Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Obdachlosenzählung in Berlin: Auf der Suche
> Fünf Menschen, die sich nicht kennen, treffen sich in der „Nacht der
> Solidarität“, um Menschen ohne Obdach zu zählen, zu befragen. Ein
> Ortstermin.
Bild: Obdachlose unter einer Brücke am Zoo
Berlin taz | Den Ersten übersehen wir fast. „Dürfen wir Ihnen ein paar
Fragen stellen?“ Der Mann drückt sich in die Ecke vor einer geschlossenen
Bankfiliale, die Beine überschlagen, eingewickelt in eine dünne Decke, eine
braune Papiertüte neben sich. Seit 8 Jahren lebt er auf der Straße. Er
spricht gern mit uns, [1][ein Kreuz auf dem Bogen bei „Befragung“].
Es ist kurz nach 22 Uhr in Friedrichshain, der leichte Nieselregen hat
aufgehört, kalter Wind pfeift über die Frankfurter Allee, die Shoppingmall
gegenüber ist seit einer Stunde dicht, aus dem Personalausgang kommen
lachend zwei Mitarbeiter, der Gemüseladenmann packt seine Ware zusammen.
Wir sind fünf Leute, die sich vorher nicht kannten; in einem Internetportal
haben wir uns angemeldet, um bei Berlins, bei Deutschlands erster
Obdachlosenzählung dabei zu sein. Die Stunden vor der Zählung harren wir im
Zählbüro aus, bei Tee und Gebäck. „Und was machst du so?“ Eine Ärztin, …
Geisteswissenschaftler, ein Student und einer, der mit Wohnungslosen
arbeitet – und ich, die Journalistin. Alle aus dem Kiez.
Wir laufen los, auf der Frankfurter Allee. Blicke in jeden Hauseingang. Wir
schauen den wenigen Menschen, die nicht hasten, ohne Ziel sind, ins
Gesicht, aufs Gepäck. „Man sieht sich ganz anders um“, sagt der
Sozialarbeiter. „Man schaut doch überhaupt erst hin“, sagt der Student.
Weiter zu der großen S-Bahn-Station, davor sitzen sie doch sonst immer.
Heute niemand. Es wird Stunden dauern, bis wir wieder auf einen obdachlosen
Menschen treffen.
## „Im Sommer sehe ich hier immer Zelt“
An der nächsten Straßenecke löst sich ein junger Mann aus seiner Clique,
zeigt auf die blauen Westen, die wir alle tragen. „Kann ich fragen, was Ihr
macht?“ Er wirkt besorgt. „Klar“, sagt der Sozialarbeiter. „Wir zählen…
dieser Nacht die Menschen, die auf der Straße leben“. „Ach so, ich dachte
schon, es geht um den Virus.“ Der Mann geht erleichtert weiter. Wir lachen
ein bisschen.
„Und warum habt Ihr so mitgemacht?“ Der Geisteswissenschaftler hat es in
der Zeitung gelesen. Die Ärztin sagt, eine Kollegin hat es ihr erzählt und
sie wollte eh mal etwas mit obdachlosen Menschen machen. „Der Arbeitgeber
hat es uns vorgeschlagen“: Der Sozialarbeiter, der mit wohnungslosen
Menschen arbeitet, bekommt sogar einen Ausgleichstag.
Keine Stunde sind wir unterwegs, da kommt uns einer aus einem Zählbüro aus
Lichtenberg entgegen, ohne Weste, auf dem Heimweg. „Wir sind schon durch.“
Jetzt schon? „Haben gar keinen getroffen.“ Oh. Wir laufen weiter, etwas
zügiger, Straße auf, andere Seite wieder zurück, zickzack. Kleine Straßen,
die wir alle gut kennen. Der Student ist oft mit dem Hund unterwegs. „Im
Sommer sehe ich hier immer Zelte.“ Heute ist die kleine Böschung am Rande
unserer Zählbezirks leer. Parkbänke, Spielplätze, Hauseingänge, bestimmt
schon die zehnte Pfandflasche, hier sind heute wohl keine Menschen ohne
Obdach unterwegs.
Und dann, es ist nach Mitternacht, liegt da einfach ein Mensch auf dem
Fußweg, zwischen Späti und dem kleinen koreanischen Restaurant. Nur ein
Stück Bart zu sehen über dem braunen Schlafsack. Er schläft und wir wecken
niemanden, wir stören niemanden. So sind die Regeln. Ein Kreuz bei
„Zählung“.
## „Danke, dass ihr fragt“
Die Straße macht einen Schlenker, 90er-Jahre-Architektur bietet mannshohe,
windgeschützte Unterschlüpfe, Durchgänge zwischen den Häusern, hell
beleuchtet. Ein Mann sitzt in seinem Schlafsack und liest. Neben ihm ein
zweites Lager, hinter ihm ein Einkaufswagen. Mitte 40, lebt er seit 12
Jahren auf der Straße, sein Kollege ist gerade mit dem Hund spazieren.
„Dankeschön, dass wir fragen durften“, sagen wir. „Danke, dass Ihr fragt,
macht ja sonst niemand.“ Hoffentlich bringt es etwas, sagt der
Sozialarbeiter. „Ja, mal schauen“. Der Mann lächelt. Ein Kreuz bei
„Befragung“.
Zurück auf der Frankfurter Allee, die letzten Dönerläden machen zu. Da
steht einer, den Rücken zu uns, die silberne Isomatte in der Hand. „Dürfen
wir…?“ Dreht sich um und schaut mit müden Augen. „Klar.“ Ende 20 ist e…
sieht aus wie 40. Seit 11 Jahren lebt er auf der Straße. Nein, keine
Begleitung, er sei ganz allein. „So ist es, das Leben.“ Ein Kreuz bei
Befragung.
Wir gehen weiter, es ist halb eins, noch einmal vorbei an der verwaisten
Schlafstätte, die wir schon am Anfang gesehen haben. Immer noch niemand da.
„Nein“, schreit da einer. Liegt mit Krücken auf der Straße, kann sich nic…
bewegen, schreit vor Schmerzen. „Kein Körperkontakt mit den obdachlosen
Menschen“, hieß es bei der Einführung im Zählbüro. Zwei von uns haken den
Mann unter, helfen ihm zu seiner Schlafstätte. Er wimmert, weint. Wir
sprechen seine Sprache nicht, sind ratlos. Die Ärztin, der Sozialarbeiter,
der Geisteswissenschaftler, der Student, die Journalistin. „Eigentlich
müsste man doch…“ Wir rufen den Rettungswagen.
Die Sanitäter kommen nach 20 Minuten, sie kennen den Mann schon, wirken
unentschlossen. „Vorhin konnte er noch gut laufen.“ Jetzt nicht mehr, in
einer Plastikfolie hält der Mann seine Befunde in der Hand, war offenbar
erst vor wenigen Tagen im Krankenhaus. „Weiterbehandlung empfohlen“, liest
der Sanitäter vor. Sie nehmen ihn mit, auf der weißen Bahre, mit seinem
Plastiksack voll Habe. Vielleicht nur, weil wir da stehen, mit unseren
blauen Westen, in der Nacht der Solidarität.
Ein Kreuz bei „Zählung“. Das letzte für unser Team. „Ein bitteres Ende�…
sagt der Student. Wir laufen zurück zum Zählbüro, „ihr seid die letzten“,
heißt es dort. Wir geben die Befragungsbögen ab. Und die blauen Westen, für
das nächste Mal. Es ist nach Eins, wir gehen zurück. Nach Hause.
30 Jan 2020
## LINKS
[1] /Obdachlosenzaehlung-in-Berlin/!5660929/
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Franziska Giffey
Elke Breitenbach
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Berlins erste Obdachlosenzählung: Es braucht noch mehr Daten
ExpertInnen ziehen erste Schlüsse aus der Obdachlosenzählung. Doch die ist
nur ein Baustein für bessere Hilfe. Nächste Zählung: Frühjahr/Sommer 2021.
Die Wochenvorschau für Berlin: Politisch eine eher ruhige Woche
Nach Mietendeckel-Beschluss und viel Tamtam um Giffey und Müller, ist nur
Zeit, sich um anderes zu kümmern. Den Hermannplatz zum Beispiel.
Erste Obdachlosenzählung in Berlin: Ingwertee und eine blaue Weste
.. und Angst vor der eigenen Courage: Unsere Autorin hat in der „Nacht der
Solidarität“ Obdachlose gezählt und neue Einsichten gewonnen.
Obdachlosenzählung in Berlin: Nachts in den Straßen der Stadt
Tausende Freiwillige haben erstmals die Obdachlosen der Hauptstadt gezählt.
Ziel ist eine Verbesserung der Hilfsangebote, Vorbild ist Paris.
Mahnwache gegen Obdachlosigkeit: „Zählen ist nicht solidarisch“
Bei der Berliner „Nacht der Solidarität“ stehe die Statistik im
Vordergrund, kritisiert Nicole Lindner vom „Wohnungslosenparlament in
Gründung“.
Obdachlosenzählung in Paris und Berlin: „Wir zählten viel mehr Frauen“
Berlin zählt erstmals obdachlose Menschen und orientiert sich dabei an
Paris. Paul Henry, Mitarbeiter der Pariser Sozialverwaltung, über
Erkenntnisse.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.