# taz.de -- Umgang mit Obachlosigkeit: Der akzeptierte Missstand | |
> Obdachlose brauchen keine Almosen. Sie bräuchten eine warme Wohnung, ein | |
> Bett, einen gefüllten Kühlschrank und jemanden, der sich um sie kümmert. | |
Bild: Februar 2021 in Hamburg: Ein Mensch schläft im Eingang eines Kaufhauses … | |
Es ist kalt geworden im Norden, und Menschen, die auf der Straße | |
übernachten, können erfrieren. In Hamburg sind in diesem Winter schon 12 | |
Menschen gestorben. Obdachlose Menschen scheinen in einer anderen Welt als | |
der unseren zu leben, nach anderen Regeln und unter Umständen, die für uns | |
unvorstellbar sind, aber sie leben hier, bei uns, in unserer Stadt. Sie | |
haben kein Zuhause, kein Bett, kein Badezimmer, keinen Kleiderschrank, | |
keine Bilder an der Wand, keine Bücher und keinen Fernseher, sie haben | |
keine Zuflucht und keine Sicherheit. | |
Ein solches Leben ist für mich unvorstellbar. Und immer wenn ich mit | |
jemandem darüber zu reden versuche, betrete ich vermintes Gelände. Viele | |
Dinge sind nur schlecht anzusprechen, obwohl sie nun mal so sind, wie sie | |
sind. Aber in diesem Zusammenhang sind die meisten Leute sehr dünnhäutig, | |
vielleicht, weil sie mit diesem Thema, mit diesem Sachverhalt einfach nicht | |
klarkommen, und so ähnlich geht es mir auch. | |
Ich komme damit einfach nicht klar, ich bin darüber sehr ratlos und auch | |
wütend. Warum es anscheinend so sein muss, warum eine Gesellschaft, die | |
ganze Firmen über die Coronazeit retten kann, Milliarden zur Rettung von | |
Unternehmen auszahlen kann, warum diese anscheinend so solvente, | |
leistungsfähige, krisensichere Gesellschaft nicht in der Lage ist, sich um | |
wirklich bedürftige Menschen zu kümmern? | |
Ich war in Planten un Blomen spazieren, es war wirklich kalt, da lag ein | |
Mensch auf einer Bank, in viele Schichten Stoff eingewickelt wie eine Puppe | |
und stank so stark, dass mir schlecht wurde. Es war mitten am Tag, der | |
Mensch war wach und bei Sinnen und er wollte keine Hilfe, sondern nur seine | |
Ruhe. Seine Ruhe in dieser Kälte in diesem schrecklichen, würdelosen | |
Zustand, in dem er sich befand. Was nützen da fünf Euro, was nützt ein | |
Kaffee oder ein Brötchen, das ist nett gemeint, aber was nützt es ihm denn? | |
Ich sehe hier bei der Überdachung hinter dem Lessingtunnel immer ein | |
verlassenes Schlaflager eines obdachlosen Menschen. Und jetzt, wo es so | |
kalt ist, legen manche Menschen Sachen dort hin, Spenden, Geld, etwas zu | |
essen, ein Fell, Dinge, die dem obdachlosen Menschen vielleicht helfen | |
könnten, der Wille ist da, das Mitleid. Ich sehe, wie sich meine | |
Facebookfreunde um die obdachlosen Menschen sorgen, sie teilen die Nummer | |
vom Kältebus (0151 / 65 68 33 68) oder Tipps, wie man mit Menschen umgehen | |
soll, wenn sie einem gefährdet vorkommen. Sie fühlen sich schlecht, weil es | |
anderen Menschen schlecht geht, weil sie im Kalten wohnen, während sie | |
selber es warm haben. | |
Die Mitarbeiter des Kältebusses bitten allerdings darum, die obdachlosen | |
Menschen erst zu fragen, ob und welche Hilfe sie überhaupt wollen. Man kann | |
Menschen nicht zwingen. Diese ganzen Hilfen, Spendenaktionen, privaten | |
Initiativen, die gut und vor allem leider sehr notwendig sind, auch die | |
kleinen Dinge, das Brötchen, der Kaffee, die netten Worte, sie können das | |
Problem aber nicht wirklich lösen, sondern nur Löcher flicken, Stege bauen, | |
wo ein Abgrund klafft. | |
Ist das Ausdruck unserer gesellschaftlichen Freiheit, dass Menschen ohne | |
Unterkunft erfrieren können? Ein Mensch, wie ich ihn im Planten un Blomen | |
auf der Bank liegen sah, in so schlechter körperlicher Verfassung, kann | |
dafür tatsächlich der Mensch selbst die ganze Verantwortung tragen und sind | |
wir als Gesellschaft nur der Mildtätigkeit verpflichtet? So ein Mensch | |
bräuchte eine warme Wohnung, ein Bett, einen gefüllten Kühlschrank, er | |
bräuchte auch jemanden, der sich um ihn kümmert und keinen Euro. | |
Die Sache ist die, wir haben uns damit arrangiert, wir arbeiten an unseren | |
Arbeitsplätzen innerhalb dieses Systems, das Armut und Reichtum | |
hervorbringt, und wir suchen selbst, in diesem System, ein Stück weiter | |
nach oben zu gelangen, damit wir uns möglichst weit von der Gefahr der | |
Armut entfernen. Aber es ist kein gutes System, in dem Freiheit auch die | |
Grausamkeit der Gewöhnung bedeutet, solche Missstände zu akzeptieren, ohne | |
dass es eine gesellschaftliche Verpflichtung gibt, ihnen grundlegend und | |
umfassend abzuhelfen. | |
11 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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