| # taz.de -- Elke Beitenbach im Interview: „Wir beginnen den Systemwechsel“ | |
| > Berlins Sozialsenatorin will, dass Wohnungslosigkeit bis 2030 in der | |
| > Stadt Geschichte ist. Dafür setzt sie auf einen Pakt mit der | |
| > Stadtgesellschaft. | |
| Bild: Unter einer Brücke am Bahnhof Zoo in Berlin | |
| taz: Frau Breitenbach, Sie sind Ihr Amt mit dem großen Ziel angetreten, in | |
| Berlin die unfreiwillige Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen. Wie läufts? | |
| Elke Breitenbach: Wir haben in den letzten fünf Jahren die Grundlagen für | |
| einen Systemwechsel gelegt, sodass sich die Wohnungslosenhilfe endlich an | |
| die Menschen anpasst, und nicht mehr die Menschen an die | |
| Wohnungslosenhilfe. In der Pandemie haben wir 24/7-Unterkünfte eingeführt, | |
| womit wir das Leben von obdachlosen Menschen auf der Straße gerettet und | |
| gebessert haben. Wir haben mit dem [1][Prinzip „Housing First“] | |
| experimentiert, also dem Ansatz, obdachlosen Menschen erst einmal eine | |
| Wohnung bereitzustellen. Schließlich haben wir die [2][gesamtstädtische | |
| Steuerung der Unterbringung] eingeführt. Ich weiß, ein sperriges Wort, aber | |
| es ist zentral wichtig, da wir nun Qualitätsstandards anlegen können, die | |
| es derzeit einfach nicht gibt. | |
| Sie sagen, dass es einen „Pakt mit der Stadtgesellschaft“ braucht, um die | |
| Wohnungslosigkeit zu überwinden. Was meinen Sie damit? | |
| Wir haben diesen Pakt bereits vor drei Jahren auf unserer ersten | |
| [3][Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe] beschlossen. Dort wurden | |
| alle Menschen eingeladen, die selbst betroffen sind oder sich mit diesem | |
| Thema befassen, zum Beispiel die sozialen Träger, aber auch Ordnungsämter | |
| oder Polizei. Alle haben gesagt: Wir möchten gemeinsam eine Lösung finden. | |
| Heute interessiert dieses Thema viele Berliner:innen, weil sie solidarisch | |
| sind. | |
| Solidarität alleine wird nicht reichen. | |
| Ich möchte, dass die Gesellschaft sagt: Wir wollen gemeinsam dafür sorgen, | |
| dass die Wohnungslosigkeit in dieser Stadt bis 2030 beendet ist. Dafür | |
| brauchen wir vor allem eins: Wohnungen. | |
| Was ist Ihr Plan? | |
| Ich kann Ihnen das vorrechnen: Wir wissen, dass in dieser Stadt um die | |
| 50.000 wohnungslose Menschen in Unterkünften untergebracht sind. Die | |
| städtischen Wohnungsbaugesellschaften haben etwa 320.000 Wohnungen. Die | |
| Fluktuation beträgt etwa fünf Prozent, das sind also etwa 16.000 Wohnungen. | |
| Davon möchte ich 10 Prozent für obdachlose Menschen haben, das sind also | |
| 1.600 Wohnungen pro Jahr. Hinzu kommen etwa 30.000 neu gebaute landeseigene | |
| Wohnungen, auch davon sollen 10 Prozent an obdachlose Menschen vermietet | |
| werden. Das sind nochmal etwa 3.000 Wohnungen. Mit dieser Quote hätten wir | |
| zusammengerechnet etwa 4.600 Wohnungen zur Verfügung! Und dann gibt es noch | |
| die Berlinovo. Zu deren Bestand gehören auch etwa 6.600 Mikro-Appartements, | |
| davon gehen schon jetzt etwa 200 Wohnungen an soziale Träger, bleiben also | |
| 6.400. Auch diese Wohnungen sollen obdachlose Menschen bekommen. Auf einen | |
| Schlag würden also 11.000 Wohnungen zur Verfügung stehen. | |
| Wird das reichen? | |
| Wichtig ist, dass es eine verbindliche Regelung dafür gibt, dass die | |
| städtischen Wohnungsbaugesellschaften Wohnraum zur Verfügung stellen. Das | |
| muss die Stadtgesellschaft auch richtig finden, denn man muss nicht | |
| glauben, dass es Applaus dafür gibt, beim Zustand des derzeitigen | |
| Wohnungsmarkts eine derartige Quote festzulegen. Es gibt ja sehr viele | |
| Menschen, die eine bezahlbare Wohnung suchen. Die könnten sagen: Ich gehe | |
| arbeiten, um mir meine Miete leisten zu können, aber die Wohnungslosen | |
| bekommen eine solche gestellt? Diese Auseinandersetzung müssen wir führen. | |
| Auch für das „Housing First“ werden Sie [4][Wohnungen] brauchen. | |
| Ja, genau dafür müssen die eben genannten Wohnungen zur Verfügung stehen. | |
| Und wir brauchen außerdem ein Landesprogramm, in dem wir die jetzigen | |
| ASOG-Notunterkünfte zu Wohnungen um- und neue Gemeinschaftsunterkünfte mit | |
| Wohnungsstrukturen neu aufbauen können. So werden wir verbindlich und | |
| sukzessive den nötigen Wohnraum schaffen.Natürlich wäre es besonders gut, | |
| wenn die EU ein solches Programm auflegen würde im Rahmen ihres Zieles, | |
| Wohnungslosigkeit abzubauen. Wir sparen dabei auch Geld, weil die | |
| Unterbringung in Wohnungen viel günstiger ist, als die Unterbringung in | |
| Unterkünften. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Beispielsweise hatte ich vor kurzem den Fall einer alleinerziehenden Mutter | |
| mit 3 Kindern. Die waren am Stadtrand in einer elenden Unterkunft | |
| untergebracht, der Bezirk hat dafür über 2.000 Euro gezahlt. Für dieses | |
| Geld findet man auch eine Wohnung in Berlin. | |
| Irre. | |
| Ja, das müssen wir ändern. Die staatliche Unterbringung darf nicht teuer | |
| sein als die Miete selbst, und falls sie es doch ist, müssen die Menschen | |
| in ihrer Wohnung bleiben dürfen. Insgesamt bezahlen wir 300 Millionen Euro | |
| jährlich allein für Notunterkünfte. Da sind die Kältehilfe und die | |
| Beratungsstellen noch gar nicht mit drin. Mit öffentlichen Geldern | |
| wirtschaftlich umgehen bedeutet für mich deshalb: Housing First und | |
| Wohnungen für Wohnungslose. | |
| Das wären zentrale Vorhaben für die nächsten 5 Jahre? | |
| Das sind einige zentrale Vorhaben. Mindestens genauso zentral ist die | |
| Frage, wie wir verhindern, dass immer mehr Menschen ihre Wohnung verlieren, | |
| weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können. | |
| Sie sprechen von [5][Zwangsräumungen.] | |
| Genau. Jede Zwangsräumung ist eine zu viel. Aber unsere Pläne, bestimmte | |
| Gruppen von Zwangsräumungen auszuschließen – etwa Menschen, die auf eine | |
| barrierefreie Wohnung angewiesen sind oder Familien mit Kindern – sind | |
| nicht umsetzbar. Das muss man auf Bundesebene regeln. Was wir auf | |
| Landesebene brauchen, sind Möglichkeiten und Strukturen, frühzeitig auf die | |
| Menschen zuzugehen. Wenn ich als Bezirk weiß, dort sind Menschen, die haben | |
| ein Problem, macht es einen Unterschied, ob ich nur einen Brief schreibe | |
| oder ein Team schicken kann, das versucht, die Menschen vor Ort zu | |
| erreichen. In vielen Fällen öffnen Menschen in solchen Situationen ja ihre | |
| Briefkästen gar nicht mehr. | |
| 3 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Timm Kühn | |
| Uta Schleiermacher | |
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