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# taz.de -- Aktion für Obdachlose in Berlin: Ein gedeckter Tisch
> In Kreuzberg ist ein weihnachtlicher Treffpunkt für obdachlose Menschen
> entstanden. Die Initiative hofft, dass der Bezirk sie weiter gewähren
> lässt.
Bild: Tischlein deck dich: Kunst und Hilfe für Obdachlose am Maybachufer in Kr…
Berlin taz | Im Märchen deckt sich der Tisch von selbst. Am Neuköllner
Maybachufer hilft eine fast siebzigjährige Frau nach, damit dort täglich
Abendessen, Süßigkeiten und heißes Wasser für Tee und Kaffee bereitstehen.
Auf einer der Plattformen, die vom Uferweg über die Böschung Richtung Kanal
ragen, hat sie mit einem Freund einen weihnachtlich geschmückten
[1][Treffpunkt für obdachlose Menschen] eingerichtet. „Es hat mit einem
kleinen Schreibtisch angefangen“, sagt die Frau, die für die Öffentlichkeit
Anneliese heißen möchte. „Den habe ich beim Spazierengehen gesehen, habe
Eier gekocht und gedeckt“, sagt sie. „Dann haben alle mit angepackt.“
Inzwischen stehen weitere Tische, zwei Sofas, kleine Sessel, Stühle und ein
Weihnachtsbaum mit Lichterkette auf der Plattform. An einer Kleiderstange
hängen Klamotten zum Mitnehmen, daneben stehen Schuhe. Blickfänger ist ein
blaugrünes Iglu-Zelt, in dem Anneliese eine Krippe eingerichtet hat:
inmitten von Stroh liegt eine lebensgroße Babypuppe neben einer LED-Kerze,
ein struppiger Spielzeugesel und ein Weihnachtswichtel mit roter Mütze
leisten Gesellschaft.
Den mehrere Meter großen grün-weißen Schirm, der die Sofaecke vor Regen
schützt, habe jemand auf dem Fahrrad aus Köpenick hergeschoben, erzählt
Anneliese. Unter dem Schirm hängt ein Adventskranz, auch der Tisch ist
weihnachtlich geschmückt, Desinfektionsmittel steht bereit. Die Ecke ist
mit Planen etwas abgetrennt, ein Paravent dient als Tür, alte
Fahrradschläuche halten alles zusammen. „Das hier ist ein Puzzle aus dem,
was als Müll auf der Straße herumliegt“, sagt Anneliese. Nur die
Lichterketten und die Puppe habe sie beigesteuert. Ein Bekannter malte ein
Schild: „Tischlein deck dich für Obdachlose“, steht darauf. Passant*innen
bringen Kleiderspenden, Schlafsäcke, Essen oder Geld vorbei.
Anneliese hat einen Blick dafür, was Menschen, die fast nichts besitzen,
brauchen könnten – und ein Gespür für Dinge, die ihnen guttun. Wenn sie
abends die Runde mit ihrem Hund geht und jemanden sieht, der sich in einem
schlecht wärmenden Schlafsack zur Ruhe bettet, bietet sie an, einen der
besseren, warmen Schlafsäcke vorbeizubringen, die sie über Spender*innen
erhält.
## Quark und Kartoffeln
Wenn ihr jemand ohne Winterschuhe auffällt und sie später ein Paar in der
passenden Größe in den Kleiderspenden findet, legt sie die Schuhe beiseite,
bis derjenige wiederkommt. Ihr fällt auf, wenn jemand keine Strümpfe trägt.
Woher dieser Blick kommt? „Als Fünfjährige bin ich das erste Mal von zu
Hause weg und habe ein paar Tage Platte gemacht“, sagt sie. Auch als
Jugendliche habe sie auf der Straße gelebt.
Das Geld reicht auch bei ihr oft vorn und hinten nicht, trotzdem findet sie
Wege, um Tee auszuschenken oder für 30 Personen Pellkartoffeln mit Quark zu
kochen. „Wir hatten nicht genügend Teller, da haben wir sie einfach
durchgerissen, und alle haben Quark und Kartoffeln auf einem halben
Pappteller gekriegt“, sagt sie. „Das hat geschmeckt, die haben reingehauen
wie die Kesselflicker.“
Freunde sagen ihr: „Du kannst aus Scheiße Bonbons machen.“ Doch was ihr nun
seit mehreren Wochen am Maybachufer gelungen ist, scheint sie selbst zu
erstaunen. „Ich hatte hier schon Tränen – Freudentränen“, sagt sie. „…
Leute freuen sich, dass sie etwas Weihnachtliches sehen.“ Nichtdeutsche
Obdachlose kämen oft erst im Dunkeln. „Sie haben mehr Hemmungen, sie werden
noch öfter nur beiseitegeschoben“, sagt Anneliese.
Sie selbst nennt den Ort ein Kunstprojekt. Mit dem Ordnungsamt sind sie im
Kontakt: „Die wissen nicht so genau, wie sie uns einordnen sollen“, sagt
Anneliese, sie hofft, dass sie bleiben dürfen. „Wenn hier ein Pavillon
hinkäme, als fester Ort, an dem Obdachlose sich selbst organisieren, das
wäre mein Wunsch“, sagt sie. „Das hier ist ja erst mal nur ein Provisorium,
es ist uns gut gelungen, aber im Sommer kann man hier nicht weiter mit
Weihnachtsdeko stehen.“
## Selbstverwaltete Strukturen stärken
Im Bezirk hat man den Ort auf dem Radar – förmlich genehmigen könne man ihn
nicht. Aber wegen der „Intention des Gabentisches“ und der „momentanen
schweren Situation für Menschen, die kein Zuhause haben“, werde das
Ordnungsamt nicht gegen das Tischlein vorgehen – solange die
Coronabestimmungen weiter eingehalten würden, teilt eine Sprecherin mit.
Für die Polizei könne man aber nicht sprechen.
Für die Sozialverwaltung ist es weiterhin ein Ziel, selbstverwaltete
Strukturen unter wohnungs- und obdachlosen Menschen zu stärken.
[2][Senatorin Elke Breitenbach (Linke)] hatte selbst sogenannte [3][Safe
Places] ins Gespräch gebracht: mit Infrastruktur ausgestattete Flächen, auf
denen obdachlose Menschen [4][selbstbestimmt in Zelten oder Tiny Houses]
leben, von Sozialarbeiter*innen begleitet, und wo sie nicht vertrieben
werden.
Allerdings tritt dieser Punkt vor der akuten Versorgung von obdachlosen
Menschen aus Breitenbachs Sicht derzeit in den Hintergrund. „Die Idee der
Safe Places ist nach wie vor wichtig, aber während der Pandemie nicht
unsere höchste Priorität“, sagte sie.
Für Weihnachten hat Anneliese schon Kartoffelsalat und Würstchen
organisiert. Bis dahin möchte sie noch jeden Tag selbst am Maybachufer
stehen, Sachspenden sortieren, aufräumen, zum Hinsetzen und Zugreifen
einladen, zwischendurch auch mal für Ordnung sorgen, falls es Stress gibt.
„Dann können die Leute das selbst weitermachen, wir haben ja vorgemacht,
wie es geht“, sagt sie. „Ich kümmere mich und rede mit ihnen, aber
irgendwann ist man auch ein bisschen leer.“
Anneliese hat schon die nächsten Pläne. „Ich möchte im Sommer im Wald an
einem See ein Projekt machen, wo obdachlose Menschen ein paar Tage
hinkommen können und Urlaub machen“, sagt sie. „Ich muss nur noch eine
sonnige Lichtung finden, ein bisschen versteckt, dann baue ich aus
Fahrradschläuchen und Stöckern einen Weg dorthin.“
22 Dec 2020
## LINKS
[1] /Wohnungslosigkeit-und-Corona/!5723719
[2] /Obdachlose-in-Berlin/!5739894
[3] /Safe-Places-in-Berlin/!5695580
[4] /Tiny-Houses-fuer-Obdachlose/!5648767
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Obdachlosigkeit
Berlin-Kreuzberg
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Obdachlosigkeit
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Sozialarbeit
Obdachlosigkeit in Hamburg
Elke Breitenbach
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