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# taz.de -- Armen-Ambulanz in der Corona-Krise: Mehr Andrang, weniger Personal
> In der Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung ist seit Corona
> mehr Andrang denn je. Es fehlt jedoch an Pflegefachkräften.
Bild: Wer Fieber hat, darf nicht rein: Olga Merker misst die Temperatur bei den…
Berlin taz | Olga Merker steht in der Eingangstür und misst mit einem
Infrarotthermometer bei den Wartenden die Temperatur. Wer Fieber hat, darf
nicht rein in die Caritas-Ambulanz für Wohnungslose in einem Hinterhof
hinterm Bahnhof Zoo. An diesem Dienstagmorgen trifft es zwei von elf
Männern. „Der Doktor kommt später raus und entscheidet, ob sie einen
Schnelltest bekommen“, erklärt die Arzthelferin.
Die anderen gehen nach und nach in die Praxis im ersten Stock. Im
Wartezimmer darf wegen Corona immer nur eine Person sitzen. Dort liegen auf
einem Tisch Obst, abgepackter Saft und Müsliriegel für die Männer bereit
und in einem Schrank gespendete Kleidung. Vor Corona hätten sie zudem
Kaffee angeboten, sagt Olga Merker, und auch mal ein Schwätzchen gehalten
mit den Patient*innen. „Da konnten wir auch was für die Seele der Menschen
tun“, beschreibt die Mittvierzigerin diesen nicht unwichtigen Teil ihrer
Arbeit. Seit der Pandemie ist alles anders: überall Abstand und Distanz,
mehr Patient*innen, weniger Mitarbeiter*innen.
Seit 1992 gibt es die „Caritas-Ambulanz für Wohnungslose“, wie sie
offiziell heißt. Eigentlich sei es eher eine Praxis „für Menschen ohne
Krankenversicherung“, sagt Projektleiter Martin Weber. Nicht wenige, die
herkommen, arbeiteten „schwarz“, ohne Versicherung, etwa Polen und Rumänen
auf Baustellen – mit entsprechenden Verletzungen wie Schnittwunden vom
Fliesenlegen. Andere kommen her, weil sie „papierlos“ sind, sprich: keine
Aufenthaltserlaubnis haben und deshalb keine Krankenversicherung.
Seit Corona werden es mehr. In früheren Jahren habe man etwa 5.000
Behandlungen pro Jahr gehabt, sagt Weber, in diesem seien es jetzt schon
8.000. „Und unsere Hauptsaison im Winter fängt erst an.“ Der Grund für den
erhöhten Zulauf: Viele andere medizinische Ambulanzen und Anlaufstellen für
Wohnungslose beziehungsweise Menschen ohne Krankenversicherung haben ihr
Angebot wegen Corona verringert oder sogar ganz eingestellt.
## Offene Sprechstunde trotz Corona
„Im ersten Lockdown haben fast alle außer uns dichtgemacht“, sagt der
Projektleiter. Und die größte medizinische Einrichtung dieser Art, die
„Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“, bietet
pandemiebedingt nur noch Termine nach Vereinbarung. Zur Caritas dagegen
kann man spontan kommen, jeden Wochentag von 10 bis 15 Uhr.
An diesem Morgen hört man kurz vor zehn beim Warten vor dem Eingang vor
allem Polnisch. Etwas abseits steht ein junger Mann, der aussieht, als
verstehe er diese Sprache nicht. Ein Flüchtling aus Sudan, wie er sich
vorstellt, seit 2013 lebt er am Görlitzer Park. Seit einiger Zeit leide er
unter chronischen Bauchschmerzen und Schlaflosigkeit und war schon öfter
hier. Vor sieben Jahren habe er sein Asylheim und -verfahren in Stuttgart
hinter sich gelassen. „Ich wollte in die Hauptstadt, mich der
Flüchtlingsbewegung anschließen“, sagt er auf Englisch, seinen Namen will
er nicht nennen.
In der Ambulanz muss niemand seinen Namen sagen. Etwa 90 Prozent der
Patient*innen seien Ausländer, berichtet Martin Weber. Es kämen aber auch
Deutsche, die es aufgrund von psychischen oder Drogenproblemen nicht zurück
ins Gesundheitssystem schaffen.
Die Krankheiten entsprechen den Lebenslagen: Viele offene Wunden, meist an
Beinen, die beim Leben auf der Straße schlecht heilen; viele Infekte,
Lungenentzündungen, Hautkrankheiten aller Art, im Winter Erfrierungen. 30
bis 40 Patient*innen habe er pro Schicht, berichtet Holger Bandmann, der
Arzt, der an diesem Tag Dienst hat. „Manche müssen wir auch ins Krankenhaus
einweisen.“ Dann wird es oft kompliziert: Krankenhäuser nehmen ungern
Patient*innen ohne Gesundheitskarte – wenn die Verletzung oder die
Krankheit nicht lebensgefährlich ist, müssen sie das auch nicht. Mit
manchen Krankenhäusern gebe es aber Kooperationen, erklärt Holger Bandmann.
## Angst vor Corona erschwert Ehrenamt
Bandmann und seine Ärzte-Kolleg*innen arbeiten ehrenamtlich für das
Projekt. „Vor Corona waren wir neun, seither sind sechs Kolleg*innen
zeitweise nicht mehr gekommen“, erzählt er. Die meisten seien älter und
hätten verständlicherweise Angst vor Ansteckung. „Inzwischen sind wir aber
wieder mehr.“
Zu den Ärzt*innen kommen: eine ebenfalls ehrenamtliche Medizinstudentin
sowie eine Pflegefachkraft, eine Verwaltungsangestellte und der
Projektleiter. Die Stellen werden vom Land bezahlt. Alle weiteren Kosten –
für Miete, Material und Medikamente, manchmal für Heimreisen von
Patient*innen, die dies wünschen – müssen durch Spenden beschafft werden.
Eine weitere Stelle für eine Pflegefachkraft – die Mitarbeiterin ist in den
Ruhestand gegangen – kann Weber seit einem halben Jahr nicht besetzen. Es
habe nur wenig Bewerbungen gegeben, darunter keine passende. Für Menschen,
die zuvor im Krankenhaus gearbeitet haben, sei der Job oft nichts: die
speziellen Patient*innen, die meist kein Deutsch können – zum Glück
sprechen die Mitarbeiter*innen viele Sprachen –, die vielen chronischen
Erkrankungen, „die man nicht lehrbuchartig behandeln kann. Hier muss man
improvisieren, hier ist es nicht so geordnet.“
Dazu kommt: „Schon vor Corona gab es einen Mangel an Pflegefachkräften.
Seither“, so Webers Einschätzung, „gibt es noch mehr Zurückhaltung, den J…
zu wechseln.“ Zumal große Krankenhäuser, etwa Vivantes, Boni zahlten. „Da
können wir nicht mithalten.“ Immerhin: Die Caritas zahle wie Tarif, „sogar
besser, wir haben mehr Feiertage“. Schließlich ist die Caritas ein
katholischer Arbeitgeber.
## Noch keinen Plan für die kalte Saison
Webers aktuelle Hoffnung: Seit Montag ist die Stellenausschreibung im
U-Bahn-TV „Berliner Fenster“. „Alles andere“ – Krankenhäuser,
Schwesternschulen, Online-Jobportale – habe er schon abgeklappert, sagt er.
Wenn es jetzt wieder nichts wird mit der Pflegefachkraft, könnte es in der
Ambulanz personaltechnisch bald eng werden. Und dann könnte es passieren,
dass die Praxis auch mal einen Tag zubleiben muss. „Das kam schon vor“,
sagt Weber, allerdings vor Corona. „Bislang konnten wir die fehlende Stelle
ehrenamtlich ausgleichen.“
Aber wenn nicht mindestens vier Mitarbeiter*innen da sind, dürfe er schon
aus Sicherheitsgründen gar nicht öffnen – falls es mal Ärger mit
aggressiven, vielleicht betrunkenen Patient*innen gibt. Das kommt laut
Weber allerdings selten vor. „Die meisten warten geduldig, auch wenn sie
jetzt draußen stehen müssen.“
Doch was, wenn es bald richtig kalt wird im Hinterhof? Könnte man einen
Pavillon aufstellen, mit Heizpilz als „Warteraum“? Das wolle der Vermieter
nicht, sagt Weber und zuckt mit den Schultern. Man wird sehen, was der
Coronawinter noch für Ideen bringt.
19 Nov 2020
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
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Caritas
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Wohnungslose
Zweckentfremdung
Obdachlosigkeit
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