# taz.de -- Vorsitzende über Winternotprogramm: „Wir erwarten keinen Dank“ | |
> Aline Zieher hat als Vorsitzende des Fördervereins Winternotprogramm die | |
> Grenzen ihrer Hilfsmöglichkeiten erfahren. Trotzdem macht sie weiter. | |
Bild: Aline Zieher: Kümmert sich ehrenamtlich um Menschen, die auf der Straße… | |
taz: Frau Zieher, wann haben Sie das erste Mal ehrenamtlich gearbeitet? | |
Aline Zieher: Im [1][Winternotprogramm] war das 2012. Davor war ich | |
beruflich sehr eingespannt und daher dementsprechend eingeschränkt. Seit | |
2009 habe ich aber auch ein anderes Ehrenamt. | |
Was ist das für eins? | |
Das ist eine Stiftung, deren Ziel es ist, sich mit einem Charity-Programm | |
ehemaligen Zwangsarbeitern speziell auf der Krim zu widmen und Forschung | |
zur nationalsozialistischen Zwangsarbeit zu fördern. | |
Sie meinen die Kurt-und-[2][Herma-Römer-Stiftung] in Hamburg? | |
Genau. Herma Römer war eine gute Freundin von mir, wir kannten uns schon | |
viele Jahre, als sie die Stiftung gegründet hat. Ich war immer irgendwie | |
involviert, auch wenn ich mich wegen meiner Berufstätigkeit nicht weiter | |
einbringen konnte. Sie ist 2009 gestorben und davor bin ich von ihr gebeten | |
worden, weiterhin für die Stiftung aktiv zu sein. | |
Und wie kamen Sie zum [3][Förderverein Winternotprogramm], der | |
wohnungslose Menschen verpflegt, die von der Stadt Hamburg im Winter zwar | |
ein Bett, aber kein Essen bekommen? | |
Manches ist auch Zufall im Leben. Ich hatte immer das Gefühl, dass | |
[4][Obdachlose] am Ende der gesellschaftlichen Pyramide stehen. Damals habe | |
ich nach einer sinnvollen Tätigkeit gesucht, die ich neben anderen Aufgaben | |
gut einmal die Woche für mehrere Stunden machen kann. Es hat zu dem | |
Zeitpunkt einfach gut gepasst. | |
Irgendwann ist aus den wenigen Stunden in der Woche aber ein Vollzeitjob | |
geworden. | |
Das stimmt wohl. 2016 haben die ehemaligen Vorsitzenden aufgehört. Es ist | |
oft im Ehrenamt so, dass es nicht so viel Interesse gibt, diese | |
Vorstandsjobs zu besetzen. Mein Kollege und ich haben eingewilligt, es zu | |
übernehmen. Denn den Verein aufzulösen, ist nicht denkbar gewesen. | |
Die „Bild“-Zeitung hat Sie mal als „Winterengel“ von Hamburg bezeichnet… | |
Oh ja, das war sicher lieb gemeint, aber da hatte ich echt mit zu ringen. | |
Stellen Sie sich mal vor, Sie schlagen die Zeitung auf und da steht, Sie | |
seien ein Engel! | |
Ach, es gibt bestimmt viele Menschen, die sich darüber freuen würden. Sind | |
Sie vielleicht einfach bescheiden? | |
Nein, ich finde es nur unpassend. Ohne meinen Kollegen, der die gesamte EDV | |
macht und aufgebaut hat, und meine anderen Kolleg*innen mit internen | |
Aufgaben ginge es niemals, die vielen freiwilligen Helfer eingeschlossen. | |
Darüber redet aber niemand. Es stimmt also einfach nicht. Das hat aus | |
meiner Sicht nichts mit Bescheidenheit zu tun. | |
Was tun Sie als Vorsitzende? | |
Im letzten Jahr haben wir mit 300 Freiwilligen das ganze Programm gewuppt. | |
Das muss man koordinieren und neue Freiwillige finden und begleiten. Es | |
werden Teams gebildet, die sich selbst organisieren. Wenn jemand ausfällt, | |
gibt es Springerlisten, damit immer genügend Leute da sind, die um Punkt 19 | |
Uhr ein Essen in den städtischen Unterkünften servieren. Dazu kommt die | |
Logistik, wir bekommen 40 Prozent der Lebensmittel von der Tafel, den Rest | |
kaufen wir dazu. Der dritte Schwerpunkt ist die Spendenakquise. | |
Was für Essen bereiten Sie zu? | |
Es gibt immer eine warme Suppe und belegte Brote. Die Brote sollen so | |
aussehen, wie es die Leute in den Auslagen der Bäckereien sehen, die sie | |
sich aber nicht leisten können. Und natürlich sollen sie gesund sein. Es | |
kommt also immer auch Gemüse aufs Brot. Tomatenbrot mit Zwiebeln ist der | |
Renner! Wir versuchen, immer eine Süßspeise anzubieten, weil die Menschen | |
auf der Straße unterkühlt sind und niedrigen Blutzucker haben. Ab 17 Uhr | |
können die Leute in die Unterkunft rein. Dann gibt es erst mal Kaffee oder | |
Tee und was Kleines gegen den Hunger – Obst, was Salziges oder das, was da | |
ist. Die obdachlosen Menschen wissen nach ein paar Wochen, dass ihre | |
Bedürfnisse befriedigt werden. Das bringt Ruhe in die Nacht. | |
Warum ist es Ihnen so wichtig, dass das Essen auch schön aussieht? | |
Es geht nicht nur um die reine materielle Befriedigung. Ein schönes Essen | |
gibt den Menschen vielleicht ein bisschen von ihrer Würde zurück. Wir | |
wollen alle Geschmäcker treffen. Es ist schön zu sehen, wenn es die Leute | |
freut. Speziell um Weihnachten rum bemühen wir uns sehr. Die obdachlosen | |
Menschen sind in der Zeit schlecht drauf, weil es sie an ihre besseren | |
Zeiten erinnert. Das ist schon eher ambivalent – auf der einen Seite schön, | |
auf der anderen Seite traurig. Letztes Jahr haben wir kleine Päckchen | |
gepackt mit Schoki und Handschuhen. Das sind Kleinigkeiten, die sehr viel | |
bewirken können. | |
Ist das diesen Winter mit der [5][Coronapandemie] überhaupt möglich? | |
Im Sommer hat die Stadt die Unterkünfte offen gelassen und die Versorgung | |
übernommen. Mit unserem städtischen Partner „Fördern und Wohnen“ haben w… | |
uns im August auch schon gefragt, wie wir das mit ehrenamtlicher | |
Unterstützung diesen Winter machen können. Wir haben alle Varianten | |
durchgespielt, aber das Infektionsrisiko ist einfach zu hoch. Deswegen | |
kümmern wir uns nur um das Frühstück und die Stadt bezahlt einen Caterer | |
für das Abendessen. Trotzdem wollen wir in der Vorweihnachtszeit den | |
Menschen weiterhin Kleinigkeiten vorbereiten. Und wir versuchen unsere | |
Spender auch darauf aufmerksam zu machen, andere Dinge bereitzustellen. | |
Ganz wichtig ist frische Unterwäsche. Auch Socken und Handschuhe sind | |
Mangelware. | |
Sollte die Stadt nicht eigentlich auch unabhängig von Corona für eine | |
Verpflegung von obdachlosen Menschen sorgen? | |
Die Unterkünfte werden aus Steuergeldern finanziert. Normalerweise ist es | |
so, dass die Menschen einen Leistungsanspruch haben, wenn sie eine gewisse | |
Zeit gearbeitet haben. Diese systemimmanente Logik ist die Begründung | |
dafür, weshalb es nicht möglich ist, dass die Stadt die Verpflegung | |
zusätzlich finanziert. | |
Sollte die Politik da mehr in Verantwortung genommen werden? | |
Da muss man sich eher fragen, ob unser System der Obdachlosenhilfe generell | |
noch angemessen ist. Es gibt Projekte wie zum Beispiel das „[6][Housing | |
First]“, wo obdachlose Menschen erst mal in eine Unterkunft gebracht werden | |
und sie dann dabei begleitet werden, in ihr ziviles Leben zurück zu finden. | |
Das schaffen nicht alle Menschen, wenn sie zu lange auf der Straße gelebt | |
haben, aber perspektivisch wäre das ein besserer Weg. Aber als | |
Ehrenamtliche kann man sich auch nicht mit allem vertraut machen. Man muss | |
seine Grenzen kennen. | |
Was meinen Sie damit? | |
Keiner von uns ist Profi in der Obdachlosenhilfe. Da braucht es Erfahrung | |
und Sachverstand. Wir konzentrieren uns darum auf das, was wir gut können. | |
Und 300 ehrenamtlich tätige Menschen und die ganze Logistik zu managen, | |
braucht eben auch seine Zeit. Wir haben nicht die Illusion, dass wir | |
irgendetwas an der generellen Situation der Menschen ändern. | |
Frustriert Sie das nicht auch manchmal? | |
Ich habe mir schon mal die Frage stellt, was wir da eigentlich machen. Und | |
ob es langt. Man braucht aber diesen realistischen Blick. Wenn man etwas | |
macht, sollte man es gut machen. Natürlich überlegen wir uns im Vorstand | |
auch perspektivisch, wie wir unsere Arbeit ausbauen könnten. Aber wir sind | |
rein spendenbasiert, wir werden nie ein Haus kaufen können mit Wohnungen | |
für Obdachlose. Darüber Frust aufzubauen, bringt nichts. Dann macht man | |
lieber den Teil, den man machen kann. Und zwar gut und zuverlässig. | |
Sie sind eigentlich seit sieben Jahren im Ruhestand. Sehnen Sie sich nicht | |
manchmal nach der Ruhe? | |
Ja, manchmal wird es vielleicht zu viel. Aber ich habe mich dafür | |
entschieden. Natürlich geht man auch eine Verpflichtung ein, aber wenn es | |
mich nicht erfreuen würde zu sehen, dass es funktioniert und bei den | |
betroffenen Menschen ankommt, würde ich es nicht tun. In der Essensausgabe | |
erkennt man die Leute manchmal wieder, macht einen Schnack und behandelt | |
sie mit Respekt. Das freut die Menschen. | |
Hat sich Ihre Denkweise über Obdachlosigkeit über die Jahre verändert? | |
Ich hatte schon immer einen Blick auf gesellschaftliche Dinge, aber ich | |
kannte die Schicksale obdachloser Menschen nur aus der Zeitung. Da | |
verändert sich etwas, wenn man direkt mit den Betroffenen in Berührung | |
kommt. Man lernt, dass man Glück gehabt hat im Leben. Vielleicht klingt es | |
übertrieben, aber es macht auch demütig. Im Sinne von: Gib mal was zurück | |
an die Gesellschaft, wenn dir selbst extreme Schicksalsschläge erspart | |
geblieben sind. | |
Woher kommt Ihr Interesse an gesellschaftlichen Problemen? | |
Ich habe Soziologie studiert. | |
Und woher kam Ihr Interesse für Soziologie? | |
Meine Großmutter, Jahrgang 1892, war erklärte Sozialdemokratin. So verlief | |
auch ihr Leben. Sie hat Erzieherin gelernt und studiert, was für die | |
damalige Zeit sehr besonders war. Da gibt es also sicher familiäre | |
Hintergründe. | |
Man merkt, dass Sie nicht so gern über sich selbst sprechen. | |
Ich möchte mich nicht so herausheben. Dass wir mit dem Winternotprogramm | |
erfolgreich sind, liegt daran, dass wir ein gutes Team im Vorstand sind. Es | |
ist ein Gemeinschaftsprodukt. Einer muss eben den Vorsitz machen. Es ist | |
mir persönlich nicht so angenehm, über mich zu sprechen, aber es ist auch | |
einfach der Sache nicht adäquat. | |
Wie ist denn eigentlich die Resonanz der obdachlosen Menschen auf Ihre | |
Hilfe? | |
Ich würde sagen … überwiegend positiv. | |
Nur überwiegend? | |
Manche obdachlosen Menschen haben schlimme Dinge erlebt. Man fragt | |
natürlich nicht nach. Sie sind dann eher verhalten. Aber wenn man genauer | |
hinguckt, sieht man, dass sie sich doch sehr darüber freuen. Meine Devise | |
ist: Kein Obdachloser muss sich bedanken. Im Ehrenamt kommt es auf die | |
Haltung an. Wenn man Dank erwartet, sollte man gar nicht erst anfangen. | |
Klar, kriegt man viel zurück und man tut es auch für sich. Aber zu | |
erwarten, dass der andere Mensch mit einer Haltung der Dankbarkeit | |
entgegentritt, finde ich respektlos. | |
18 Dec 2020 | |
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[1] /Ein-Dach-ueberm-Kopf-fuer-Obdachlose/!5719858 | |
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[3] https://www.winternotprogramm.de/ | |
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## AUTOREN | |
Sarah Zaheer | |
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