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# taz.de -- Wissenschaftlerin zu Obdachlosenzählung: „Es hat überhaupt nich…
> Die zweite Berliner Obdachlosenzählung wurde abgesagt – zu wenige
> Freiwillige. Die begleitende Wissenschaftlerin Susanne Gerull nennt
> mögliche Gründe.
Bild: Sichtbare Obdachlosigkeit: Menschen unter einer Berliner Brücke
taz: Frau Gerull, am Freitag wurde die in knapp zwei Wochen geplante
Obdachlosenzählung abgesagt. Sie sind sozusagen die wissenschaftliche
Begleiterin des Projekts. Wie enttäuscht sind Sie?
Susanne Gerull: Natürlich bin ich enttäuscht. Aber angesichts der wenigen
Freiwilligen habe ich selber der Sozialsenatorin in einem Gespräch vor
wenigen Tagen ganz dringend geraten, die Verschiebung zu unterstützen.
Bei der [1][ersten Zählung im Januar 2019 waren 2.600 Freiwillige dabei].
Diesmal hatte sich noch nicht einmal die Hälfte angemeldet.
Es sind so unglaublich wenig im Vergleich zum letzten Mal. Wenn man da noch
die 30 Prozent Schwund mit einberechnet, die es an dem Abend gibt, weil
Menschen spontan verhindert sind, dann macht das methodisch keinen Sinn
mehr. Für eine berlinweite Zählung reicht das auf keinen Fall, nicht einmal
für den Innenstadtring. Eine Zählung einzelner Bezirke macht auch keinen
Sinn, die Zahlen wären überhaupt nicht vergleichbar. Damit machen wir uns
lächerlich und angreifbar. Dann heißt es am Ende, hier werden für
halbherzige Zahlen die wenigen Freiwilligen verschlissen, weil eine Absage
blöd für die Politik ist. Die Absage war der richtige Weg, es hat einfach
überhaupt nicht gereicht.
Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für die wenigen Anmeldungen?
Ich mache da vier Hauptgründe aus. Zum einen ist das Potenzial der
Menschen, die Lust und Zeit für ehrenamtliches Engagement haben, mit der
Ukrainekrise nahezu erschöpft. Das sagen ganz klar die
Organisator*innen vom VskA (Verband für sozial-kulturelle Arbeit; d.
Red.).
Und der zweite Grund?
Bei der ersten Zählung war ein Drittel der Freiwilligen Studierende. Auch
in diesem Jahr haben wir zum Beispiel an der Alice-Salomon-Hochschule
wieder Seminare, in denen die Teilnahme an der Zählung freiwilliger
Bestandteil gewesen wäre. Aber es haben sich viel weniger Studierende
gemeldet.
Warum?
Ich sehe das an meinen Studierenden und höre das von anderen Hochschulen
genauso: Die sind nach zwei Jahren Pandemie durch. Es gibt einen
unglaublichen Anstieg bei der psychologischen Beratung für Studierende,
weil viele nicht mehr wissen, wie sie ihr Studium bewältigen sollen und das
Gefühl haben, ihr Leben entgleitet ihnen. Auch diese Gruppe konnten wir
also für die Obdachlosenzählung kaum gewinnen.
Ist es nicht vor zweieinhalb Jahren auch besser gelungen, die Menschen
emotional für die Obdachlosenzählung zu gewinnen?
Das war die erste Zählung, es gab eine richtige Aufbruchstimmung. [2][Ganz
viele wollten dabei sein, an die man klassisch gar nicht denken würde].
Banker und Unternehmerinnen sind da mitgelaufen. Dieser Reiz des Neuen ist
beim zweiten Mal natürlich geringer. Dazu kommt, dass auch die Medien viel
weniger berichtet haben. Ich weiß das sehr genau, weil ich alle Berichte
von der ersten Zählung aus wissenschaftlichen Gründen aufbewahrt habe und
in diesem Jahr die Berichte zu Obdachlosigkeit in diversen Leitmedien
aufarbeite. Bei der ersten Zählung gab es eine wahnsinnige Aufmerksamkeit,
diesmal bis zu dem Hilferuf des VskA vor ein paar Wochen nur ein paar
Agenturmeldungen. Das führt natürlich dazu, dass viele Leute nichts von der
zweiten Zählung wissen, die sich vielleicht dafür interessiert hätten.
Die Zahl obdachloser Menschen in Berlin wurde lange auf 8.000 bis 10.000
geschätzt. [3][Bei der Zählung im Winter 2020 wurden dann nur 2.000
gezählt]. Hat das dem Ansinnen geschadet?
Ich habe mir damals die Finger wund geschrieben, um klarzumachen, dass
diese Zahl natürlich niemals die Zahl obdachloser Menschen in Berlin
abdeckt. Es sind eben nur die, die sichtbar im öffentlichen Raum
angetroffen werden. So sollte es auch kommuniziert werden. Mein Appell an
die Sozialverwaltung war schon damals, dass diese Zahl wie geplant
eingebettet werden muss in eine umfassende Wohnungsnotfallstatistik. Die
Zählung war als Ergänzung gedacht zu einer Befragung von Menschen in den
Hilfeangeboten, die tagsüber angetroffen werden, aber nicht auf der
Parkbank oder im Zelt übernachten, sondern etwa in Kellern oder auf
Dachböden. Das fand aus Pandemiegründen nicht statt.
Jetzt wurde die [4][Zählung auf Winter 2023 verschoben]. Sollte es nicht
extra eine Sommerzählung geben, weil obdachlose Menschen dann eventuell
eher anzutreffen sind als im Winter?
Dafür gab es sicher Gründe, ich war an der Entscheidung nicht beteiligt.
Aber ich sehe neben der Methodik noch das Problem, dass es passieren kann,
dass im Winter die Zählung noch einmal verschoben werden muss wegen der
Coronalage. Wenn dann wieder umsonst Freiwillige mobilisiert wurden, kann
es sein, dass das Projekt tot ist.
Es gab auch die Kritik, dass hier Menschen stigmatisiert werden, die
klischeehaft den Vorstellungen von Obdachlosen entsprechen.
Diese Kritik gab es schon bei der ersten Zählung, vor allem aus den Reihen
der Wohnungslosenselbstvertretung. Die haben die Absage jetzt leider auch
für sich vereinnahmt und sagen, dass sich so wenige Freiwillige gemeldet
haben, weil [5][sie sich mit ihrer Kritik an einer menschenunwürdigen
Zählung durchgesetzt hätten]. Das ist schade, weil ich weiß, dass es auch
viele Obdachlose gibt, die die Zählung positiv empfunden haben, weil sie
sich gesehen fühlen. Ich persönlich glaube, dass das genaue Hinschauen und
Nachfragen eher der Sensibilisierung als der Stigmatisierung dient.
Haben Sie Sorge, dass es schwer wird, noch einmal für das Projekt zu
mobilisieren?
Auf jeden Fall. Es war eine schöne Idee, diese Zählung an die
Zivilgesellschaft auszugliedern. Aber wenn man das wirklich verlässlich und
regelmäßig machen will – und nur dann haben die Zahlen eine Aussagekraft �…
dann muss die Politik sich dem annehmen und auch die Umsetzung,
Finanzierung und Einbettung in eine Wohnungsnotfallstatistik sichern. So
wie das beim Vorbild Paris der Fall ist. Das ist eine klare Ansage an
Sozialsenatorin Katja Kipping.
12 Jun 2022
## LINKS
[1] /Obdachlosenzaehlung-in-Berlin/!5660929
[2] /Obdachlosenzaehlung-in-Berlin/!5657293
[3] /Wohnungsnot-und-Verelendung/!5658789
[4] /Obdachlosenpolitik-in-Berlin/!5860342
[5] https://www.wohnungslosenstiftung.org/neuigkeiten.html
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
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Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
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Elke Breitenbach
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