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# taz.de -- Obdachlos in Berlin: Platz finden
> Kein Dach über dem Kopf und auch kein geschützer Ort? In Berlin gibt es
> Streit um Safe Places für obdachlose Menschen.
Bild: Draußen bleiben: Debora Ruppert porträtiert Obdachlose und gibt Obdachl…
Wer die Karl-Marx-Straße entlang läuft oder am Landwehrkanal spaziert,
kommt dort häufig an fest eingerichteten Schlafplätzen vorbei. Oft nicht
mal ein Zelt, sondern einfach eine breite Matratze, darauf ein bis zwei
ordentlich ausgebreitete Schlafsäcke und Decken, manche Plätze sind mit
einer Zeltplane gegen Regen und Blicke geschützt. Daneben Einkaufswagen
oder ausrangierte Kinderkarren zum Sammeln von Pfandflaschen und für
Habseligkeiten, vereinzelt auch ein kleines Regal. Wie ein kleines Wohn-
und Schlafzimmer auf der Straße.
Solche Schlafplätze fallen in diesem Sommer nicht nur in Neukölln auf,
sondern auch in anderen Innenstadtbezirken: Matratzen liegen im Eingang zu
leerstehenden Geschäften, unter Brücken, oft aber auch einfach am
Straßenrand, am Bauzaun oder am Kanalufer.
Die sichtbare Obdachlosigkeit, so der subjektive Eindruck, hat in den
vergangenen Monaten damit deutlich zugenommen. Empirisch lässt sich dieser
Eindruck schwer belegen, denn wirklich belastbare Zahlen gibt es nicht. In
einer ersten berlinweiten Zählung von obdachlosen Menschen im Januar 2020
trafen die Zählteams knapp 2.000 Menschen an. Der Ergebnis dieser ersten
[1][„Nacht der Solidarität“] liegt damit deutlich unter den Schätzungen
etwa von Beratungsstellen, die zuvor von 5.000 bis zu 8.000 obdachlos
lebenden Menschen in Berlin ausgegangen waren.
Eine zweite für den Sommer geplante Zählung von Obdachlosen in Berlin ist
wegen der Pandemie auf das kommende Jahr verschoben worden. Aber der
Eindruck, dass solche Schlafplätze deutlich zahlreicher und auffälliger im
Stadtbild geworden sind, deckt sich mit den Beobachtungen von Initiativen
und Beratungsstellen der Obdachlosenhilfe. Und es ist ja nicht nur die
Zahl: An solchen offen an der Straße liegenden Schlafplätzen sind die
Menschen viel sichtbarer als in einem versteckten Zelt am Rand einer
Brache.
„Früher hatten wir Obdachlosigkeit vorwiegend an einigen Hotspots.
Inzwischen ist Obdachlosigkeit flächendeckend in der Stadt, Menschen suchen
sich Nischen, sie leben unter Brücken. Mehr Menschen verlieren ihre
Wohnungen, und dadurch sind sie auch sichtbarer“, sagt Andreas Abel von
Gangway. Gangway macht niedrigschwellige Straßensozialarbeit und ist als
Ansprechpartner für obdachlose Menschen am Zoo und am Ostbahnhof, aber auch
in Friedrichshain-Kreuzberg und seit einem Jahr mit einem Team in Neukölln
unterwegs. Dort sprechen sie Menschen an, bauen ein Vertrauensverhältnis
auf und bieten Unterstützung an – wenn sie gewünscht ist.
„Dass es mehr Menschen geworden sind, bezweifelt niemand“, sagt Abel. „Wir
sehen das auch, etwa an Statistiken von Beratungsstellen oder bei der
Auslastung der Kältehilfe.“ Sei es früher relativ leicht gewesen, einen
Menschen, der dies wünsche, im Sommer unterzubringen, sei dies nun nicht
mehr ohne weiteres möglich.
Auch bei der Berliner Obdachlosenhilfe hat man den Eindruck, dass sichtbare
Obdachlosigkeit in Berlin zugenommen hat. „Wenn allgemein weniger los ist
draußen, werden diejenigen, die auf der Straße leben und sich eben nicht
ins Zuhause zurückziehen konnten, sichtbarer“, sagt Heinz Waldow, einer der
freiwilligen Helfer:innen bei der Obdachlosenhilfe. Dazu käme, dass den
Menschen viele Einnahmequellen wie Zeitschriften verkaufen oder Betteln
versiegt waren, so dass auch die, die sich sonst über den Tag das Geld für
ein Hostel organisieren konnten, sich stattdessen einen Schlafplatz draußen
eingerichtet hätten.
## Saisonale Schwankungen
Bei den Bezirken – die verpflichtet sind, obdachlose Menschen
unterzubringen – klingt das etwas weniger eindeutig. Eine Zunahme der
Obdachlosigkeit sei in den vergangenen Jahren durchaus spürbar, diese
unterliege aber auch saisonalen Schwankungen, heißt es etwa aus
Charlottenburg-Wilmersdorf. Friedrichshain-Kreuzberg beschäftigten „die
sichtbare Obdachlosigkeit und Campbildungen schon die gesamte Legislatur
und darüber hinaus“. Und die relativ neue Zusammenarbeit von Neukölln und
Gangway ist getragen von der Beobachtung, dass Obdachlosigkeit auch hier
sichtbarer wird und sich in die Fläche ausdehnt.
Wenn Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) über Zahlen
spricht, möchte sie den Eindruck einer Zunahme weder bestätigen noch
dementieren. Dies sei subjektiv, sagt sie, auch deshalb bemühe sie sich
etwa mit Zählungen weiter um Zahlen.
Sie hat dabei allerdings nicht nur die Obdachlosigkeit im Blick – also die
Fälle, in denen Menschen mit ihrem Hab und Gut vornehmlich auf der Straße
leben -, sondern auch Wohnungslosigkeit, wo Menschen keine eigene Wohnung
haben und etwa in Unterkünften untergebracht sind oder als sogenannte
Sofahopper bei Bekannten mehr oder weniger temporär und oft prekär
unterkommen.
[2][Breitenbachs erklärtes Ziel ist es], Wohnungs- und Obdachlosigkeit in
Berlin bis 2030 zu beenden. Sie setzt dafür unter anderem auf Housing First
– also den Versuch, Menschen als erstes und ohne große Voraussetzungen eine
Wohnung zu vermitteln.
Dieses Konzept finden sowohl viele obdachlose Menschen als auch ihre
Unterstützer:innen begrüßenswert. Doch bis dahin ist es noch ein
langer Weg, in Berlin haben gerade erste Pilotprojekte für rund 70 Menschen
begonnen.
## Räumungen lösen kein Problem
Daneben will Breitenbach den Zustand von Unterkünften verbessern, und auch
Safe Places sollen die Situation von obdachlos lebenden Menschen weniger
prekär machen. Mit Safe Places sind Orte gemeint, an denen Menschen, die
sich dort niederlassen, nicht geräumt werden und an denen die Bezirke oder
Träger außerdem eine grundlegende Versorgung etwa mit Wasser, Toiletten und
Müllabfuhr sicherstellen.
„Räumungen lösen das Problem ja nicht, diese Erkenntnis spricht sich
inzwischen auch in den Bezirken herum, auch wenn die immer noch sehr
unterschiedlich mit obdachlosen Menschen umgehen“, sagt Gangway-Mitarbeiter
Abel.
Er kritisiert, dass in einigen Bezirken immer noch Orte ohne vorherige
Ansprache geräumt werden. „Es gibt oft Orte, an denen sie nicht stören, und
wenn sie da geräumt werden und weiterziehen, gibt es plötzlich Probleme
mit Anwohner*innen“, sagt er. „Das ist doch unlogisch.“
Die Straße gehört allen. Nicht der Verwaltung oder den Politikern“, sagt
Cengiz Tanriverdio von Gangway, der seit einem Jahr in Neukölln als
Straßensozialarbeiter Kontakt zu obdachlosen Menschen aufbaut. „Menschen
haben ein Recht darauf, dort zu leben – wenn sie das so für sich wollen.“
## Ein selbstbestimmtes Leben
Doch es ist ein schmaler Grat zwischen diesem „Wollen“, zwischen
Freiheitsbedürfnis, individuellen psychischen oder medizinischen Notlagen
und – auch das gehört zum Bild dazu – dem desolaten Zustand von manchen
Unterkünften oder den dortigen Zugangsbedingungen. In die Entscheidung,
dauerhaft auf der Straße zu leben, spielt nach Erfahrung der
Sozialarbeiter:innen auch die Frage hinein, inwieweit Menschen es
aushalten, sich mit fremden Menschen ein Zimmer zu teilen, ihr Haustier
nicht in eine Unterkunft mitnehmen zu können oder inwieweit ein striktes
Verbot von Alkohol und anderen Suchtmitteln für sie umsetzbar ist.
Auf diesem schmalen Grat bewegt sich auch die Idee der Safe Places. Denn,
so der von der Verwaltung getragene Gedanke: solange es Obdachlosigkeit
gibt und solange auch Housing First oder Notunterkünfte nicht für alle
Menschen eine Lösung sind, sollen sie wenigstens etwas geschützt und unter
guten hygienischen Bedingungen draußen leben.
Aus der Sicht obdachloser Menschen stand bei der Idee auch im Vordergrund,
dass solche Safe Places ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen
könnten. Träger wie die Sozialgenossenschaft Karuna sehen in dem Konzept
Chancen für ein Empowerment obdachloser Menschen jenseits von staatlichen
Hilfesystemen.
Eingeführt wurde das Konzept Anfang 2019 von Sozialsenatorin Elke
Breitenbach als Teil ihres Planes, die unfreiwillige Wohnungslosigkeit in
Berlin bis 2030 zu beenden. Auch für Menschen, die sonst keine
Hilfsangebote annehmen können oder wollen, brauche es sichere Plätze –
nicht zuletzt wegen des Mangels an bezahlbarem Wohnraum, so die Senatorin
damals in einer Stellungnahme. Seitdem passiert ist – „pandemiebedingt“,
wie Breitenbach heute sagt – allerdings wenig.
Die Idee traf jedenfalls vielerorts erstmal auf viel Lob. Auch bei der
Diskussion um das [3][Camp an der Rummelsburger Bucht] in Lichtenberg, in
dem sich zwischenzeitlich mehr als 100 Menschen in Wohnwagen, Zelten und
selbstgezimmerten Verschlägen lebten, schwang die Forderung mit, die Brache
einfach zum Safe Place zu erklären und mit Wasseranschluss und
Müllentsorgung auszustatten.
Perspektivisch könnten Safe Places auf allen möglichen Freiflächen Berlins
entstehen. Als Modellprojekte sind die ersten beiden Safe Places in Berlin
eigentlich kurz vor der Fertigstellung: einer auf dem Containerbahnhof
Frankfurter Allee, hinter der großen Traglufthalle „Halleluja“ der Berliner
Stadtmission. Der zweite ist als „Common Place“ auf einer Grünfläche
zwischen Frankfurter Allee und Gürtelstraße geplant, auch nur wenige
hundert Meter vom Projekt der Stadtmission entfernt und in der
Zuständigkeit des Bezirks Lichtenberg.
Wann – und ob – dieser zweite Ort tatsächlich eingerichtet werden kann, ist
nach einer Abstimmung in der Lichtenberger Bezirskverordnetenversammlung
(BVV) vom Mittwoch allerdings wieder offen. Die BVV hatte sich – für viele
der an der Planung Beteiligten überraschend – gegen den SPD-Antrag zur
Umsetzung des Common Place ausgesprochen. Damit ist dessen Zukunft an
dieser Stelle wieder ungewiss.
## Umzug von Zuflucht zu Zuflucht
Für den Friedrichshainer Safe Place ist bereits ein kleines Areal an der
Frankfurter Allee mit Bauzäunen umzogen. Es gibt hier fließend Wasser,
einen Kühlschrank, eine improvisierte Duschkonstruktion, bald soll auch
Strom kommen. Im hinteren Teil ist ein Pavillon aufgespannt, unter dem
Campingstühle zum gemütlichen Abhängen einladen. Insgesamt leben sechs
Stammbewohner:innen sowie einige teils länger bleibende Gäste auf dem
von der Stadtmission angemieteten Areal.
„Sieht doch richtig top aus, oder?“, fragt der 27-jährige Obdachlose Milan
Sosnowski (Name geändert), während er eine Tischdecke hervorkramt, sie
faltet und über den Campingtisch wirft. Anschließend wischt er mit einer
Handbewegung noch die Falten beiseite. Auch Matze Meier (ebenfalls Name
geändert), der einige Meter entfernt oberkörperfrei dasteht, nickt
anerkennend: „Fehlt nur noch der Aschenbecher“, sagt er. Schnell ist dieser
gefunden und mittig auf dem Tisch platziert.
Noch Anfang Juni lebten die beiden hundert Meter weiter, wo ein
Obdachlosencamp seit Jahren etwa 30 Menschen eine Zuflucht bot. Jetzt dient
der Ort nur noch vereinzelten Menschen als Nachtlager. Die Deutsche Bahn,
der das Gelände gehört, hatte die Räumung angekündigt – um sie dann im
letzten Moment wieder abzusagen. Der neue Safe Place bietet also nicht
allen Menschen, die vorher am Containerbahnhof gelebt hatten, Sicherheit.
Sozialarbeiter:innen hätten den Kreis derer, die umziehen durften,
zuvor „ermittelt“, sagt Sara Lühmann vom Friedrichshainer Bezirksamt der
taz. Und ohne den Druck der Räumung wäre der nun bestehende Safe Place wohl
nicht so schnell eingerichtet worden.
Der eigentlich in Lichtenberg vorgesehene „Common Place“ soll von Karuna
betreut werden, einer Sozialgenossenschaft, die sich in der
Obdachlosenhilfe engagiert und auch die Obdachlosenzeitschrift Karuna
Kompass verantwortet. Bis zum Ende dieses Jahres wollte man die ersten Tiny
Houses aufgestellt haben. Auch ein öffentlicher Gemeinschaftsgarten sowie
ein Repair Café war dort geplant, sagt Jörg Richert, Vorstandsvorsitzender
von Karuna. Die Idee stammt aus den USA. Richert ist Soziologe und hat
derartige Orte quer durch die Vereinigten Staaten besucht. Besonders
beeindruckt habe ihn Seattle: „Fast an jeder Ecke“ entstünden dort Common
Places, also autonome Strukturen unter Einbeziehung obdachloser Menschen,
die meist öffentliche Gemeinschaftsgärten oder Repair Cafés betreiben.
„Common Places sind nicht nur Orte, an denen obdachlose Menschen sicher
sind, in ihnen wird zudem die gemeinschaftliche Verwaltung von Eigentum
geprobt“, so der Soziologe.
Durch diese Angebote würden die Grenzen zwischen Nachbarschaft und
Obdachlosen aufweichen, bis letztere ihre Rolle als soziale
Außenseiter:innen schließlich überwinden. Im Gegensatz zu Berlin, wo
weiterhin die „Ich helfe dir“-Mentalität dominiere, stehe also das Credo
„Hilf dir selbst, du schaffst das, du wirst nicht fremdbestimmt“ im
Mittelpunkt.
Natürlich sei Hilfe in vielen Situationen eine humanitäre Notwendigkeit, so
Richert. „Letztlich entsteht durch sie aber auch eine
Abhängigkeitsbeziehung, die beim Kampf, sich aus der Obdachlosigkeit zu
befreien, sogar hinderlich wirken kann.“
## Kein Ort der Selbtverwirklichung
Sozialsenatorin Breitenbach betont dagegen die Funktion als Schutzraum –
und nicht als Wagenplatz zur Selbstverwirklichung. Safe Places seien
ausschließlich für Menschen, die auch tatsächlich obdachlos seien – und
nicht etwa Orte für Wagenplätze oder für Menschen mit alternativen
Lebenskonzepten. „Ich werde immer für Freiräume kämpfen“, sagt sie der t…
„Aber es ist nicht Aufgabe des Staates, Menschen ihren Lebenstraum zu
finanzieren.“
Was die bisherigen Konzepte verbindet, ist, dass sie Regeln und eine
gewisse Stabilität der Bewohner:innen erfordern. Das aber schließt etwa
schwer Suchtkranke oder Menschen mit gravierenden psychischen Problemen von
vorneherein aus. Deswegen sind in Bezug auf die Safe Places für ihn noch
viele Fragen offen, sagt Sozialarbeiter Andreas Abel von Gangway. Bei den
jetzt vorliegenden Konzepten würden Menschen wieder reglementiert, für
viele seiner Adressat:innen käme das nicht in Frage – die erreiche man
eben höchstens mit Straßensozialarbeit, wie Gangway sie praktiziert.
„Diese Lösungen gefallen mir bisher nicht“, sagt Abel. Konzepte wie der
Common Place, dessen Bewohner:innen sich formal als Verein gründen
sollen, um sich gegenüber dem Außen autonom vertreten zu können, und die
dann dort noch Repair Cafés und Urban Gardening und einen Weihnachtsmarkt
machen sollen, seien für viele zu voraussetzungsvoll. „An diesem
Arbeitsauftrag könnte auch eine Gruppe von acht Akademiker:innen
leicht scheitern“, meint er.
Abel kritisiert auch, dass die Sicherheit der einen eine größere
Unsicherheit für die, die dort nicht reinpassen, bedeuten könnte: So sei in
einer Anwohner:innenversammlung an der Frankfurter Allee etwa
versichert worden, dass andere Obdachlose im Umfeld der neuen Safe Places
dann nicht mehr geduldet werden, damit es nicht „zu viele“ würden. „Das
könnte dazu führen, dass Safe Places die Sicherheit der Menschen
verringern, die dort nicht reinpassen und sich daher doch wieder woanders
niederlassen.“
Auch bei der Berliner Obdachlosenhilfe seien sie zumindest verwundert
gewesen über die Pläne für Safe Places, wie sie auch bei der fünften
[4][Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe] im Juni vorgestellt worden
waren. „Die, die die Safe Places konzipiert haben, haben offensichtlich
keine Ahnung, wie es obdachlosen Menschen geht, wenn sie denken, dass die
da Urban Gardening machen“, sagt Heinz Waldow, der sich ehrenamtlich bei
der Obdachlosenhilfe engagiert.
Der derzeitige Safe Place am Containerbahnhof sei nur die „Vorstufe“ für
die eigentlichen Pläne, sagt Ulrich Neugebauer von der Stadtmission der
taz. Eigentlich solle man den Begriff noch gar nicht verwenden. Was weiter
geplant ist, stellte Florian Michaelis von der Architekt:innengruppe
Urban Beta auf der Wohnungslosenkonferenz Anfang Juni vor. Urban Beta hat
das Konzept zusammen mit der Stadtmission entwickelt. Unter anderem wurde
dabei eine Simulation gezeigt, wie der zukünftige Platz einmal aussehen
könnte: Abgebildet waren mehrstöckige Holzcontainer und eine Parkanlage im
urban-modernen Design. Ein Passant mit Fahrrad schießt ein Foto, ein
älterer Herr zeigt auf einen der Container, ein hip gekleidetes Paar sitzt
auf einer Parkbank und liest ein Buch. Die „Antifaschistische Vernetzung
Lichtenberg“ kommentierte auf Twitter, die Pläne sähen aus wie ein
„Yuppie-Ferienlager“. Nun würden selbst Obdachlosenunterkünfte zur
Gentrifizierung beitragen.
## Katze beim Safe-Place-Konzept
Dabei hatten die Bewohner:innen des Containerbahnhofs bereits ein
eigenes Konzept für einen Safe Place ausgearbeitet. Darin hieß es, man
wolle sich „nicht ein weiteres Mal in die Ungewissheit verdrängen lassen“,
sondern „die Sicherheit haben, unser Leben selbstbestimmt gestalten zu
können“. Hierzu gaben sich die Bewohner:innen klare Regeln wie etwa
Mietzahlungen, das Verbot offenen Feuers, Lärmschutz, eine nachhaltige
Nutzung oder die klare Begrenzung der Personenzahl auf dem Gelände. Auch
eine „Safe Place-eigene Katze“ zur Bekämpfung der Rattenproblematik war
Teil des Konzepts. Auf dieses Konzept aber ging Michaelis von Urban Beta
bei der Präsentation der eigenen Pläne auf der Wohnungslosenkonferenz nicht
ein.
Lange drehte sich die Safe-Places-Debatte um Orte wie die Rummelsburger
Bucht oder auch die Kreuzberger Cuvry-Brache an der Spree, wo sich 2012
nach Protesten mit Zelten gegen Bebauungspläne ein regelrechtes Dorf aus
zusammengezimmerten Hütten entwickelt hatte, in dem zwischenzeitlich bis zu
200 Menschen lebten. Begriffe wie „Slums“ oder „Favelas“ fielen da.
[5][Die Cuvry-Brache wurde 2014] nach einem Brand geräumt, das Areal ist
inzwischen bebaut. Aber der erbitterte Kampf, der hier um den – von einigen
als Freiraum, von anderen als Schandfleck bezeichneten – Ort geführt wurde,
hallt auch heute noch nach.
## Ein Platz in bester Spreelage
Um Safe Places hat es sich bei der Cuvry-Brache und der Bucht allerdings
nie gehandelt. Sie waren weder entsprechend anerkannt noch ausgestattet.
Die Brache damals entstand, weil sich die Menschen den Platz in bester
Spreelage einfach genommen hatten – das steht eher im Gegensatz zu der
jetzigen Idee, Orte zu benennen, auf denen sich dann Menschen niederlassen
dürfen. An der Rummelsburger Bucht hatte der Bezirk zwar zwischenzeitlich
damit begonnen, Toiletten aufzustellen und den Müll regelmäßig abzuholen.
Doch weder die Toiletten noch die Müllentsorgung blieben dauerhaft, auch
aus der Befürchtung heraus, dass dies weitere Bewohner:innen anziehen
könnte. Letztlich wurde die Rummelsburger Bucht in einem kontroversen
Polizeieinsatz [6][im Februar von der Polizei geräumt].
Bei aller auch aktivistischer Unterstützung für Brache und Bucht stellt
sich ganz grundsätzlich die Frage, ob sich diese beiden Orte überhaupt als
Vorbilder für Safe Places eignen. So große Lager entsprächen eher nicht den
Bedürfnissen obdachloser Menschen, die meisten würden, wenn sie wählen
könnten, eher in kleineren Gruppen zusammenleben wollen.
„Solche Orte entstehen, weil die Menschen sonst überall verscheucht
werden“, sagt etwa Sozialarbeiter Abel von Gangway. „Wenn die Bezirksämter
flächendeckend toleranter wären, dann würden die Lager gar nicht so groß
werden“, meint er. Aber der Verdrängungsdruck sei groß: „Wenn sich zwei,
drei Menschen irgendwo niederlassen, kann es sein, dass mehr dazukommen.
Und dann ist der Ort auch schon schwerer zu räumen“, so Abel. Daher würden
einige Bezirke schon bei vereinzelten Zelten nervös: keiner wolle die
nächste Rummelsburger Bucht bei sich haben. Wer die Idee der Safe Places
ernst nehme, der müsste daher auch berlinweit rund 200 solcher Plätze
einrichten.
Doch wären 200 Safe Places im Stadtgebiet tatsächlich Freiräume oder eher
die Kapitulation vor dem Elend? Dies wirft Fragen auf, die seit der
Diskussion um die Cuvry-Brache in der Luft liegen. Denn die derzeitigen
Unterbringungsmöglichkeiten bewahren Menschen nicht unbedingt vor dem
Elend, das wäre dann nur versteckter.
Viele Menschen, die auf der Straße leben, täten das ja nicht, weil das ihr
Lebensentwurf ist, betonen auch Hilfsorganisationen immer wieder – sondern
weil oft die Unterkünfte, die ihnen angeboten werden, nicht akzeptabel
seien. „Wenn man es schafft, die Menschen vernünftig und würdig
unterzubringen, dann kommt ein Teil der Menschen schon von der Straße. Und
den anderen, die aus welchen Gründen auch immer nicht willens oder nicht
fähig sind, eine Wohnung zu beziehen, denen kann man dann auch den Raum
geben, wo sie leben können“, sagt auch Abel.
Dabei würde dann am Ende auch Solidarität aus der Stadtgesellschaft helfen.
„Es beschweren sich immer die, die sich gestört fühlen. Wenn sich auch mal
die beim Bezirk melden würden, die sagen, dass sie obdachlose Menschen als
ihre Nachbarn sehen, das könnte das schiefe Bild bei den Bezirken
korrigieren.“
5 Jul 2021
## LINKS
[1] /Obdachlosenzaehlung-in-Berlin/!5657311
[2] /Elke-Beitenbach-im-Interview/!5783723
[3] /Safe-Places-in-Berlin/!5695580
[4] /Wohnungslosenhilfe-in-Berlin/!5773121
[5] /Cuvry-Brache/!5032557
[6] /Obdachlosencamp-geraeumt/!5746454
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
Timm Kühn
## TAGS
Elke Breitenbach
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