# taz.de -- Kältehilfe für Obdachlose in Berlin: Aufwärmen unter der Diskoku… | |
> Im Festsaal Kreuzberg in Berlin können sich Obdachlose bei Minusgraden | |
> tagsüber aufhalten. Doch das Angebot nehmen nur wenige wahr. | |
Bild: Kältehilfe im Festsaal Kreuzberg | |
Ein bisschen wirkt der Festsaal Kreuzberg wie eine Katastrophenunterkunft. | |
Menschen sitzen vereinzelt oder in kleinen Gruppen verstreut im Raum, als | |
harrten sie hier während eines Hochwasserunglücks oder einer | |
Bombenentschärfung aus. Dazwischen organisieren Helfer in gelben Westen | |
warme Kleidung. Es riecht nach Kaffee und ungewaschenen Körpern. Doch | |
anders als bei einer unerwarteten Tragödie ist von Panik nichts zu spüren, | |
denn ein Zuhause hat hier niemand mehr zu verlieren. Der Festsaal ist noch | |
bis zum 18. Februar geöffnet für Obdachlose, die der klirrenden Kälte | |
entfliehen, denn nicht nur nachts erreichen die Temperaturen in Berlin | |
momentan Tiefstwerte. | |
„Das ist wirklich ein Spiel auf Leben und Tod“, betont Thomas Engler* | |
[1][von Karuna e. V.] Zwar könnten die Wohnungslosen zu Winterzeiten auch | |
tagsüber in den Notunterkünften bleiben, wenn sie dort übernachtet haben. | |
„Allerdings öffnen die Unterkünfte eben erst abends, da dann auf Corona | |
getestet wird, wer dort übernachten möchte“, sagt Engler. Mittags einfach | |
vorbeizukommen sei nicht möglich. | |
Mit drei Bussen fahren Engler und sein Team durch die Stadt und bieten | |
Wohnungslosen an, sie im Rahmen der Kältehilfe in den Festsaal zu bringen. | |
„Wir bekommen täglich bis zu hundert Anrufe, wenn Bürger uns auf Obdachlose | |
aufmerksam machen“, erzählt er. „Dass die Bevölkerung mithilft, ist toll.… | |
Jedoch wollen nur die wenigsten Wohnungslosen das Angebot im Festsaal | |
wahrnehmen. Manche hätten Angst vor Diebstahl oder haben in Unterkünften | |
bereits Gewalt erlebt, so Engler. Trotz Minusgraden wärmen sich an diesem | |
Nachmittag nur etwa fünf bis sieben Menschen in der Halle auf. Sie bleiben | |
für sich, laden stumm ihr Handy auf oder essen. Auf die Leinwand, auf die | |
in Dauerschleife „The Big Bang Theory“ projiziert wird, schaut niemand. | |
## Grenzen austesten | |
An einem Stehtisch steht Julian. Seinen richtigen Namen will er nicht | |
nennen. „Namen sind doch nur Schall und Rauch“, lacht er. Über ihm schwebt | |
eine Diskokugel. Angewiesen sei er auf das Angebot der Kältehilfe nicht. Er | |
wohne momentan mit anderen Obdachlosen im Hostel, aufgrund der | |
Coronapandemie sogar in einem Einzelzimmer. „Ich wollte nur mal gucken, wie | |
es hier so ist“, sagt er, während er Reis aus einer Pappschale löffelt. | |
Normalerweise lebt er in einem Zelt, draußen in einem der Berliner Wälder. | |
Obdachlos sei er seit anderthalb Jahren, und zwar freiwillig, betont er. | |
„Ich wollte die Grenzen austesten, mit wie wenig ich auskommen kann. Das | |
tut [2][die Tiny-House-Bewegung ja auch], nur so was konnte ich mir eben | |
nicht leisten.“ Über die Runden komme er meist mit dem Sammeln von | |
Pfandflaschen. „Ich mache Tankstellen“, sagt Julian pragmatisch. „Vor | |
Corona konnte man davon gut leben, jetzt eher nicht.“ | |
Richtig problematisch sei die Lage aber vor allem für Obdachlose ohne | |
deutschen Pass. „Wer kein Deutscher ist, kann auch keine Grundsicherung | |
beantragen“, sagt er. „Die müssen bei jedem Wetter draußen bleiben, um Ge… | |
auch für Suchtmittel aufzutreiben.“ Die wirklich Verzweifelten, da ist er | |
sich sicher, wollen und können nicht tagsüber herkommen. | |
So ist im Festsaal alles ruhig. Probleme oder Streitereien habe es seit der | |
Öffnung am 10. Februar nicht gegeben, [3][sagt Björn von Swieykowski. Der | |
Manager des Festsaals Kreuzberg] lässt in seinen Hallen normalerweise | |
Partys und Konzerte stattfinden. Die Öffnung als Kälteunterkunft ist quasi | |
über Nacht geschehen. „Die Senatsverwaltung für Soziales hat uns am 9. | |
Februar gefragt, ob hier eine Taskforce für Obdachlose entstehen könnte, | |
und am nächsten Vormittag waren die ersten Leute hier“, sagt er. | |
Finanzielle Unterstützung erhält er von Senatsseite nicht, allerdings | |
kümmert sich um Logistik und Verpflegung auch die Karuna-Einsatzgruppe. | |
„Karuna und die Sozialverwaltung haben über tausend Schlafplätze in Hostels | |
organisiert, das ist schon beeindruckend“, lobt von Swieykowski. Nach der | |
sozialen Verantwortung gefragt, die die Kulturbranche trägt, überlegt er | |
kurz. „Die Bereitschaft zu helfen, gerade auch in der linken Clubszene, ist | |
schon hoch“, sagt er dann. „Den meisten Veranstaltern geht es aber gerade | |
selbst nicht gut.“ | |
## Schnelltest im KitKat | |
Doch tatsächlich tun sich gerade die gebeutelten Clubs und Bars in der | |
Coronapandemie mit sozialem Engagement hervor. Während private Anbieter für | |
einen Schnelltest gut zwischen 50 und 80 Euro verlangen, gibt es den | |
stadtweit günstigsten Test im KitKat. Für 24,90 Euro wird im | |
Schnellverfahren getestet, wo sonst Sex- und Technopartys gefeiert werden. | |
Ähnlich günstig ist der Test mit 30 Euro noch im Kreuzberger Café „Die | |
Lilie“ zu haben, wo sich drei umliegende Cafés und Bars zusammengeschlossen | |
haben. | |
Auch die berüchtigten Berliner Bouncer helfen mit: So waren beim ersten | |
Berliner Impfzentrum in der Arena in Treptow auch Türsteher aus Clubs daran | |
beteiligt, das Impfgeschehen in den Griff zu kriegen. Das ergibt Sinn, denn | |
wer kennt sich schon besser damit aus, eine aufgeregte Menschenmasse zu | |
kanalisieren? | |
„Es gibt Menschen, die geben dir schnell ein bisschen Kleingeld, und | |
Menschen, die wirklich helfen wollen“, sagt Tobii. Der 23-Jährige wärmt | |
sich tagsüber im Festsaal Kreuzberg auf, am nächsten Tag will er | |
wiederkommen. In ein paar Tagen, so erzählt er, habe er einen Termin zum | |
Beantragen eines Personalausweises. Dann könne er Arbeitslosengeld bekommen | |
und in betreutes Wohnen einziehen. „Ich bin jetzt seit neun Jahren, einer | |
Woche und fünf Tagen obdachlos“, sagt er. Auf der Straße gelandet sei er | |
nach dem Tod seiner Eltern, da war er vierzehn. „Ich bin durchs soziale | |
Raster gefallen“, sagt Tobii. | |
Er wählt seine Worte sorgfältig, reflektiert seine Situation nüchtern. Ohne | |
einen festen Wohnsitz habe er trotzdem Abitur gemacht, „mit | |
Zweier-Durchschnitt“. Sogar eine Ausbildung habe er angefangen, diese dann | |
aber wegen seiner Heroinabhängigkeit abgebrochen. „Ich habe so viele Drogen | |
genommen in meinem Leben, aber bin jetzt seit Jahren schon clean“, sagt | |
Tobii, der zwar müde Augen, aber einen wachen Blick hat. Oder einen | |
wachsamen, denn er habe lange Zeit unter paranoider Schizophrenie gelitten. | |
## Nur wer noch Hoffnung hat, kommt | |
War er deswegen schon mal in psychotherapeutischer Behandlung? Tobii lacht | |
verhalten. „Ja, aber ich wurde nach ein paar Terminen als geheilt | |
entlassen“, sagt er. „Ich kommuniziere irgendwie auf einer höheren Ebene, | |
die Leute verstehen mich einfach nicht.“ Ohne die Hilfe von Karuna, das | |
weiß Tobii, schafft er es nicht aus der Obdachlosigkeit. „Ich habe schon | |
Anwälte, Gutverdiener auf der Straße getroffen“, sagt er. „Das ist wie | |
Heroin, wenn die Straße einmal in einem drin ist, ist sie drin.“ Auch er | |
glaubt, dass in den Festsaal nur kommt, wer noch Hoffnung hat. „Nur die, | |
die sich helfen lassen wollen, nehmen so ein Angebot an“, sagt er. | |
Irgendwann komme der Moment, da sei einem auf der Straße alles egal. | |
Erfrieren sei auch kein schlimmerer Tod als andere. | |
*Aus Sicherheitsgründen dürfen die Namen der Taskforce-Mitglieder:innen | |
nicht genannt werden | |
16 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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