Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Obdachlose in Hannover: Zurück in die Massenunterkunft
> Experiment beendet: Zum Winter müssen Obdachlose in Hannover wieder
> überfüllte Schlafsäle in Kauf nehmen. Viele verzichten darauf.
Bild: Brigitte Zimmermann* lebt seit einem Jahr auf der Straße
Hannover taz | Der Herbst in diesem Coronajahr kommt, und die Innenstadt
leert sich. Nur noch wenige Menschen sind auf den Straßen in Hannover zu
sehen, und in der Fußgängerzone fallen [1][diejenigen] stärker auf, die ihr
Hab und Gut in Taschen und Einkaufswagen mit sich führen und nachts in den
Eingängen von Kaufhäusern oder in Hinterhöfen Schutz suchen.
Brigitte Zimmermann* ist eine von ihnen. Am Dienstagmorgen geht sie bepackt
eine Straße hinter dem menschenleeren Waterlooplatz entlang. Sie ist in
mehrere Mäntel gehüllt, trägt eine Mütze auf dem Kopf und einen Schal ums
Gesicht. „Corona ist überall Thema, alles ist geschlossen“, sagt sie.
Zu schaffen macht ihr, dass sie nicht duschen kann, weshalb sie das Gefühl
hat, in der Pandemie als Bedrohung wahrgenommen zu werden. Probleme gebe es
vor allem, wenn sie Geschäfte oder Cafés aufsuche: „Man wird rausgeworfen
und kann sich nicht aufwärmen.“
Brigitte Zimmermann ist Mitte 50, wie viele Obdachlose gehört sie aufgrund
von Vorerkrankungen zur Hochrisikogruppe.
Erst am vergangenen Dienstag war ein 45-jähriger Obdachloser am Raschplatz,
hinter dem Hannoverschen Hauptbahnhof, leblos aufgefunden worden. Die
Polizei spricht von einem Krankheitsfall, nach ersten Erkenntnissen soll es
sich wohl nicht um eine Corona-Erkrankung gehandelt haben.
## Der zweite Tote
Am Mittwoch starb ein weiterer Mann mitten in der Innenstadt. Passanten
fanden den 34-Jährigen aus Osteuropa auf der Lister Meile, nicht weit vom
ersten Fundort entfernt. Nach ersten Ermittlungen der Polizei soll auch er
krank gewesen sein und in den Tagen vor seinem Tod über Unwohlsein geklagt
haben.
In diesem Jahr bleiben den Obdachlosen noch weniger Rückzugsräume als
sonst. Die Tagestreffs und Anlaufstellen müssen seit dem Ausbruch der
Pandemie im März Hygienekonzepte vorlegen, um die Menge der Besucher*innen
zu minimieren und die Dauer ihres Aufenthalts zu verkürzen.
Das Ansteckungsrisiko soll so gering wie möglich gehalten werden, aber nun
fehlen Plätze. „Es ist eine große Herausforderung“, sagt Rainer
Müller-Brandes, Stadtsuperintendent des evangelischen Kirchenkreises und
ehemaliger Diakoniepastor.
Im Kontaktladen „Mecki“ in der Nähe des Hauptbahnhofs hätten sich früher
etwa 100 Personen auf 30 Quadratmetern aufgehalten. Dies sei nun nicht mehr
möglich: „Wir haben unseren Tagestreff umgewandelt. Essen und Beratung gibt
es nun draußen. Drinnen machen wir nur noch die akute medizinische
Versorgung.“ Das Mecki sollte eigentlich ein Schutzraum sein, nun können
viele nicht hinein.
Um die schwierige Situation von Obdachlosen in der Pandemie ein wenig
abzumildern, hatte die Stadt im März ein Corona-[2][Nothilfeprogramm]
aufgelegt. Auf öffentlichen Druck hin war zuerst eine Jugendherberge für
100 Personen am Maschsee angemietet worden.
Als das Angebot auslief, sah es erst so aus, als ob die Menschen zurück auf
die Straße müssten, doch kurzfristig wurde mit dem Hotel Central, das nur
ein paar Querstraßen vom niedersächsischen Landtag entfernt liegt, ein
Anschlussprojekt geschaffen.
Doch auch das lief aus, wieder wurde erst sehr kurzfristig reagiert: Im
Naturfreundehaus, neben einer Schrebergartensiedlung am Rand des Stadtwalds
Eilenriede gelegen, sollten die übrig gebliebenen Obdachlosen unterkommen.
Betreut wurde das Projekt von der Stadt, der Region Hannover, der Caritas
und der Diakonie. „Wir haben dort ganz tolle Erfahrungen gemacht“, sagt
Stadtsuperintendent Müller-Brandes. Im Naturfreundehaus hätten die
Obdachlosen angefangen, sich mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen,
viele seien in stabile Wohn- und teilweise sogar Arbeitsverhältnisse
vermittelt worden.
## Naturfreundehaus macht dicht
Doch auch das Naturfreundehaus war keine Bleibe auf Dauer, und so hieß es
am Donnerstag vor einer Woche für die 17 übrig gebliebenen Menschen aus dem
Haus: [3][zurück auf die Straße].
Heidi steht am Tag ihres Auszugs mit Sascha auf dem Parkplatz des
Naturfreundehauses. „Ich finde es übel, dass die uns jetzt im Winter
rausschmeißen“, sagt sie. „Jetzt, wo es kalt wird und Corona immer noch
nicht vorbei ist und die zweite Welle ja auch vielleicht noch mal kommt.
Mir fehlen da auch ein bisschen die Worte.“
Heidi ist chronische Schmerzpatientin, steht auf Krücken vor dem Auto, in
dem die beiden nun erst mal leben werden. Die Notschlafstellen, sagt
Sascha, seien keine Alternative, die seien definitiv nicht auf Corona
eingerichtet. „Da lebt man dicht an dicht.“
Aus dem hannoverschen Rathaus heißt es zum Ende des Nothilfeprogramms, man
wolle aus dem Projekt aus der „Akut-Phase der Pandemie“ lernen und im
kommenden Jahr zusätzliche Angebote schaffen. Das klingt schon merkwürdig –
steht die „Akut-Phase“ nicht gerade vor der Tür?
Die Stiftung Niedergerke, die bei der Finanzierung gemeinnütziger Projekte
hilft und Menschen in Not unterstützt, hat sich mittlerweile zu Wort
gemeldet und bietet der Stadt 15.000 Euro Unterstützung aus einer
Spenden-Gala an. Gekoppelt ist dieses Angebot jedoch laut Hannoverscher
Allgemeiner Zeitung an die Forderung nach einer Einzelunterbringung der
Menschen und sozialarbeiterischer Betreuung.
Dieses Angebot hat die Stadt bisher ebenso wenig angenommen wie das Konzept
eines „Zwischenraums“, das Caritas und Diakonie für die Menschen aus dem
Naturfreundehaus entwickelt hatten und das die Menschen für vier bis sechs
Wochen auffangen sollte.
Das Ende des Nothilfe-Projekts ist mittlerweile zum Politikum geworden. Die
Ratsfraktionen von FDP und CDU, deren Thema sonst eher der Erhalt des
Individualverkehrs ist, haben den grünen Oberbürgermeister Belit Onay
scharf kritisiert, weil der sich für die Aufnahme von Geflüchteten aus den
griechischen Lagern ausgesprochen hatte.
Man solle sich doch erst mal um Probleme vor Ort kümmern, meinen
Ratsmitglieder gegenüber der HAZ. In den Kommentarspalten tobte daraufhin
der rassistische Mob und feiert das „Erwachen“ der Lokalzeitung.
## Noch immer Massenunterbringung
Seit 2018 [4][gilt in Hannover eigentlich die Devise „Housing First“]:
Obdachlose sollen zuerst eine Wohnung bekommen, dann sieht man weiter. In
der Realität setzt die Stadt jedoch noch immer auf die Massenunterbringung:
950 Plätze stehen in dauerhaften Obdachlosenunterkünften bereit.
Zusätzlich wurden insgesamt 227 Notschlafplätze, verteilt auf fünf
Locations, geschaffen. Nach Angaben der Stadt nehmen momentan 1.311
Menschen Wohn- und Unterkunftsangebote wahr. Eine zusätzlich erworbene
Immobilie steht laut der Hannoverschen Lokalzeitung Neue Presse „kurz vor
Abschluss der Umbauplanung“.
Auch auf mehrfache Anfragen verschiedener Medien hin bleibt die Stadt bei
ihrer Darstellung, dass ausreichend Plätze vorhanden seien. Die Sprecher
der Stadt verweisen auf die gängigen Notschlafstellen, zusätzlich gebe es
jetzt die „Winternotangebote“: Die Notunterkünfte der Stadt haben im Winter
jeweils am Morgen und Abend eine Stunde länger geöffnet.
Jeden zweiten Tag versorgt ein „Kältebus“ Menschen im Innenstadtbereich mit
heißen Getränken und Essen. Es gibt ein Notfall-Shuttle zu den
Notunterkünften. Man sei vorbereitet und habe die Hygienekonzepte
angepasst, so die Stadt.
## Zelten an der Ihme
Michael Kinzel sitzt am Montagnachmittag in der Limmerstraße am
Pferdekutschen-Brunnen, trinkt Bier und aus einer Bluetooth-Box tönt „Ich
wär’ so gerne Millionär“ von den Prinzen. Er gehe in keine Unterkunft, sa…
er, lieber übernachte er auf der Straße: „Als Junkie und zehn Jahre
obdachlos, da hast du keine Chance. In der Notunterkunft sind hundert Leute
in ’ner riesigen Halle, du wirst frühmorgens rausgeworfen, das will ich
nicht.“
Ihm gegenüber sitzen Dennis und Nicole. Beide sind etwa 40 Jahre alt.
Dennis trägt einen beigen Parka und hat eine Flasche Bier in der Hand. Die
letzten Monate hatte das Paar am Ufer der Ihme gezeltet, bis das
Grünflächenamt sie verscheuchte.
„Ich bin mit meiner Freundin obdachlos geworden“, sagt Dennis. „Wir waren
beim Wohnungsamt und die würden uns trennen. Mich in ein Männerwohnheim und
sie in eines für Frauen. Ich finde das untragbar. Lieber lebe ich auf der
Straße und komme ab und zu bei 'nem Kumpel unter.“
Einen Stadtteil weiter, in der Calenberger Neustadt, sitzt Gregor auf einer
Bank. Er löffelt einen Joghurt und wartet auf die Öffnung des Caritas
Tagestreffs um 13 Uhr. Neben ihm steht ein schwarzer Einkaufs-Trolley, ein
Mensch liegt auf einer Bank und schläft. Der Platz um die katholische
Kirche St. Clemens herum ist ansonsten menschenleer, der Wind pfeift durch
die Häuserschluchten der 70er-Jahre-Bauten. Gregor sagt: „Ich wohne am
Aegidientorplatz bei der Sparkasse.“ Auch ihn stört an der Unterkunft, dass
er früh raus muss, da schläft er lieber bei einem Geldautomaten.
## Drei unter der Brücke
An der Ihme, die die Calenberger Neustadt mit Linden verbindet, leben drei
unter einer Brücke. Sie wollen lieber anonym bleiben, kommen aus Osteuropa
und erzählen, sie hätten nach einem Verlust der Arbeit vor einem Jahr die
Miete nicht mehr bezahlen können. Mit Corona lasse sich momentan kein neuer
Job finden. Sie haben es sich beinahe häuslich eingerichtet: Mehrere
Matratzen dienen als Betten, an der Wand hängt ein Schuhregal. In der Mitte
der Betten steht ein kleiner Tisch mit Teelichtern und einem Aschenbecher.
Ein Mitte-30-Jähriger mit Brille und kurzem stoppeligen Bart sagt in
gebrochenem Englisch: „Ich mag keine Dealer, Diebstahl und zu viele Drogen.
Das ist eine Katastrophe in den Massenunterkünften. Alle schlafen in einem
großen Raum oder in Containern und jedes Mal gibt es Probleme.“
## Bündnis „Armut stinkt“
Gegen die Zustände in den Unterkünften und auf den Straßen Hannovers haben
Initiativen wie das Bündnis „Armut stinkt“ demonstriert. „Gewalt,
Diebstahl, Psychokrieg, Alkohol und Drogen sind an der Tagesordnung, wenn
man bis zu hundert Menschen in riesigen, unpersönlichen Hallen
zusammenpfercht“, heißt es in einem Erfahrungsbericht über die
Notunterkünfte, der auf einer der Demos verlesen wurde. Man sei dort der
Willkür des Sicherheitspersonals ausgeliefert.
„Ich finde auf jeden Fall, dass das Nothilfeprogramm den Namen nicht wert
ist. Da kann deutlich mehr getan werden“, sagt Florian Schulz, der für die
Selbsthilfe für Wohnungslose (Sewo) tätig ist. Schätzungen zufolge leben in
Hannover immer noch bis zu 600 Menschen auf der Straße.
Es müsste genug menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten geben, findet
Schulz. „Gerade für Menschen, die nicht leistungsberechtigt sind, gerade im
Winter.“ So, dass niemand, der nicht wirklich wolle, auf der Straße
schlafen müsse.
Derzeit sieht es nicht so aus, als würde es in Hannover bald so weit sein.
* Name geändert
27 Oct 2020
## LINKS
[1] /Obdachlosigkeit/!t5009939
[2] /Wohnungslosigkeit-in-Hannover/!5717301
[3] /Obdachlose-muessen-auf-die-Strasse/!5718560
[4] /Halbherzig-gegen-Obdachlosigkeit/!5572111
## AUTOREN
Michael Trammer
## TAGS
Housing First
Hannover
Obdachlosigkeit
Wohnungslosigkeit
Schwerpunkt Coronavirus
Sozialbehörde Hamburg
Wohnungslose
Obdachlosigkeit in Hamburg
Wohnungslose
Obdachlosigkeit in Hamburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Hotels für Unbehauste: Viele Gewinner
Die Hotelbranche ist in Not, Menschen ohne Wohnung sind es auch – beiden zu
helfen, könnte sich für den Staat lohnen.
Obdachlose in der Corona-Krise: Ein Schutzraum für jeden
Damit Menschen jetzt nicht auf der Straße schlafen, sammeln Hamburger Geld
für Hotels. In Hannover gibt es Spenden schon, aber die Stadt ziert sich.
Selbstvertretung wohnungsloser Menschen: Politisch sichtbar bleiben
Selbst ohne Wohnung, setzt sich Dirk Dymarski für Obdachlose ein. Er ist
aktiv in der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen.
Ein Dach überm Kopf für Obdachlose: Schluss mit der Winternotlösung
Bald beginnt das Winternotprogramm für Obdachlose. Corona verschärft die
Lage und zeigt: Von der Massenunterbringung muss man sich verabschieden.
Obdachlose müssen auf die Straße: Hannover macht dicht
Die Stadt schließt ihre zentrale Unterbringung für Wohnungslose, die zu
Beginn der Corona-Pandemie geschaffen wurde.
Hilfe für Hamburgs Obdachlose: Vom Hotel zurück auf die Straße
Um sie vor Corona zu schützen, buchten kirchliche Träger für 170 Menschen
Hotels. Nun ist das Geld aufgebraucht. Die Stadt bietet nur Notunterkünfte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.