# taz.de -- Berlins erste Obdachlosenzählung: Es braucht noch mehr Daten | |
> ExpertInnen ziehen erste Schlüsse aus der Obdachlosenzählung. Doch die | |
> ist nur ein Baustein für bessere Hilfe. Nächste Zählung: Frühjahr/Sommer | |
> 2021. | |
Bild: In der „Nacht der Solidarität“ unter einer Brücke am Zoo | |
BERLIN taz | Eine erste Konsequenz aus Berlins erster Obdachlosenzählung | |
steht für ExpertInnen schon mal fest: Die Angebote für obdachlose | |
EU-BürgerInnen müssen ausgebaut werden. Das sagten sowohl Armutsforscherin | |
Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hochschule als auch die Direktorin der | |
Berliner Caritas, Ulrike Kostka, am Sonntag der taz. „Wenn so viele | |
EU-BürgerInnen obdachlos sind, müssen die aufsuchenden muttersprachlichen | |
Hilfen massiv aufgestockt werden“, erklärte Gerull, die die Zählung | |
mitinitiiert hat. Bislang gebe es nur die „Frostschutzengel“ mit einem | |
solchen Angebot, das aber nicht mehr vom Senat finanziert werde. | |
Bei der Zählung vom 29. Januar hatten 49 Prozent der Befragten die EU als | |
Herkunft angegeben. Für Caritas-Direktorin Kostka ist diese Zahl allerdings | |
überraschend niedrig: Nach den Erfahrungen der Berliner Beratungs- und | |
Übernachtungsstellen kämen inzwischen 60 bis 80 Prozent der Hilfesuchenden | |
aus EU-Ländern. Kostkas Schlussfolgerung: „Offenkundig haben sich gerade | |
EU-BürgerInnen vor der Zählung versteckt, vermutlich aus Angst vor | |
Repressalien.“ Aber auch sie findet, die mehrsprachigen Angebote für diese | |
Gruppe, die es schon jetzt in einigen Bezirken gebe, müssten ausgebaut | |
werden. Zudem, kritisierte Ulrike Kostka, werde das „Recht auf | |
Unterbringung“ in den Bezirken „sehr unterschiedlich gehandhabt“. | |
Unterschiedlich ist die Bewertung der beiden in Punkto Frauen: Kostka | |
erklärte, die Zahl von 14 Prozent, die bei der Straßenzählung angetroffen | |
wurden, sei zwar gering, aber für sie nicht überraschend: Aus Angst vor | |
Gewalt versuchten gerade Frauen, nicht auf der Straße zu übernachten. Ihr | |
Vorschlag: „Vielleicht sollte man die nächste Zählung am Tag machen.“ | |
Dies sei unmöglich, erwiderte Gerull. Tagsüber müsste man nicht nur die | |
Menschen auf der Straße, sondern alle zählen, die an diesem Tag bei den | |
Ämtern vorstellig werden: „Das ist nicht zu leisten.“ Auch sagte Gerull, | |
der 14-Prozent-Anteil an Frauen „hat mich wirklich überrascht“. Sie sei | |
eher von etwa 3 Prozent ausgegangen, die auf der Straße leben. | |
## Einrichtungen für Paare fehlen | |
[1][Vergangenen Freitag hatte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) die | |
Ergebnisse der ersten Berliner Obdachlosenzählung vom 29. Januar | |
vorgestellt]. Bislang waren Schätzungen von 6.000 bis 10.000 obdachlosen | |
Menschen in Berlin ausgegangen. Bei der Zählung waren jedoch „nur“ 807 auf | |
der Straße und 942 in Einrichtungen der Kältehilfe gezählt worden (siehe | |
Kasten). | |
Ein weiteres Ergebnis, das Armutsforscherin Gerull aus der „Nacht der | |
Solidarität“ mitnimmt: „Wir brauchen Einrichtungen für Paare.“ Von den … | |
auf der Straße Befragten hatten 25 angegeben, in einer Beziehung zu leben – | |
Obdachloseneinrichtungen sind bislang nach Geschlechtern getrennt. „Das ist | |
für viele ein Grund, nicht dorthin zu gehen“, so Gerull. | |
[2][Auf die verschiedentlich geäußerte Kritik], die Zahl von knapp 2.000 | |
stelle kein realistisches Bild des Phänomens dar, offenkundig hätten sich | |
viele Obdachlose versteckt, erwiderte Gerull, man habe sich aus ethischen | |
Gründen entschieden, die Betroffenen vorher – durch Aushänge und Ansprache | |
in den Einrichtungen – zu informieren. „Es war uns bewusst, dass manche | |
Menschen diffuse Ängste haben.“ | |
Wie viele dies seien, könne man nicht seriös sagen. Vergleiche man die | |
Berliner Zahl mit der von Hamburg – dort seien 2019 mit einer etwas anderen | |
Zählmethode 1.910 Obdachlose gezählt worden – liege man aber offenbar nicht | |
ganz falsch, so die Wissenschaftlerin. | |
## Misstrauen abbauen | |
Zugleich wies sie darauf hin, dass die nächste Zählung im Frühjahr/Sommer | |
2021 stattfinden soll und sie dann höhere Zahlen erwarte. „Es ist ja | |
bekannt, dass im Sommer die Bedingungen auf der Straße besser sind und die | |
Szene ganz anders ist“ – auch weil noch mehr Nichtberliner dazukämen. | |
Bis dahin könne man auch versuchen, das offenkundig vorhandene Misstrauen | |
bei Obdachlosen abzubauen, sagte Stefan Ziller, Sprecher der | |
Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus für Armutsbekämpfung, der taz. „Wir | |
haben jetzt eine Datengrundlage für bessere Angebote, jetzt müssen wir mit | |
allen in Dialog gehen.“ | |
Auch Gerull betonte, dass die Zählung, die man am besten alle eineinhalb | |
Jahre wiederhole, nur ein Baustein sei, um das ganze Ausmaß von | |
Wohnungslosigkeit zu erfassen. Die von ihr koordinierte AG | |
Wohnungsnotfallstatistik habe Breitenbach empfohlen, dazu noch die Menschen | |
zu erfassen, die an einem Stichtag in Einrichtungen der niedrigschwelligen | |
Wohnungslosenhilfe aufschlagen – etwa bei der Stadtmission oder in | |
Beratungsstellen. „Damit werden auch Couchsurfer und Menschen, die etwa in | |
Kellern oder Dachböden schlafen, erfasst.“ | |
9 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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