# taz.de -- Obdachlosigkeit in Berlin: Tiersorge ist auch Selbstfürsorge | |
> Jeanette Klemmt versorgt Tiere von wohnungslosen Menschen. Wer einen | |
> Termin möchte, muss aber bereit sein, auch für sich selbst Hilfe | |
> anzunehmen. | |
Bild: Während die Tierärztin Berlis Herz abhört, steht sein Frauchen beruhig… | |
Chico zittert am ganzen Körper. Der Pitbull-Mischling liegt auf einem | |
metallenen Behandlungstisch, unter ihm eine rutschfeste Gummimatte. Um sein | |
rechtes Vorderbein ist ein Stauschlauch gebunden. „Die Vene rollt immer | |
wieder weg“, sagt Tierärztin Jeanette Klemmt, während sie versucht, eine | |
Kanüle in die Chicos Ader zu führen. Chico hechelt vor Angst, und als die | |
Veterinärin endlich eine geeignete Vene gefunden hat und die Nadel zum | |
Einstechen ansetzt, drückt sich der Hund hoch. | |
„Bitte den Stift beiseitelegen und mithelfen“, ruft Klemmt der Autorin | |
dieses Artikels zu. „Die Hand unter Chicos Kinn legen und seinen Kopf aus | |
dem Sichtfeld halten“, lauten ihre Anweisungen. Dann gelingt es der | |
Tierärztin: Blut tropft aus der Kanüle in ein Röhrchen. Nach der Behandlung | |
spricht sie in ihr Diktiergerät: „Chico, Blutentnahme, eine Rheumokam 100 | |
und eine kleine Packung Traumeel.“ | |
Jeanette Klemmt, 52, trägt Jeans und Boots. Sie ist eine robuste Frau – und | |
eine außergewöhnliche Tierärztin. Sie behandelt kostenlos Tiere von | |
Menschen, die in großer Not leben und sich einen Tierarztbesuch nicht | |
leisten können: Wohnungslose, Drogenabhängige, Straßenkids, psychisch oder | |
chronisch Kranke. 2006 hat sie das Bundesverdienstkreuz erhalten. | |
Klemmts Praxis ist 8 Quadratmeter groß – ein ausrangierter Rettungswagen, | |
umgebaut für tierärztliche Behandlungen. Jede Woche fährt die Veterinärin | |
damit das Wagendorf Wuhlheide sowie Beratungsstellen in Berlin an. Das | |
Projekt der Stiftung SPI ist bundesweit einzigartig und finanziert sich | |
allein über Spenden. | |
## Sich auch selbst Hilfe suchen | |
Um sein Tier von Jeanette Klemmt behandeln lassen zu dürfen, reicht es | |
nicht, einfach nur kein Geld zu haben. Voraussetzung für einen Termin ist, | |
dass die Besitzer*innen sozialpädagogisch betreut werden. „Wer sich keine | |
Hilfe sucht, dessen Tier untersuche ich nicht“, sagt Klemmt. Klingt hart, | |
macht aber Sinn: Denn diese Regel motiviert viele, überhaupt erst Kontakt | |
zu Sozialarbeiter*innen aufzunehmen. | |
„Durch das Projekt erreichen wir Leute, die sonst niemals zu uns gekommen | |
wären“, sagt Katrin Behrend. Sie leitet den Kontaktladen enterprise in | |
Lichtenberg – eine der Beratungsstellen, die die Tierärztin mit ihrer | |
mobilen Praxis anfährt. Zweimal die Woche parkt Klemmt hier und versorgt | |
Tiere von Bedürftigen. „Die meisten kümmern sich besser um ihr Tier als um | |
sich selbst“, sagt die Veterinärin. | |
Angefangen hat alles vor 20 Jahren. „Nach meinem Tiermedizinstudium an der | |
FU fragte mich die Frau meines Vaters, ob ich mir vorstellen könnte, die | |
Hunde von Punks zu versorgen“, sagt Klemmt. Die Frau des Vaters war damals | |
Sicherheitsberaterin der S-Bahn, und freilaufende Hunde wurden zunehmend | |
ein Problem. Sie bissen Fahrgäste und streunten über die Gleise. Die Idee: | |
Über die Tiere sollte Klemmt einen Zugang zu den jugendlichen | |
Besitzer*innen aufbauen, die an Berlins S- und U-Bahnhöfen herumlungerten. | |
„Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie mit Obdachlosen zu tun. Ich bin | |
im bürgerlichen Wilmersdorf aufgewachsen, da gab es so etwas nicht“, sagt | |
Klemmt. Trotzdem nahm die damals 32-Jährige die Stelle an. Sie wollte den | |
Hunden und ihren Besitzer*innen helfen. Im Januar 2000 stand die junge | |
Tierärztin zum ersten Mal mit ihrem Kombi auf dem Alexanderplatz und | |
verarztete Hunde aus dem Kofferraum heraus. „Das Projekt schlug direkt | |
ein“, sagt Klemmt. | |
## Inzwischen auch Hamster oder Katzen | |
Weil die Zielgruppe anfangs obdachlose Menschen waren und diese | |
ausschließlich Hunde hatten, bekam das Projekt den Namen „HundeDoc“. Heute | |
behandelt Klemmt auch Tiere von Menschen mit Obdach, etwa Katzen oder | |
Hamster. Pro Jahr verarztet sie rund 800 Tiere, 2019 hat sie in ihrer | |
mobilen Praxis 258 Tiere geimpft und 55 Operationen durchgeführt, | |
größtenteils Kastrationen. | |
Manche Klient*innen kennt die Tierärztin schon seit Projektbeginn. Eine | |
davon ist Yvonne. Gemeinsam mit ihrer sechsjährigen Tochter Amelie und | |
ihrem Schnauzermischling Bärle ist sie zur Sprechstunde nach Lichtenberg | |
gekommen. Yvonne trägt graue Leggins und rote Gummischlappen, ihr Hund hat | |
wuscheliges braunes Fell. „Yvonne hat eine klassische Straßenkarriere | |
hinter sich. Als ich sie vor 20 Jahren kennengelernt habe, war sie | |
obdachlos“, sagt Klemmt. Heute wohnt die 45-Jährige in einer Wohnung in | |
Hellersdorf, zusammen mit ihren drei Kindern und ihrem Partner. Sie bekommt | |
Hartz IV. „Obwohl ihre Situation immer noch schwierig ist, werte ich ihren | |
Weg als Erfolg“, sagt Klemmt. „Sie ist von der Straße weggekommen und am | |
Leben.“ | |
Was Yvonne zur Sprechstunde führt? „Bärle hinkt beim Spazieren und jault | |
manchmal, wenn wir ihn streicheln“, sagt sie. Als Klemmt den Hund abtastet | |
und seine Beine bewegt, fiept er. Immer wieder sagt die Tierärztin mit | |
tiefer Stimme: „Alles gut, Bärle, aaaalles gut“. | |
Klemmt vermutet, dass Bärle an einer rheumatischen Arthritis leidet, | |
ausgelöst durch einen Zeckenbiss. „Um das herauszufinden, muss ich Bärle | |
Blut abnehmen und es ins Labor schicken“, sagt die Veterinärin. „Da wären | |
wir allerdings bei 100 Euro, denn das Labor ist Fremdleistung.“ Geld, das | |
Yvonne nicht einfach so hat. „Wie sehr eilt das?“, fragt sie. „Wir sollten | |
das Blut so schnell wie möglich einschicken, ohne dass du dich ins | |
finanzielle Chaos stürzt“, antwortet die Tierärztin. Yvonne vermutet, dass | |
sie das Geld im Januar zusammen hat. | |
## Hausapotheke im ehemaligen Kinderzimmer | |
Nach 20 Jahren HundeDoc kann sich Klemmt nicht mehr vorstellen, in einer | |
normalen Tierarztpraxis zu arbeiten. Zwar würde sie dort viel mehr | |
verdienen und müsste nicht mehr finanziell von ihrer Familie unterstützt | |
werden. „Aber dann wäre ich nicht so flexibel wie jetzt und hätte weniger | |
Zeit für meine Klient*innen“, sagt sie. Außerdem trieben sie | |
Erfolgsgeschichten wie die von Yvonne an. „Mit ehemaligen Klient*innen, | |
denen es mittlerweile super geht, schreibe ich noch per Facebook.“ Doch | |
nicht immer läuft alles so gut. Manche seien an Drogen gestorben, andere | |
hätten Suizid begangen, erzählt Klemmt. | |
Die Veterinärin geht mit den Tierbesitzer*innen freundschaftlich um, sagt | |
„wir“ statt „du“ und Dinge wie: „Liebe Grüße an Matthias“ oder �… | |
eine Nachricht, wie es Bärle geht.“ Außerdem nimmt sie sich viel Zeit. Die | |
Untersuchung von Bärle etwa dauert 25 Minuten. Und sie kümmert sich nicht | |
nur um die Tiere, sondern auch um die Besitzer*innen. Yvonnes Tochter | |
Amelie zeigt sie, wie sie Bärle mit dem Stethoskop abhören kann. Während | |
Klemmt den Hund untersucht, erklärt sie ausführlich, warum Zecken so | |
gefährlich sind und welche Krankheiten sie übertragen können. Zum Schluss | |
gibt sie Yvonne vier Dosen Hundefutter mit. | |
Nach ihren Einsätzen arbeitet Klemmt zu Hause weiter. Sie wohnt noch immer | |
in Wilmersdorf, in der Wohnung, in der sie aufgewachsen ist. Sie muss jeden | |
Fall dokumentieren. Alles, was sie während der Behandlungen in ihr | |
Diktiergerät spricht, tippt sie zu Hause ab. Ihr Equipment lagert die | |
Tierärztin in ihrem alten Kinderzimmer. Darin steht ein Kühlschrank für | |
Impfungen und Medikamente, darauf ein Autoklav zum Sterilisieren der | |
Instrumente. „Der Raum erfüllt die tierärztliche Hausapothekenverordnung | |
und ist vom Amt so abgenommen“, sagt Klemmt. | |
Wütend auf ihre Klient*innen ist die Veterinärin fast nie. „Nur wenn sie | |
sich gegen meinen Rat einen zweites oder gar drittes Tier anschaffen oder | |
dauernd den Impfpass verlieren, werde ich ungehalten“, sagt Klemmt. Sie hat | |
Verständnis dafür, dass sich Menschen trotz Geldnot für ein Tier | |
entscheiden. „Viele haben keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, der Hund | |
oder die Katze ist dann der wichtigste Sozialpartner“, sagt Klemmt. „Das | |
Tier hinterfragt dich nicht, macht dir keine Vorwürfe, wenn du stinkst und | |
ist in der Regel immer treu.“ | |
Der Gedanke „Die Leute haben kein Geld, wieso schaffen sie sich einen Hund | |
an?“ sei zu einfach. „Ein Tier zu lieben und Verantwortung zu übernehmen | |
hat nichts mit Geld zu tun“, sagt die Veterinärin, die selbst zwei Hunde | |
hat. Trotzdem habe sie manchmal auch Mitleid mit ihren Patienten. Das Leben | |
auf der Straße sei nicht nur für die Menschen hart, sondern auch für die | |
Tiere. „Im Winter frieren die Tiere draußen genauso wie ihre | |
Besitzer*innen. Meine Hunde Rudolf und Amanda sind heilfroh, eine warme | |
Wohnung zu haben.“ | |
23 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Rieke Wiemann | |
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