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# taz.de -- Wohnungslose in Deutschland: Hilfe auf Augenhöhe
> Obdachlose in Deutschland erfrieren, während tausende Hotelbetten leer
> bleiben. Um den Menschen zu helfen, muss man sie mit einbeziehen.
Bild: Lebensgefährliche Kälte: Trotz der Gefahr meiden manche Obdachlose bere…
Die Coronakrise verschärft bestehende Ungleichheiten weiter und macht sie
dadurch auch sichtbarer. Das ist nach fast einem Jahr Pandemie traurige
Gewissheit. Obdachlosigkeit bildet da keine Ausnahme.
[1][Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind in diesem
Winter schon 17 Menschen] auf Deutschlands Straßen erfroren, die
Dunkelziffer wird deutlich höher sein. Gleichzeitig stehen tausende
Hotelbetten leer. Das verdeutlicht schmerzhaft den grundlegend
problematischen Umgang mit obdachlosen Menschen in diesem Land.
Menschen, die auf der Straße leben, gehören zu den von der Coronakrise
am stärksten betroffenen Gruppen. Die niedrigen Temperaturen dieser Tage
machen aus der misslichen Lage eine lebensbedrohliche.
Einige Städte bieten obdachlosen Menschen mittlerweile an, über den Winter
in Hotels unterzukommen. Am Wochenende öffnete in Berlin ein Hostel mit 200
Plätzen, Düsseldorf mietete schon im November in sechs Hotels Betten an.
Frankfurt am Main plant Ähnliches, findet aber nicht ausreichend Hoteliers,
die bereit sind, für die geringe Pauschale Obdachlose zu beherbergen. In
München gibt es immerhin 160 Plätze, um Covid-19-Infizierte zu isolieren.
Die Frage ist, warum erst jetzt und warum so zögerlich? Es wäre ein
Leichtes, Hoteliers zu verpflichten, Obdachlose aufzunehmen, solange sie
einen Großteil ihrer finanziellen Ausfälle vom Staat erstattet kriegen.
Für eine Antwort lohnt ein Blick nach Hamburg. Dort lehnte der rot-grüne
Senat erst vor wenigen Tagen eine Unterbringung in Hotels ab. Die
Begründung: Es seien genügend Plätze in den Notunterkünften vorhanden,
außerdem gebe es dort ein umfangreiches Beratungsprogramm.
Doch die Notunterkünfte werden von vielen Obdachlosen gemieden. Schon vor
der Pandemie galten sie als Infektionsquelle aller möglichen Krankheiten.
Zwar wurden die Bettenzahlen verringert und die Hygienemaßnahmen
verbessert, dennoch fürchten sich viele vor einer Ansteckung. Auch
Sozialverbände sehen Notunterkünfte als ungeeignete
Unterbringungsmöglichkeit für obdachlose Menschen an.
Das gut gemeinte Brötchen
Die Begründung des Hamburger Senats offenbart eine paternalistische Logik,
mit der Menschen ohne Obdach tagtäglich konfrontiert sind. Bedürftige haben
keine Ansprüche zu stellen. Sei es das gut gemeinte Brötchen in der U-Bahn
oder die Unterkunft, in der man aufgrund der Schreie des psychisch kranken
Bettnachbarn nur wenige Stunden Schlaf findet: Obdachlose sollen froh sein,
wenn sie überleben.
Die Konsequenz dieser Sichtweise ist, dass Menschen ohne Obdach selten in
die Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen werden. Hätte man die
Menschen in Hamburg gefragt, wie man ihnen am besten helfen könnte, dann
wüsste der Senat vielleicht, dass für viele von ihnen Notunterkünfte nicht
infrage kommen, weil dort keine Haustiere erlaubt sind, oder weil sie dort
nicht mit ihren Bezugsgruppen zusammen hingehen können, Alkohol verboten
ist oder sie sich in der Regel tagsüber dort nicht aufhalten können.
Nicht wenige empfinden diese Behandlung als entwürdigend und ziehen es vor,
trotz widrigster Umstände auf der Straße, in Parks oder provisorischen
Behausungen zu schlafen. Diese Menschen lassen sich nur schwer mit den
staatlichen Hilfsangeboten erreichen. Ein Anfang wäre es, ihnen auf
Augenhöhe zu begegnen und nach ihren Bedürfnissen zu fragen: Möchtest du
den Winter in einem Hotel verbringen? Wenn nicht, wie können wir deine Lage
verbessern?
Stattdessen werden Menschen lieber mit ordnungspolitischen Maßnahmen hin-
und hergeschoben. So wurde in Berlin am vergangenen Wochenende ein Camp mit
über hundert Bewohner*innen mitten in der Nacht und ohne Vorwarnung
unter dem Vorwand des Kälteschutzes geräumt. Ihnen wurde angeboten, bis
Ende April in ein Hostel zu ziehen. Nur die Hälfte der Bewohner*innen
nahm das Angebot an, der Rest schläft wieder ohne Habe auf der Straße.
Die traurige Realität ist, Obdachlosigkeit gehört im Kapitalismus zum
Normalzustand. Verknappter Wohnraum, steigende Mietpreise und ein eher auf
Disziplinierung statt auf Hilfe ausgelegtes Sozialsystem führen dazu,
[2][dass auch zunehmend der Mittelstand Gefahr läuft, in die
Obdachlosigkeit zu rutschen]. Die Pandemie wird die Situation noch mal
verschärfen. Wir sollten also damit anfangen, Menschen ohne Obdach ernst zu
nehmen, gleichberechtigt zu behandeln und ihnen ein würdevolles Leben auch
auf der Straße zu ermöglichen.
9 Feb 2021
## LINKS
[1] https://www.sozial.de/bag-wohnungslosenhilfe-meldet-17-kaeltetote-in-diesem…
[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/wohnungslose-familien-inzwischen-kann-…
## AUTOREN
Jonas Wahmkow
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