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# taz.de -- Nachruf auf Wohnungslosen Gero W.: Die Apotheke war seine Bank
> Gero W. war bekannt wie kaum ein anderer Wohnungsloser in Berlin. Wenn
> ihm vermeintliches Unrecht geschah, setzte er sich zur Wehr.
Bild: Gero W. 2013 in seiner Zelle im offenen Vollzug
Berlin taz | Strubbelige Haare, beladen mit Taschen voller Bücher und
Zeitungen, hinkender Gang – so zog Gero W. durch Berlin. Äußerlich
unterschied er sich kaum von anderen Wohnungslosen. Aber Gero war bekannt
wie ein bunter Hund.
Keiner in der Obdachlosenszene hatte so eine große Klappe, war so gnadenlos
kompromisslos wie er. Vor allem, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte,
kannte Gero nichts. Er war ein zäher Knochen, aber irgendwann fordern das
Leben auf der Straße, der Drogen- und Alkoholkonsum seinen Preis. Am
vergangenen Dienstag ist Gero im Krankenhaus Köpenick gestorben. Er wurde
60 Jahre alt.
Ein trockengelegter Junkie auf Ersatzstoff sei er und in Berlin wohl der
Mensch mit den meisten Hausverboten, sagte Gero über sich. Vor allem
Kreuzberg, aber auch Neukölln und Wedding waren seine Welt. Aus
Discountern, Bahnhöfen und Sozialeinrichtungen wurde er vertrieben.
Obdachlosenunterkünfte waren ihm eine Pest. Die Nächte verbrachte er auf
Parkbänken, in Häusernischen oder in Vorräumen von Banken.
Am Ende war sein Radius stark eingeschränkt. Selbst in der Mozart-Apotheke
in der Wiener Straße und in der Tagesstätte für Wohnungslose „Am
Wassertor“, die wenigen Ankerpunkte in seinem Leben, ward er in den Wochen
vor seinem Tod nicht mehr gesehen.
Früher, als es ihm noch besser ging, kam Gero auch in die taz. Irgendwann
nach 2005, er hatte zuvor [1][eine längere Haftstrafe wegen Heroinhandels]
verbüßt, schlug er in der Rudi-Dutschke-Straße auf. Von da an kam er
regelmäßig, um sich die aktuelle Zeitung zu holen. Wenn er meinte, das
Kantinenpersonal sehe es nicht, packte er auch noch die übrige Tagespresse
ein. Auf den Sportteil der Süddeutschen Zeitung war der bekennende
Schalke-Fan besonders scharf. Lesen war sein Liebstes.
Lautstark forderte er journalistischen Beistand, wenn die Justiz mal wieder
hinter ihm her war. So kam es, dass die Autorin zu seiner Ansprechpartnerin
wurde. Mehrere Artikel über Gero sind im Laufe der Jahre erschienen. Auch
einen Kurzfilm in der Serie „berlinfolgen“ produzierten taz und 2470media
über ihn. Sein Porträt ist das meistgeklickte der 100-teiligen Serie.
Über sein früheres Leben hat Gero wenig erzählt. Geboren in Gelsenkirchen,
dort Abitur gemacht; sein bestes Fach sei Latein gewesen. 1978 kam er nach
Berlin, an der Freien Universität habe er Jura studiert, sei aber zweimal
durchs Staatsexamen gefallen. Er habe die Logik nicht verstanden, „die
Rechtswissenschaft hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun“. Mit Anfang 20 habe
er angefangen zu junken, Liebeskummer nannte er als Auslöser.
Manchmal, wenn er in die taz kam, hatte Gero eine kleine weißhaarige Frau
im Schlepptau. „Silberpappel“ nannte er die gebürtige Türkin, die 20 Jahre
älter war als er. Es war ein Mutter-Sohn-Verhältnis. Sie habe ihn auf einer
Parkbank angesprochen, erzählte Gero. Sie stand unter Vormundschaft, hatte
aber im Wedding eine kleine Wohnung. Immer öfter durfte er bei ihr duschen
und auf dem Sofa schlafen. Es wurde ein Dauerzustand.
Sie wusch und flickte seine Wäsche, er passte auf sie auf, wenn sie zum
Szenetreffpunkt am Kottbusser Tor gingen, „damit nicht alle ihren Tabak
schnorren“. Silberpappel hatte einen Putzfimmel, die Straße, die Scheiben
am U-Bahnhof, alles kam dran, immer hatte sie einen Besen und einen Lappen
dabei.
Gero saß oft im Knast. Zuerst wegen Drogenhandels, dann wegen kleiner
Delikte, die sich summierten. Beleidigung, Widerstand, Hausfriedensbruch.
Mal hatte er sich geweigert, einen Bahnhof zu verlassen, auf dem er
Hausverbot hatte. Oder er hatte BVG-Leute und Polizisten als „faschistoide
Lümmels“ bezeichnet.
Auch dass er bei Aldi eine Sonnencreme geöffnet und sich das Gesicht
eingeschmiert hatte, wurde angeklagt. Aus den Bewährungsstrafen wurden
irgendwann Gesamtfreiheitsstrafen gebildet, die er absitzen musste. Wenn er
[2][im Gefängnis] war, stapelte sich bei ihm die halbe Knastbibliothek.
Einmal – er hatte es geschafft, sich an der taz-Pförtnerloge
vorbeizuschummeln – stand Gero neben dem Schreibtisch der Autorin. Nach
Alkohol riechend, eine geöffnete Bierflasche in der Hand, wedelte er mit
einer neuen Ladung zu einem Gerichtstermin; wieder die üblichen Vorwürfe.
Aus dem Begleitschreiben ging hervor, dass in dem Prozess auch [3][seine
Einweisung in die Psychiatrie geprüft werden soll], „zum Schutz der
Allgemeinheit“. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Gutachten über ihn in
Auftrag gegeben.
## Als Einzige im Gerichtssaal: die Wachtmeister und die taz
Die einzigen Zuschauer bei diesem Prozess waren die Saalwachtmeister und
die taz. Mit spitzen Fingern waren Geros Taschen zuvor am Eingang
durchsucht worden. Drei Flaschen Bier wurden vorläufig einkassiert. Gero
war empört, beschimpfte die Beamten aber immerhin nur als „Lümmels“.
Als die Staatsanwältin die Anklageschriften verlas, wirkte er einen Moment
lang verunsichert. Die Taschen auf dem Boden verstreut, rutschte er auf
seinem Stuhl hin und her. Gero W. habe einen BVG-Beamten zu beißen
versucht, trug die Staatsanwältin vor. Die Wachtmeister im Saal guckten
entsetzt. Gero indes fuhr von seinem Stuhl hoch. „Wie kann ich mit sechs
Zähnen im Mund beißen?“, schrie er aufgebracht.
Wenn ihm vermeintliches Unrecht geschah, mobilisierte der schmächtige Mann
Bärenkräfte. Zu mehreren hätten die Zeugen anpacken müssen, um den wild um
sich Tretenden aus dem Bahnhof zu befördern, hieß es in der Anklage.
Gero wurde nicht psychiatrisiert. Der Amtsrichter machte es kurz und
verhängte eine weitere Bewährungsstrafe. Auf dem Weg zum Ausgang, zu seinem
Bier, hatte Gero schon wieder Oberwasser. Der Richter, „ein
Karrierejurist“, habe doch nur „schnell mit seinem Kleinwagen in die nicht
bezahlte Eigentumswohnung abdüsen wollen“.
So war Gero. Er ging voll in der Rolle des gesellschaftlich Geächteten, des
„Untermenschen“, wie er sagte, auf. Schuld waren immer die Anderen. Aber er
durchschaute die Mechanismen der Ausgrenzung total, brachte die Dinge
brutal auf den Punkt. Sein Gegenüber frappierte er damit immer wieder.
Gero war ein Einzelkämpfer, aber es gab ein paar Menschen, auf die er
zählen konnte. Am wichtigsten seien ihm Silberpappel und „der Junge“, der
sein Geld aufbewahre, sagte er mal. Gemeint war Ralf Wittenbröker, Inhaber
der Mozart-Apotheke in der Wiener Straße. Den kannte er seit den 1990er
Jahren.
Gero lebte von Grundsicherung, die er direkt beim Amt abholte. Daneben
erhielt er 150 Euro Unfallrente. Weil er kein Girokonto hatte, floss die
Rente auf Wittenbrökers Konto. Der zahlte Gero die Summe dann in Beträgen
von 10 oder 20 Euro aus, auch auf Vorkasse, weil das Geld meistens vor
Monatsende alle war.
„Harmonisch war die Beziehung nie, eher eine Hassliebe,“ nennt es
Wittenbröker. Wäre Gero nicht so ein Schlauer gewesen, hätte er das nicht
so lange ausgehalten. Fast täglich sei der in die Apotheke gekommen, auch
zum Aufwärmen, er habe ja überall Hausverbot gehabt.
„Wenn er da war, quatschte er die Kundschaft voll und erzählte einen vom
Pferd.“ Einmal, erinnert sich Wittenbröker, habe er Gero vor die Tür
gesetzt. Daraufhin habe sich der vor dem Schaufenster aufgebaut und sein
Genital aus der Hose geholt. „Er musste immer das letzte Wort haben.“
Gero gefiel es zu schocken. Auch aus der taz-Kantine flog er einmal raus
und zeigte aus Protest seinen Schwanz vor. Fragt man beim Personal nach,
heißt es, Gero habe deshalb Hausverbot bekommen. Stimmt nicht, sagt Sigrid
Renner, Chefin der Kantine. Aber sie habe sich Gero ordentlich vorgeknöpft.
Beinahe schuldbwusst habe der dann geholfen, das Geschirr abzutragen.
Seit dem Umzug in das neue Redaktionsgebäude in der Friedrichstraße Ende
2018 wurde Gero in der taz nicht mehr gesehen. „In die Luxusbude komme ich
nicht“, hatte er Renner angekündigt.
Vielleicht lag es auch daran, dass er immer hinfälliger wurde. Ungefähr
zeitgleich kam Silberpappel ins Pflegeheim, danach lebte er wieder ganz auf
der Straße. Zunehmende Demenz, offene Beine, verschleppte
Lungenentzündungen und kleine epileptische Anfälle führten zu längeren
Krankenhausaufenthalten. „Manchmal fiel er auf der Straße einfach um“, sagt
Wittenbröker. Am Ende sei er mit einem Rollator unterwegs gewesen.
Im Januar 2020 bekam Gero einen Platz im Heim für pflegebedürftige
Wohnungslose in der Waldemarstraße. Zum Schluss hatte er dort sogar ein
eigenes Zimmer. Vollkommen verwahrlost sei er gewesen und für alle eine
große Herausforderung, sagt der Sozialarbeiter des Heims, Hartmut Schmidt.
Manchmal sei Gero wochenlang nicht aufgetaucht. Aber der Platz sei immer
für ihn freigehalten worden, was keineswegs selbstverständlich sei. Geros
Sachbearbeiter im Bezirksamt habe sich sehr für ihn eingesetzt.
## Auf der Intensivstation
Gero war wieder unterwegs, als es geschah, so viel steht fest. Was genau
passiert ist, weshalb er ins Krankenhaus Neukölln eingeliefert wurde und
von dort nach Köpenick kam, ist nicht bekannt. Eine Sozialarbeiterin der
DRK-Klinik hatte Doreen Glamann Anfang Januar informiert, dass er auf der
Intensivstation liege und beatmet werde. Von Corona war nie die Rede.
Glamann leitet die Tagesstätte „Am Wassertor“, sie kennt Gero seit zehn
Jahren. Mit warmen Worten spricht sie über ihn. Je mehr er abgebaut habe,
umso schwieriger sei er gewesen. Überall sei er rausgeflogen, „bei uns war
er immer willkommen“. Gero sei ein grundehrlicher Mensch, so ehrlich, dass
viele das als Beleidigung empfunden hätten. Auch habe Gero sich immer für
das Befinden anderer interessiert. Teile seines Essens habe er aufgehoben
für Leute, denen es noch beschissener gehe als ihm. „Gero hat sich selbst
als Ratte bezeichnet“, sagt Glamann. Um Ratten müsse man sich keine Sorgen
machen, „die überleben überall“.
Ralf Wittenbröker wehrt ab, wenn man ihn fragt, ob er um Gero trauere. „Man
darf das jetzt nicht verklären.“ Die Einzige, die wirklich um ihn weine,
sei Silberpappel, sagt Wittenbröker. Regelmäßig habe Gero mit ihr von der
Apotheke aus telefoniert.
Am Tag nach Geros Tod rief Silberpappel vom Pflegeheim aus in der Apotheke
an. In den Wochen zuvor hatte sie immer wieder besorgt nach ihm gefragt.
Nun hat es ihr Wittenbröker sagen müssen.
18 Jan 2021
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## AUTOREN
Plutonia Plarre
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