# taz.de -- Aktiv in Berlin: Niemensch zurücklassen | |
> Obdachlose und Flüchtende geraten in der Pandemie noch mehr aus dem | |
> Blick. Für die Wohnhaften ist es Zeit, aktiv zu werden. | |
Bild: Käthe Kollwitz: Städtisches Obdach (1926) | |
Joseph Geihe, Karl Melchior, Lucian Szczyptierowski. In der Mühle der | |
Geschichte Berlins wären auch diese Namen, diese Menschen, längst verloren | |
gegangen – hätte eine gewisse Rosa Luxemburg sie nicht in ihrem Text „Im | |
Asyl“ festgehalten. Erfroren, wie tausende Namenlose vor und nach ihnen, | |
sind diese drei Obdachlosen nicht, damals im Winter 1911. | |
Wie 70 andere „Asylisten“ aus dem Städtischen Obdach „Palme“ in der | |
Fröbelstraße, starben die verelendeten Arbeiter an einer Vergiftung. | |
Während obdachlose Menschen sonst vereinzelt, unsichtbar und leise umkamen, | |
gab es bei diesem Massenfall viel Presse. | |
Die bürgerliche Gesellschaft wollte beruhigt werden und wurde es: Die | |
Obdachlosen hatten sich zuvor am Weihnachtsfest verdorbenen Fisch oder | |
gepanschten Schnaps „geleistet“. Es handelte sich also nicht um eine | |
ansteckende Epidemie, die auch die Bürgerlichen betroffen hätte. | |
## Papierene Abgrenzung | |
Doch, so schreibt Luxemburg über das (mediale) Ereignis: „Plötzlich zeigt | |
sich, dass unter dem äußeren Rausch und Tand der Zivilisation ein Abgrund | |
der Barbarei, der Vertierung gähnt; Bilder der Hölle steigen auf, wo | |
menschliche Geschöpfe im Kehricht nach Abfällen wühlen, in Todeszuckungen | |
sich winden […] Und die Mauer, die uns von diesem düsteren Reich der | |
Schatten trennt, erweist sich plötzlich als eine bloße bemalte papierene | |
Kulisse.“ | |
Beruhigt sein kann heute freilich niemand mehr, angesichts der Pandemie. | |
Und doch malen die Wirtschaftsvertreter und Entscheider angesichts der | |
hohen Infektions- und Todeszahlen weiter „ethische“ Kulissen: Ein | |
[1][solidarischer Shutdown, der auch die Produktion mit einschließt und | |
damit Arbeiter*innen schützt]? „Undenkbar, die Wirtschaft!“ | |
Und noch immer gelingt uns Wohnhaften tagtäglich die Abgrenzung zu den | |
Menschen auf der Straße und zu jenen, die in Lagern frieren oder | |
abgeschoben werden. Sie sitzen nicht mit am Verhandlungstisch und nicht mit | |
auf der Talkshowcouch. Doch es regt sich der Widerstand der Namenlosen und | |
ihrer Verbündeten. | |
Vergangene Woche [2][demonstrierten Betroffene schon zum dritten Mal] vor | |
dem Roten Rathaus gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen und für die | |
Beschlagnahmung von spekulativem und bezugsfertigem Leerstand. „Lasst uns | |
anstehende Zwangsräumungen unterbinden und die Versorgung von allen | |
Menschen sicherstellen“, fordert auch die Initiative [3][Kälteschutz im | |
Mehringhof]. | |
## Praktische Hilfe und politischer Einsatz | |
„Nutzen wir die leerstehenden Ferienwohnungen, Wohnungen und Häuser und | |
funktionieren wir die geschlossenen Hotels um, sodass alle Menschen eine | |
Möglichkeit des Rückzugs haben können“, schreiben die Freiwilligen, die in | |
Kreuzberg eine Notübernachtung stemmen (Spenden an: Förderverein Netzwerk | |
Selbsthilfe e.V., IBAN: DE57 1002 0500 0003 0233 00, BIC: BFSWDE33BER, | |
Betreff: Kälteschutz – Spende). | |
Der Mehringhof-Ini ist auch wichtig, dass wir „die Menschen auf den | |
griechischen Inseln und der europäischen Grenzen nicht vergessen: Holen wir | |
sie da raus!“ So schreibt die Initiative. Doch solange die EU weiter | |
Kulissen malt und die dramatische Situation an ihren Grenzen aufrecht | |
erhält, muss die [4][No Name Kitchen] weiter Menschen auf der Flucht mit | |
dem Nötigsten versorgen: | |
Nahrungsmitteln, Kleidung und der Möglichkeit, sich zu duschen. No Name | |
Kitchen ist im bosnischen Velika Kladuša, im serbischen Šid und im | |
griechischen Patras aktiv (Spenden an: No Name Kitchen, IBAN: ES90 0081 | |
5155 7100 0198 4102, BIC: BSABESBBXXX). | |
„Deutschland schiebt derzeit mehr als vor der Pandemie ab“, heißt es | |
wiederum in einem aktuellen Protestaufruf der [5][No Border Assembly]. 42 | |
Sammelabschiebungen sollen es seit November gewesen sein. Mit einer | |
Menschenkette unter Einhaltung von zwei Metern Abstand soll das | |
Reichstagsgebäude in Mitte umstellt werden, um gegen Abschiebungen in der | |
Pandemie und generell zu demonstrieren (Samstag, 6. Februar, 14 Uhr, Platz | |
der Republik). | |
Denn jeder Mensch der – hier oder dort – namenlos in der Mühle der | |
Geschichte verloren geht, ist ein Skandal. Damals in der Fröbelstraße, wie | |
auch heute. Oder sind auch die Menschenrechte nur eine Zivilisationskulisse | |
aus Papier? | |
3 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://zero-covid.org/ | |
[2] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5744714 | |
[3] http://kaelteschutz-mehringhof.de/ | |
[4] http://www.nonamekitchen.org/ | |
[5] https://noborderassembly.blackblogs.org/de/ | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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