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# taz.de -- Marktkirche beherbergt Obdachlose: Isomatten auf heiligem Boden
> Auf Bitten der Stadtverwaltung hat Hannovers Marktkirche zehn
> Schlafplätze eingerichtet, die Obdachlose vor dem Winterwetter schützen
> sollen.
Bild: Mit Corona-Abstand: Schlafende Obdachlose im Seitenschiff von Hannovers M…
Hannover taz | Am Dienstagabend liegt die hannoversche Innenstadt tief im
Pulverschnee. Die Seitentür zur Marktkirche, einem Wahrzeichen der Stadt,
steht offen. Aus dem Inneren dringt gedämpft Orgelmusik. Direkt neben dem
Eingang ist auf den 25 Metern Länge des Seitenschiffs der Kirche ein roter
Teppich ausgerollt. Isomatten, Schlafsäcke und Laken liegen mit etwas
Abstand zueinander auf dem Boden.
Seit Sonntagabend hat die evangelisch-lutherische Gemeinde der Marktkirche
eine Notschlafstelle für bis zu zehn Personen eingerichtet. „Als Kirche
sind wir bei den Nöten und Ängsten der Menschen und da ist es für uns
selbstverständlich, dass wir diese Kirche öffnen“, sagt Stadtsuperintendent
Rainer Müller-Brandes.
Die Hilfe durch die Stadtbevölkerung sei groß, sagen die Verantwortlichen.
Freiwillige sind die ganze Nacht hier, bieten Essen und heiße Getränke an.
Zusätzlich hilft ein Sicherheitsdienst bei der Nachtwache – das ist der
Anteil der Stadt am Projekt in der Marktkirche.
Die Dezernentin für Soziales und Integration Sylvia Bruns (FDP) hatte die
Kirche um Unterstützung gebeten. „So sieht gelebte Solidarität für mich
aus“, sagt Bruns. „Wir arbeiten Hand in Hand und Seite an Seite mit
sozialen Träger*innen und ehrenamtlich Engagierten, um hilfsbedürftige
Menschen in Notsituationen zu unterstützen.“
Die Pastorin der Gemeinde, Hanna Kreisel-Liebermann, wundert sich über das
Vorgehen der Sozialdezernentin. „Ich fand das in gewisser Weise skurril,
weil die Stadt ja für die Unterbringung verantwortlich ist.“ Die
Kirchgemeinde biete nur eine überaus einfache Unterkunft, ohne jegliche
Privatsphäre, an. „Andererseits bin ich mir sicher, dass Leute
hierherkommen, die wirklich nirgendwo anders hinkommen würden“, räumt die
Pastorin ein.
Auf einem der Stühle in der Kirche sitzt ein junger Mann. Er trägt einen
Schal im Burberry-Stil. „Luca Feldmann“ ist 20 Jahre alt. Seinen echten
Namen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. Ihm sei es wichtig, dass
Menschen ihm nicht ansehen, dass er obdachlos sei, sagt er. In der
Notunterkunft „Alter Flughafen“ drohe Gewalt, erzählt er und zeigt Narben
an seinem Kopf von Angriffen. Am Sonntag war er der Erste, der zum Schlafen
in die Marktkirche kam.
Seit Monaten hatten Initiativen, Sozialarbeiter*innen und karitative
Verbände auf Gefahren für wohnungs- und obdachlose Menschen in der
Coronapandemie hingewiesen. Unzählige Male hatten sie vor Kältetoten
gewarnt. Mehrere Personen sind seit September bereits auf Hannovers Straßen
gestorben.
Die Stadt hat noch bis Ende Oktober Obdachlose in Hotels untergebracht und
ausgerechnet mit Beginn des Winters damit aufgehört. Weil viele Betroffene
die städtischen Notschlafstellen ablehnen, mieteten mehrere Stiftungen im
Dezember leer stehende Hotels, um Menschen unterzubringen.
Aktivist*innen besetzten Leerstand und Betroffene nahmen sich Wohnraum
im Dezember einfach selbst.
Vor wenigen Wochen hat die Stadt auch das Projekt „Plan B – OK“ gestartet.
Es soll 21 Menschen mit intensiver sozialarbeiterischer Betreuung helfen,
selbstständig zu wohnen und damit aus der Obdachlosigkeit zu finden.
„Housing First“ heißt das Prinzip.
Die Notschlafstellen seien vorbereitet, heißt es immer wieder von der Stadt
und trotz des kalten Wetters seien Kapazitäten frei. Zusätzlich wurde in
der Ada-und-Theodor-Lessing- Volkshochschule ein temporärer Tagestreff
eingerichtet. Vier Männer schlafen hier am Mittwochmittag auf dem
Fliesenboden. Ein Korb Brötchen und heiße Getränke stehen bereit. Es gibt
fünf Sitzplätze an Tischen.
## Das Angebot besteht nur noch bis Sonntag
Auf die Frage, warum die Menschen nicht über Nacht bleiben könnten, können
weder die Verantwortliche der Volkshochschule, noch die Stadt eine Antwort
geben. Eine Ausweitung des Projekts sei aber möglich. Immerhin ist die
Marktkirche in Laufweite und die Öffnungszeiten sind abgestimmt. Die
Projekte seien als Kombination zu verstehen, sagt die Stadt.
Luca Feldmann, der das Angebot der Kirche dankbar annimmt, findet, das
Handeln der Stadt sei mehr Schein als Sein. „In anderen Städten wie
Frankfurt und Berlin, werden Obdachlose in Hotels untergebracht“, sagt er.
Für den Moment habe er nun aber etwas Ruhe und eine Basis. Um von der
Straße wegzukommen, fehle ihm aber das Fundament. Die Marktkirche sei nun
erst mal sein Wohnzimmer.
Am Ende der Woche wird Luca wieder den Trott zwischen Notschlafstelle und
Tagestreff beginnen müssen. Zurzeit ist der Stadtbahnbetrieb wegen
Frostschäden eingestellt. Das Angebot in der Marktkirche besteht nur noch
bis Sonntag. Dann wird entschieden, ob die Notangebote weitergehen. Mit
einem Blick auf das Wetter scheint dies wahrscheinlich.
11 Feb 2021
## AUTOREN
Michael Trammer
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