# taz.de -- Obdachlosenzählung in Berlin: Gut versteckt | |
> Bei der Obdachlosenzählung in Berlin trafen viele Freiwillige wenig | |
> Obdachlose an. Sie wollten nicht gezählt werden. Ein ambivalentes | |
> Projekt. | |
Bild: Der Berliner Ostbahnhof | |
BERLIN taz | Ein komisches Gefühl konnte man schon im Vorfeld bekommen, als | |
eine der Freiwilligen, die sich im Team eine Nacht lang auf die Suche | |
machen sollte, um Obdachlose in Berlin zu zählen und zu befragen. Ein | |
ganzer Packen Fragebogen auf einem Klemmbrett lag bereit, die einzelnen | |
Fragen jeweils in 14 Sprachen übersetzt, alles eher klein gedruckt. | |
Aber welcher Obdachlose aus Ungarn etwa, nachts im Schlafsack liegend, | |
vielleicht berauscht, vor dessen Augen man dann die Frage mit einer | |
Taschenlampe beleuchten würde: „Meddig nem volt állandó otthonod?“, wür… | |
antworten? Wer würde dann auf die Zahlenreihe darunter deuten und verraten, | |
wie viel Monate er oder sie schon ohne feste Wohnung sei? | |
Wer Erfahrung mit Obdachlosen hatte, dem schwante, dass etwas schieflaufen | |
könnte bei der Befragung Mittwochnacht in Berlin. 2.600 Freiwillige waren | |
ausgeschwärmt, in mehr als 600 „Zählteams“ waren sie mit Klemmbrett und | |
gutem Willen unterwegs. | |
Als Zählerin, mit einem blauen Leibchen mit der Aufschrift [1][„Nacht der | |
Solidarität“] bekleidet, zog man durch Kleingärten, Parks, Hinterhöfe und | |
Straßen. Menschen in Schlafsäcken, mit Planen bedeckt, die man sonst gerne | |
mal übersieht, wurden zum Objekt der Sehnsucht. Doch es gibt durchaus | |
Obdachlose, die ganz normal auf einer Bank sitzen, auch in der Nacht. | |
## Misstrauen gegenüber Behörden | |
Vor allem aber hatte sich die Zählung im Auftrag der Berliner | |
Sozialsenatorin herumgesprochen unter Betroffenen. Initiativen wie die | |
Selbstvertretung wohnungsloser Menschen hatten schon im Vorfeld darauf | |
hingewiesen, dass sehr viele Obdachlose gar nicht gezählt oder befragt | |
werden wollten, schon gar nicht auf ihren Schlafplätzen. Das Misstrauen | |
gegenüber Behörden ist groß. | |
Und so stapft das fünfköpfige Team, die Mehrzahl Frauen, durch die Nacht im | |
bürgerlichen Berlin-Friedenau. Es ist mild für Januar. In den Kleingärten, | |
in denen angeblich oft Obdachlose nächtigen, springen wegen des Teams die | |
Bewegungsmelder an. Ansonsten ist alles dunkel. Die Freiwilligen dürfen nur | |
in öffentlich begehbare Räume, und das ist auch ein methodisches Problem: | |
Wie will man Obdachlose zählen, die nicht erfasst werden wollen, die | |
bestimmte Viertel und Verstecke viel besser kennen als das Zählteam, die | |
sich dann womöglich auf privatem Grund verbergen, der für die ZählerInnen | |
gar nicht zugänglich ist? | |
Ein freundlicher Sicherheitsmann eines Krankenhauses führt das Team in das | |
Kellergeschoss mit dem Bettenlager. Hier sollen ab und an Obdachlose | |
eindringen, einer hat sich mal in ein Krankenhausbett gelegt. Heute ist | |
alles leer. Wieder draußen, es ist Mitternacht, wird ein älterer Mensch | |
gesichtet, schwankend hinter einer Litfaßsäule. Er weckt die Hoffnung. Als | |
er einen Hausschlüssel zückt und sich einem Hauseingang nähert, ist auch | |
diese Hoffnung dahin. | |
## Zahlen zu niedrig? | |
Nach drei Stunden Nachtwanderung im netten Team kehrt man zurück: Null | |
Obdachlose gesichtet. Von neun Zählteams in Berlin-Friedenau sind nur zwei | |
Teams insgesamt sechs Obdachlosen begegnet. Vier davon waren angetrunkene | |
Männer vor einem Penny-Markt, die sich gerade mit Wodka eingedeckt hatten, | |
sie ließen sich zählen, zeigten aber keine weitere Auskunftsbereitschaft. | |
Sogar die angestammten Plätze in Unterführungen waren in dieser Nacht | |
verwaist, heißt es. Andere Teams um den Bahnhof Zoo [2][haben höhere | |
Zahlen, liest man]. Aber klar, die Bahnhofsmission, das ist ja nun keine | |
höhere Zählkunst. | |
Die Bilanz der Zählaktion wird von Berlins Sozialsenatorin erst am 7. | |
Februar öffentlich präsentiert, aber die Frage stellt sich schon jetzt: | |
Was, wenn die Zahlen viel zu niedrig sind und eigentlich nur ein Beweis | |
dafür, wie gut sich Obdachlose verstecken können? Sich über die Zählaktion | |
lustig zu machen wäre dennoch zu einfach. In Paris hat das Zählen | |
funktioniert, in New York auch. | |
Und eins bleibt schon hängen nach so einer Nacht: Man ist durch den | |
bürgerlichen Kiez gelaufen, durch die Parks, Kleingärten, Hinterhöfe, | |
Straßen, hat sich alles angeschaut mit der Überlegung, wo könnte man hier | |
liegen, schlafen, eindringen und lagern? Es waren ein paar Stunden mit den | |
Blicken einer Obdachlosen, wenn auch nur ansatzweise. | |
30 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Obdachlosenzaehlung-in-Berlin/!5660929 | |
[2] https://m.tagesspiegel.de/berlin/so-lief-die-nacht-der-solidaritaet-in-berl… | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin | |
Obdachlosigkeit | |
Obdachlose | |
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin | |
Elke Breitenbach | |
Wohnungslose | |
Wohnungslose | |
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berlins erste Obdachlosenzählung: Es braucht noch mehr Daten | |
ExpertInnen ziehen erste Schlüsse aus der Obdachlosenzählung. Doch die ist | |
nur ein Baustein für bessere Hilfe. Nächste Zählung: Frühjahr/Sommer 2021. | |
Erste Obdachlosenzählung in Berlin: Ingwertee und eine blaue Weste | |
.. und Angst vor der eigenen Courage: Unsere Autorin hat in der „Nacht der | |
Solidarität“ Obdachlose gezählt und neue Einsichten gewonnen. | |
Ehemals Obdachloser über Zählung: „Nicht jeder ist empfänglich“ | |
Am Donnerstag diskutiert der Bundestag über die erste deutschlandweite | |
Wohnungslosenzählung. Dirk Dymarski hält wenig davon. Er lebte auf der | |
Straße. | |
Statistik zu Obdachlosen: Deutschland sucht die Wohnungslosen | |
2022 soll gezählt werden, wie viele wohnungslose Menschen in Deutschland | |
leben. Darüber debattiert nun der Bundestag. | |
Psychisch krank und obdachlos: „Alle spüren den Druck“ | |
Über 70 Prozent der Obdachlosen haben eine akute psychische Erkrankung, | |
sagt die Ärztin Stefanie Schreiter. Zu viele von ihnen blieben ohne Hilfe. |