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# taz.de -- Arbeit mit Obdachlosen: „Die Leute wollen ihr Leben leben“
> Hartmut Schmidt ist trockener Alkoholiker und leitender Sozialarbeiter in
> einem Kreuzberger Wohnheim, das kranke obdachlose Menschen aufnimmt.
Bild: Hartmut Schmidt vor dem Siefos-Wohnheim in Kreuzberg
taz: Herr Schmidt, in welchem Zustand sind die Menschen, wenn sie in das
Wohnheim in der Waldemarstraße einziehen?
Hartmut Schmidt: Die meisten haben nichts weiter als das, was sie auf dem
Leibe tragen. Und das sollte man besser sofort vernichten, weil sie in
einem extrem verwahrlosten Zustand sind.
Wie kommen sie zu Ihnen?
Wir sind keine Notunterkunft, in die man einfach reinkommt, wenn man keinen
Platz zum Schlafen hat. Zu uns werden Leute von den bezirklichen Wohnhilfen
oder Krankenhäusern vermittelt, die obdachlos und in besonderer Weise
hilfsbedürftig sind.
Kein anderes Wohnheim in Berlin nimmt diesen Personenkreis auf. Welche
Biografien verbergen sich dahinter?
Bei uns gibt es Leute, die aus ihrer Wohnung geräumt wurden, die nichts
geregelt bekommen, denen das Wasser Oberkante Unterlippe steht. Wir haben
auch schon Leute aufgenommen, die 25 Jahre am Stück auf der Straße waren.
Diese Menschen sind mit ihren Kräften zumeist komplett am Ende. Das Leben
auf der Straße ist ungeheuer anstrengend. Wenn wir sie aufnehmen, müssen
wir sie regelrecht wieder aufpäppeln. Auch Leute, die studiert haben,
wohnen bei uns. Oder Leute, bei denen man denken würde: Donnerwetter, so,
wie der angezogen sind, ist er auf dem Weg ins Büro.
Was läuft anders als in anderen Wohnheimen?
In vielen Heimen haben die Bewohner nur einen Ansprechpartner – oft ist der
Hausmeister zugleich Sozialarbeiter. Wir sind 20 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter, davon sechs Sozialarbeiter. Der Leitgedanke ist, den Bewohnern
ein Zuhause zu geben, einen Platz, an dem sie zur Ruhe kommen können. Aber
alles, was wir anbieten, beruht auf Freiwilligkeit. Wenn die Bewohner das
möchten, entwerfen wir zusammen einen Plan, wie es weitergehen könnte. Aber
das ist kein Muss. Man muss aufpassen, dass man den Leuten nicht das eigene
Lebensmodell aufdrückt. Eine eigene Wohnung ist nicht für jeden
erstrebenswert, viele wollen das gar nicht.
Was wollen sie denn?
Die Leute wollen ihre Ruhe, sie wollen ihr Leben leben. Es gibt hier einige
Bewohner, die gehen morgens aus dem Haus und machen ihr Ding. Ich weiß
nicht, was sie im Einzelnen machen und das müssen sie mir auch nicht
erzählen. Abends kommen sie zurück und schlafen hier. Oft sind es nur
Krankheitsgründe, weshalb sie bei uns einziehen.
Kehren sie dann, sobald es geht, auf die Straße zurück?
Nicht unbedingt. Aber sie wollen ihre Eigenständigkeit behalten. Wir sind
ja auch ein bisschen unbequem. Wir achten darauf, dass gewisse hygienische
Standards erfüllt werden. Sie müssen ab und zu ihr Zimmer aufräumen, die
Kleidung wechseln oder duschen. Im Prinzip sind Sauberkeit und Ordnung
Privatsphäre, aber wenn sich abzeichnet, dass der Kammerjäger kommen muss,
greifen wir ein.
Gibt es eine verbindliche Hausordnung?
Bei uns ist fast alles ist verhandelbar. Das Einzige, was wirklich gegen
die Hausordnung verstößt, ist Gewalt, Gewalt gegen Bewohner und
Mitarbeiter. Wenn das passiert, muss man gehen. Auch bei Feuer sind wir
sehr empfindlich. Brandstiftungen in irgendeiner Form, Papier anzünden und
Ähnliches – das kommt gar nicht so selten vor. Zigaretten anzünden darf man
natürlich, aber Kerzen sind verboten.
Trinken im Heim ist erlaubt?
Wir sind eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe, nicht der Suchthilfe. Wir
wissen, dass die Leute, die auf der Straße leben, trinken, Drogen nehmen.
Oftmals hat sie das in diese Situation geführt. So nehmen wir sie auf und
dann dürfen sie hier auch trinken – was aber nicht heißt, dass es erwünscht
ist.
Sie arbeiten seit 22 Jahren in diesem Heim. Was macht die ständige
Konfrontation mit dem Elend mit Ihnen?
Manchmal ist es schwer, mit dem ganzen Unglück fertig zu werden, das
dahinter steckt. Dazu kommen die Gerüche, die Ausscheidungen
verschiedenster Art. Die Leute sterben hier ja auch. Sie übergeben sich,
sie koten sich ein. Wenn der Pflegedienst nicht helfen kann, weil die
Bewohner nicht den entsprechenden Pflegegrad haben, müssen wir sie
versorgen. Wenn sich das häuft, ist das manchmal schwierig.
Wie haben Sie das so lange ausgehalten?
Man tauscht sich mit den Kolleginnen und Kollegen aus und stützt sich
gegenseitig. Wir sind ein sehr fester Kreis. Als leitender Sozialarbeiter
habe ich mit der unmittelbaren Betreuung außerdem nicht mehr viel zu tun.
Ich bin für die Belegung unseres Hauses verantwortlich und halte die
Außenkontakte zu den Betreuern und Sozialarbeitern in den Ämtern und
Krankenhäuser.
Eine bewusste Entscheidung?
Irgendwann war ich an dem Punkt, wo ich gesagt habe, so geht das nicht
weiter. Wenn ich nichts ändere, macht mich das kaputt. Man nimmt das mit
nach Hause und wird es nicht mehr los, trotz Supervision.
Wie haben Sie mit der Obdachlosenarbeit angefangen?
Ich bin ein klassischer Quereinsteiger. Ich habe lange Soziologie studiert.
Nach diversen Universitätsbesuchen in verschiedenen Städten bin ich nach
Flensburg – meine Heimatstadt – zurückgekehrt. Dort habe ich gemerkt, dass
mein eigener Alkoholismus, mein eigenes Suchtproblem mir bei allem im Wege
steht. Ich hatte alles verloren, Arbeit, Wohnung.
Wie lange waren Sie da schon Alkoholiker?
Schon in der pubertären Zeit habe ich so viel wie möglich getrunken. Damals
dachte ich vielleicht, ich bin ein toller Hecht.
Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Was das angeht, habe ich ein Erbe angetreten. Als ich 1995 das erste Mal in
die Entgiftung ging, hatte sich mein Vater schon totgetrunken. Aber auch
danach war die Strategie meiner Familie darauf angelegt, dass sich nichts
verändert. Ich glaube, sie wären als Trinker besser mit mir
zurechtgekommen. Ich habe meine Familie dann aufgegeben.
Endgültig oder haben Sie inzwischen wieder Kontakt?
Nein. Aus den alten Konflikten gab es kein Entkommen. Mit meiner damaligen
Freundin war es anders. Wir sind inzwischen glücklich verheiratet. Nachdem
ich 1995 die Entgiftung gemacht hatte, war ich bei den Anonymen
Alkoholikern in Flensburg. Eineinhalb Jahre habe ich nüchtern gelebt, aber
irgendwann dämmerte mir, nur einfach die Flasche weglassen hilft mir nicht.
Ich habe immer gedacht, irgendwann muss doch die Sonne mal wieder aufgehen,
aber sie ging nicht auf. Im Januar 1997 wurde ich rückfällig.
Wie kam das?
Ich hatte mir ein, zwei Bier beim Kiosk geholt. Als ich die ausgetrunken
hatte, habe ich 20 neue besorgt. Als ich am nächsten Morgen zu mir kam,
habe ich zu mir gesagt: nie wieder diese ganze Würdelosigkeit. Du packst
sofort deine Sachen und fährst zu Synanon nach Berlin. In den eineinhalb
Jahren, die ich nüchtern war, hatte sich bei mir die Idee verfestigt: Wenn
ich rückfällig werden sollte, gehe ich in diese Drogentherapieeinrichtung.
Ich bin mir sicher: Wäre ich nicht nach Berlin gegangen, es wäre wieder
richtig losgegangen. Berlin war die Stadt, in der ich nie getrunken, in der
ich keine Verbindung zum Alkohol hatte.
In Berlin haben Sie knapp zwei Jahre in Suchthilfeeinrichtungen gelebt. Und
dann?
Mir war klar, hier will ich bleiben. Als ich mich wieder in der Lage fühlte
zu arbeiten, wurde ich gefragt, ob ich mir zutraue, ein Praktikum in einem
Wohnheim für obdachlose Menschen zu machen. So kam ich zu Siefos. Die
damalige Geschäftsführerin des Wohnheims hat mir nach dem Praktikum dann
einen festen Job angeboten. Meine einzige Bedingung war: Wenn ich das
Gefühl habe, dass ich mich in meiner eigenen Sucht gefährde, gehe ich. Aber
das war nie der Fall.
Sie haben nie wieder getrunken?
Nein. Ich bin extrem dankbar dafür, dass ich das nicht mehr muss. Aber ich
es stört mich nicht, wenn Leute in meiner Gegenwart trinken.
Wie würden Sie sich heute beschreiben?
Die Zeit der Sucht hat natürlich Narben hinterlassen. Ich bin sehr
vorsichtig und zurückhaltend. Hier jetzt dieses Interview zu geben, hat
mich im Vorfeld stark beschäftigt. Es ist eigentlich das erste Mal seit 20
Jahren, dass ich mich in dieser Form öffentlich äußere.
Meinen Sie nicht, dass andere von Ihren Erfahrungen profitieren können?
Eine ganze Zeit lang habe ich einen großen Antrieb verspürt, von meiner
Geschichte zu erzählen. Aber ich habe gemerkt: Den meisten Leuten ist es
lieber, man läuft geradeaus. Ich habe das dann sehr schnell gelassen. Meine
Triebfeder ist eher, das, was ich mache, gut zu machen. Ich habe so viele
Jahre Dinge schlecht gemacht.
Gibt es Personen, die für Sie ein wichtiger Kompass waren?
Ich habe im Laufe der Jahre sehr viele prägende Menschen kennengelernt.
Einer der wichtigsten, außer meiner Frau, war ein ehemaliger Pastor. Er hat
bei uns im Heim Leute besucht, die früher im Gefängnis waren, und mich
gefragt, ob wir hier nicht einen Gottesdienst abhalten können. Viele Jahre
haben wir das dann regelmäßig gemacht. Nie in meinem Leben habe ich einen
Menschen kennengelernt, der so ein offenes, weites Herz hatte wie dieser
Pastor. Das hat uns auch verbunden.
Wie drückt sich das aus?
Jeder Mensch, der hier bei uns als Bewohner angefragt wird, ist willkommen,
wenn ein Platz frei ist. Mit allen Marotten und Macken, egal, welche
Geschichte er hat.
Wie lange kann man hier bleiben?
Solange sie wollen und die Kostenträger dafür bezahlen. Einer, der viele
Jahre hier war und dem wir eine Wohnung besorgt haben, ruft immer noch
dreimal in der Woche bei mir an: Er habe Langweile. Als er einmal hier zu
Besuch war und im Haus jemand fürchterlich schrie, sagte er: Ach Mensch, so
was fehlt mir richtig, bei mir passiert doch den ganzen Tag nichts. Der
würde sofort wieder bei uns einziehen.
So wohl fühlen sich die Leute hier?
Manche, ja. Manche halten es hier auch nicht aus. Schon in geschlossenen
Räumen zu sein, ist für sie unerträglich, und auch, dass wir ihnen manchmal
reinreden. Sie hauen sofort wieder ab.
Auch schwere Gebrechen sind für Sie kein Grund, Menschen abzuweisen?
Nein. Wir hatten jetzt einen Fall, wo ein Mann aus einem Wohnheim in
Steglitz zu uns gekommen ist. Er hatte Darmkrebs und konnte dort nicht mehr
gepflegt werden. Herr Schmidt, ich möchte gerne sterben, aber ich möchte
nicht noch in ein Hospiz verlegt werden, hat er gesagt. Wir haben dann
alles für ihn organisiert: Pflege und Palliativmedizin, die Ärzte kommen
dann ins Haus. Vor wenigen Wochen ist er hier gestorben, wie er es wollte.
Seit November hatten wir neun Sterbefälle. Das ist recht viel. Sonst sind
es 10 bis 12 im Jahr.
Worauf führen Sie das zurück?
An Corona liegt das nicht. Bisher hatten wir noch keinen Infektionsfall.
Unsere Bewohner sind aber zunehmend hinfälliger. Menschen, die auf der
Straße leben, haben eine deutlich niedrigere Lebenserwartung. Statistisch
gesehen sterben Wohnungslose 23 Jahre früher als Menschen in geregelten
Verhältnissen.
Bei Ihnen leben weniger Frauen als Männer, wie kommt das?
Das Verhältnis ist etwa 1 zu 6, ungefähr so ist auch die Statistik bei
wohnungslosen Menschen. Frauen sind seltener, aber häufig älter. Sie kommen
meist besser zurecht, schließen sich oft irgendwelchen Männern an und
wohnen dann bei ihnen.
In einem Heim für Wohnungslose zu leben, ist vermutlich auch schambesetzt,
oder?
Für viele Leute ist es eine große Freude, endlich wieder einen
Personalausweis zu haben. Das hatten sie oft jahrelang nicht. Manche waren
so lange abgetaucht, dass sie beim Landeskriminalamt erkennungsdienstlich
behandelt werden müssen, weil es keinen mehr gibt, der ihre Identität
bestätigen kann. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass viele Leute nicht
von sich aus sagen, dass sie hier wohnen.
Als Siefos das Gebäude in der Waldemarstraße 2004 kaufte, haben Anwohner
mächtig Stunk gemacht. Was hatten Ihre Nachbarn gegen das Wohnheim?
Das war eine ähnlich hysterische Auseinandersetzung, wie man sie von
Flüchtlingsheimen kennt. Siefos musste damals von Friedrichshain nach
Kreuzberg umziehen, weil an unserem alten Standort die O2-Arena gebaut
wurde. Wenn die Obdachlosen kämen, könne man die Kinder nicht mehr alleine
zur Schule schicken, hieß es. Als wir eingezogen sind, haben wir ein
Sorgentelefon eingerichtet. Wir waren darauf eingestellt, Tag und Nacht mit
Beschwerden bombardiert zu werden. Aber von dem Tag an war Funkstille. Ab
und zu kam ein Anruf: „Einer eurer Bewohner liegt bei mir im Hausflur.“ Wir
sind dann sofort hin. Es waren aber immer Fremde. Wir haben uns aber auch
um die gekümmert.
Und heute?
Heute kommt manchmal ein Anruf: Wir haben ein paar Handtücher, die würden
wir gerne als Spende vorbeibringen. Man lebt in guter Nachbarschaft.
31 Jan 2021
## AUTOREN
Plutonia Plarre
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