| # taz.de -- Ein Dach überm Kopf für Obdachlose: Schluss mit der Winternotlös… | |
| > Bald beginnt das Winternotprogramm für Obdachlose. Corona verschärft die | |
| > Lage und zeigt: Von der Massenunterbringung muss man sich verabschieden. | |
| Bild: Raum für Vier: Blick in ein Zimmer des Hamburger Winternotprogramms | |
| Hamburg taz | Das Leben auf der Straße ist tödlich. „In den letzten sechs | |
| Wochen sind vier Personen in meinem Arbeitsbereich in der Hamburger | |
| Innenstadt verstorben“, sagt Johan Graßhoff, Straßensozialarbeiter der | |
| Diakonie. Sie waren zwischen 33 und 39 Jahre alt und ohne festen Wohnsitz – | |
| mehr noch: ohne Obdach. | |
| Dass Menschen in einer reichen und sozialdemokratischen Stadt wie Hamburg | |
| [1][auf der Straße sterben], hat mit den Spezifika des Hilfesystems zu tun: | |
| damit, Wohnungslosen wenig zuzutrauen, und mit der Angst, das System könnte | |
| missbraucht werden. | |
| Für akute Fälle, um ad hoc zu verhindern, dass jemand auf der Straße | |
| schlafen muss, gibt es im Winter in den großen Städten Notschlafplätze für | |
| Obdachlose. In Hamburg heißt das Winternotprogramm und läuft normalerweise | |
| vom 1. November bis zum 31. März. | |
| 650 Plätze an zwei Standorten stellt die Stadt im Rahmen dieses Programms | |
| zur Verfügung, zuzüglich einer Reserve von 100 Plätzen. „Um sichere | |
| Bedingungen während der Coronapandemie zu bieten“, wird das Programm in | |
| diesem Jahr auf 1.020 Plätze ausgeweitet, wie der Senat aktuell mitteilte. | |
| Dazu kommen Plätze bei privaten Trägern und ganzjährige Notunterkünfte. | |
| ## Die einen wollen nicht, die anderen dürfen nicht | |
| Theoretisch müsste hier jeder Aufnahme finden, schließlich ist die Stadt | |
| nach ihrem Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) | |
| verpflichtet, jedem einen Übernachtungsplatz anzubieten. Doch eine große | |
| Gruppe von Menschen will nicht – und eine andere darf nicht. | |
| Dass viele nicht wollen, dafür gebe es eine ganze Reihe von Gründen, sagt | |
| Sozialarbeiter Graßhoff. Zum einen seien die Unterkünfte tagsüber | |
| geschlossen. Um 9.30 Uhr werden die Leute vor die Tür gesetzt. „Seine | |
| ganzen Sachen muss man mitnehmen“, sagt Graßhoff. Das passe nicht zum | |
| Alltag seiner Klienten, die ihre festen Plätze und eine entsprechend weite | |
| Anreise hätten. „Man hat keine Zeit sich auszuruhen, weil man den ganzen | |
| Tag mobil sein muss“, sagt Graßhoff. | |
| Aber die Unterkünfte würden auch wegen der dort herrschenden Bedingungen | |
| gemieden: mehrere Hundert Menschen in einem Gebäude, Mehrbettzimmer. „Es | |
| ist laut dort“, sagt Graßhoff. Es gebe Streit. Alkohol sei nur vor der Tür | |
| erlaubt und Hunde gar nicht. Seine Klienten hätten Angst, beklaut zu | |
| werden, und ihnen fehle der Rückzugsraum. „Das Recht, einen Ort zu finden, | |
| wo man sich sicher fühlt, wird im Winternotprogramm nicht gewährleistet“, | |
| sagt der Sozialarbeiter. | |
| Die Gruppe derer, die abgewiesen wird, besteht überwiegend aus | |
| Osteuropäern, die zur Arbeitssuche hergekommen und dabei entweder | |
| gescheitert sind oder ausgebeutet werden. [2][Hamburgs Sozialsenatorin | |
| Melanie Leonhard (SPD) versichert] zwar, jeder werde aufgenommen, doch | |
| tatsächlich prüfen die Mitarbeiter in den Unterkünften, ob jemand nicht | |
| vielleicht doch einen Wohnsitz im Ausland und damit eine Alternative hätte. | |
| Dann fliegt er raus und kann sich nur noch eine Wärmestube suchen, in der | |
| man nur sitzen, aber nicht liegen kann. | |
| ## Angst vor den Arbeitsmigranten | |
| Der Senat will auf diese Weise vermeiden, dass das Winternotprogramm als | |
| quasi eingeplante Schlafstätte für Arbeitsmigranten missbraucht wird und | |
| weitere Leute anzieht. Der gute Standard in Hamburg habe zu einer | |
| „beobachtbaren anhaltenden Mobilität obdach- und wohnungsloser Menschen in | |
| Richtung des hamburgischen Stadtgebietes und seiner Einrichtungen“ geführt, | |
| teilte er auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion in der Hamburgischen | |
| Bürgerschaft mit. | |
| Die Vorstellung, dass eine menschenwürdige Versorgung einen Sog ausübe, | |
| weist Graßhoff zurück. Die Menschen kämen zum Arbeiten. Er räumt aber ein: | |
| „Jede Kommune befürchtet, attraktiv zu werden“, deshalb sei im Grunde eine | |
| bundesweite Regelung nötig. | |
| Vorbild könnte aus seiner Sicht Finnland sein, wo nach dem Prinzip | |
| „[3][Housing First]“ verfahren wird. Obdachlose sollen demnach ohne | |
| Vorbedingungen eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag bekommen. Auf diese | |
| Weise sollen die Leute zur Ruhe kommen, weg vom reinen Überlebensmodus, und | |
| so ins normale Leben zurückfinden. | |
| In Deutschland läuft es bisher andersherum: Obdachlose sollen stufenweise | |
| an das Wohnen herangeführt werden. Auf der letzten, dritten Stufe darf man | |
| ein Jahr probewohnen. 150 Plätze gibt es dafür in Hamburg derzeit. Ist das | |
| geschafft, gibt es einen eigenen Mietvertrag. Stephanie Rose, | |
| Bürgerschaftsabgeordnete der Linken, würde das am liebsten abschaffen. „Wir | |
| sind als Linke der Überzeugung, dass es nicht darum geht, die Leute erst | |
| mal stubenrein zu bekommen“, sagt sie. | |
| ## Der Senat will die Leute ans Wohnen heranführen | |
| Hamburgs rot-grüne Regierung hält in ihrem Koalitionsvertrag an dem | |
| stufenweisen Heranführen ans Wohnen fest, will aber auch ein | |
| Housing-First-Modellprojekt „für wohnungslose Haushalte“ auflegen. Die | |
| Stadt Hannover hat Anfang vergangenen Jahres ein [4][Housing-First-Projekt | |
| gestartet], allerdings nur mit 15 Wohnungen. Im März kommenden Jahres | |
| sollen die ersten Mieter einziehen. | |
| Am nächsten kommt diesem Modell eine Initiative der Reemtsma-Stiftung aus | |
| diesem Sommer. Um wenigstens einige der Menschen zu schützen, die durch die | |
| Coronapandemie besonders gefährdet sind, bezahlte sie für vier Wochen | |
| [5][250 Hotelzimmer für Obdachlose]. | |
| Dabei seien Menschen untergebracht worden, die das bisher stets abgelehnt | |
| hätten, sagt Graßhoff. Und es habe ihnen gut getan. „Wir haben nach wenigen | |
| Tagen gemerkt, dass wir aus sozialarbeiterischer Sicht besser mit ihnen | |
| zusammenarbeiten konnten.“ | |
| Immerhin haben Grüne und SPD vereinbart, es solle „bei Ausweitung des | |
| Beratungsangebots“ eine „ausreichende Anzahl an Übernachtungsplätzen im | |
| Winter für alle Menschen in Hamburg, unabhängig von ihrem Rechtsstatus“, | |
| bereitgestellt werden. | |
| Um zu verhindern, dass arbeitssuchende Zugewanderte aus der EU wohnungslos | |
| werden, will der Senat in Kooperation mit den Sozialpartnern und | |
| Wohlfahrtsverbänden Pensionen einrichten, in denen diese vorübergehend | |
| unterkommen können. Die Überlegungen hierzu, so der Senat, seien „derzeit | |
| noch nicht abgeschlossen“. | |
| Mehr lesen Sie in der gedruckten taz am wochenende – oder [6][hier]. | |
| 23 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Verstorbene-Obdachlose-in-Hamburg/!5546771 | |
| [2] /Sozialsenatorin-ueber-Obdachlosigkeit/!5556191 | |
| [3] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/finnland-soziale-ger… | |
| [4] https://www.hannover.de/Service/Presse-Medien/Landeshauptstadt-Hannover/Mel… | |
| [5] /Randgruppen-in-der-Corona-Krise/!5674817 | |
| [6] /e-kiosk/!114771/ | |
| ## AUTOREN | |
| Gernot Knödler | |
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