# taz.de -- Debatte um Umgang mit Obdachlosen: War die Räumung gerechtfertigt? | |
> In Berlin wird vor der Kältewelle ein Obdachlosencamp geräumt – | |
> kurzfristig und erbarmungslos. Nun tobt der Streit über den Einsatz. Ein | |
> Pro und Contra. | |
Bild: Protest gegen die Räumung am Samstag | |
Die Räumung war gerechtfertigt | |
Die Wettervorhersagen waren eindeutig in ihrer fast apokalyptischen | |
Prognose: Schnee, eisiger Wind, Temperaturen im zweistelligen Minusbereich | |
waren für das vergangene Wochenende vorhergesagt. Jede PolitikerIn, die | |
zuständig für das Wohlergehen obdachloser Menschen ist, muss angesichts | |
solcher Vorhersagen kalte Füße kriegen. Und handeln. | |
Vor diesem Hintergrund war [1][die Räumung des Obdachlosencamps] in der | |
Rummelsburger Bucht am Freitagabend durch den Bezirk Lichtenberg notwendig | |
und sinnvoll. Schließlich geht es um Menschenleben, in diesem Fall um das | |
Bewahren vor dem elenden und völlig sinnlosen Tod durch Erfrieren. | |
Wie liefe die Debatte aktuell denn, wenn tatsächlich ein, zwei, vielleicht | |
auch fünf oder noch mehr Menschen diesen harten Wintereinbruch in ihren | |
Bretterbuden und Zelten in dem Camp nicht überlebt hätten? Es wäre vom | |
Versagen der Politik die Rede, von völlig absehbaren Folgen durch die | |
Kälte, vielleicht auch von falschem Humanismus und Angst der | |
PolitikerInnen, sichtbare Herausforderungen direkt vor ihrer Haustür | |
anzugehen. | |
Natürlich sollen Menschen in dieser Stadt möglichst so leben können, wie | |
sie wollen, selbstbestimmt, selbstorganisiert, unabhängig von ihrer Lage. | |
Und bekanntermaßen ist es oft schwierig, Menschen, die schon lange auf der | |
Straße leben, zu überzeugen, für ein paar Tage oder Wochen zumindest nachts | |
in eine Unterkunft zu gehen, bis die äußeren Umstände ein Leben auf der | |
Straße wieder möglich machen. Vielleicht hätte man damit im Falle des Camps | |
an der Rummelsburger Bucht auch schon früher anfangen können. | |
Aber manchmal muss Politik einfach schnell agieren, ohne lange | |
Vorlauffristen, schlicht weil das Ziel wichtiger ist als der Weg dorthin. | |
Diese Situation am Freitagabend war so eine, sie war existenziell. Und | |
viele Menschen aus der Rummelsburger Bucht haben die Hilfe angenommen. | |
Am Ende der Saison der Kältehilfe in knapp zwei Monaten wird wieder gezählt | |
– und zwar vor allem, wie viele Menschen im Winter auf der Straße gestorben | |
sind. Jede und jeder Tote ist eine/r zu viel, heißt es dann für gewöhnlich | |
und völlig korrekt. Diese Zahl möglichst bei null zu halten, muss das Ziel | |
politischen Handelns sein, und dafür stehen auch die jüngsten Anstrengungen | |
der Sozialverwaltung, das Angebot an Notunterkünften auszubauen und | |
Obdachlosigkeit prinzipiell perspektivisch zu beenden. | |
Ganz nebenbei symbolisiert der Einsatz auch: Wir lassen euch da draußen | |
nicht allein. Bert Schulz | |
Die Räumung war nicht gerechtfertigt | |
Das Camp in der Rummelsburger Bucht war ein selbstverwaltetes Zuhause für | |
fast 100 Menschen – es ist nun unwiderruflich zerstört. Dies wurde vom | |
Bezirk mit dem Verweis auf eine humanitäre Notwendigkeit gerechtfertigt: | |
Schließlich erreichten die Minusgrade dieses Wochenende den zweistelligen | |
Bereich. Um Kältetote zu vermeiden, sei kein anderes Vorgehen möglich | |
gewesen. | |
Ein zweiter Blick auf die Räumung legt entweder Inkompetenz nahe – oder | |
dass die Kälte als Anlass genommen wurde, ein drängendes Problem zu lösen: | |
Denn auf dem Areal soll die Touristenattraktion „Coral World“ entstehen. | |
Die Obdachlosen mussten also ohnehin weg – gab die Kälte hierfür etwa den | |
idealen Anlass? | |
Mindestens war das Vorgehen des Bezirks denkbar unklug. Denn dass rund die | |
Hälfte der Bewohner:innen Ersatzangebote ausschlagen würden, war | |
erwartbar. So blieben laut Senatsverwaltung für Soziales letzte Januarwoche | |
121 der angebotenen 1.090 Notunterkunftsplätze leer – und das bei 11.000 | |
obdachlosen Berliner:innen, wie die Caritas und das Diakonische Werk | |
schätzen. Manch eine:r bevorzugt eben die Straße gegenüber den | |
Unterkünften, wo Abstände nicht eingehalten werden können, wo Tiere und | |
Substanzen verboten sind, wo gestritten und geklaut wird, kurz: wo | |
autonomes Leben unmöglich ist. | |
Diese Menschen sitzen nun ohne jede Hilfsinfrastruktur auf der Straße – bei | |
ebenjenen Minusgraden, vor denen der Bezirk sie doch beschützen wollte. | |
Bestimmt hätten die Campbewohner:innen schon im Herbst darüber Auskunft | |
gegeben, was sie benötigen, um durch den Winter zu kommen – und der Bezirk | |
hätte es liefern können, wäre es wirklich um bestmögliche Unterstützung | |
gegangen. | |
Stattdessen standen Bagger bereit, um Behausungen und Eigentum der | |
Bewohner:innen zu beseitigen, sobald dies möglich wurde. Auf Twitter | |
ist zu sehen, wie Hab und Gut eines Bewohnenden zerstört wird. Es ist | |
wohl Protestierenden zu verdanken, dass nicht noch Freitagnacht alles dem | |
Erdboden gleichgemacht wurde. | |
Sicher wird die Kälte eine Rolle bei der Räumungsentscheidung gespielt | |
haben. Aber das Bezirksamt Lichtenberg wird sich die Frage gefallen lassen | |
müssen, ob es die Rolle eines Vorwands war. Also nein, die Räumung war | |
nicht gerechtfertigt. Die kommerziellen Interessen eines Bauprojekts | |
scheinen gegenüber dem Recht obdachloser Menschen auf ein selbstbestimmtes | |
Leben bevorzugt worden zu sein. Rot-Rot-Grün sollte es wirklich besser | |
wissen. Timm Kühn | |
8 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
Timm Kühn | |
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