | |
mitten in Paris ein großes Bildungszentrum geschaffen für Ehrenamtliche und | |
Wohlfahrtsorganisationen. | |
Hat die Nacht der Solidarität einen Wandel im Umgang mit Obdachlosigkeit | |
gebracht? | |
Ich fürchte, meine Antwort darauf ist für Sie enttäuschend: Jein. Ja, weil | |
wir vor der Zählung gar keine Kenntnis über die Bedürfnisse dieser Menschen | |
hatten. Das ist aber der erste Schritt für einen anderen Umgang. Und nein, | |
weil unsere Möglichkeiten etwa für zukunftsweisende Konzepte wie Housing | |
first sehr begrenzt sind. Aber es gibt noch etwas, was ich bemerkenswert | |
finde. | |
Ja bitte? | |
Nicht nur Berlin, sondern auch sechs weitere Städte in Frankreich sind | |
unserem Beispiel gefolgt und haben Nächte der Solidarität gegründet, zum | |
Beispiel Rennes in der Bretagne und Grenoble in den Alpen. Das ist doch | |
sehr interessant: Gerade die Städte engagieren und vernetzen sich weltweit | |
im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung. | |
Reden wir noch über die Menschen, die gezählt haben. Wie viele waren es | |
denn? | |
Ungefähr 1.500 Freiwillige und 450 Profis von verschiedenen Organisationen | |
haben sich jeweils beteiligt – Menschen wie ich aus der Stadtverwaltung und | |
von Wohlfahrtsorganisationen, aber auch von den Pariser Verkehrsbetrieben | |
und der französischen Eisenbahngesellschaft. Unter den Freiwilligen waren | |
viele Menschen, die schon als Ehrenamtliche gearbeitet haben. Aber es waren | |
auch viele junge Menschen dabei, für die dies die erste Erfahrung mit | |
solchem Engagement war. Das liegt sicher daran, dass man sich nur eine | |
Nacht verpflichtet hat. | |
Glauben Sie, dass deren Engagement den Blick auf obdachlose Menschen | |
verändert hat? | |
Ja, ich denke, diese Nacht hat für viele etwas verändert. Wer traut sich | |
schon, die Obdachlosen, die in der eigenen Straße leben, anzusprechen?! | |
Diese Hürde zu überwinden, ist ein erster Schritt und die Nacht der | |
Solidarität gibt den Raum und die Gelegenheit dafür. | |
29 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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