| # taz.de -- Wohnungslos im Corona-Winter: Zusammenrücken ist keine Option | |
| > Wohnungslose und ihre Helfer sind in einer schwierigen Lage. Sowohl die | |
| > Aufnahme als auch das Abweisen von Menschen kann deren Tod bedeuten. | |
| Bild: Die Straßen sind nie ganz leer. Berlin, Alexanderplatz, im März 2020 | |
| Makaras Kalašnikov steht abseits von den anderen Wartenden. Vor der | |
| Notunterkunft der Berliner Stadtmission in der Nähe des Hauptbahnhofs dreht | |
| er sich eine Zigarette. Die Mütze hat er tief ins Gesicht gezogen, darüber | |
| sitzt die Kapuze seiner Jacke. Er trägt eine glänzende Daunenjacke, seine | |
| Turnschuhe sehen aus, als wären sie frisch geputzt. Kalašnikov sagt: „Seit | |
| drei Wochen bin ich auf der Straße. Es ist beschissen. Mir tun die Füße | |
| weh. Den ganzen Tag nur laufen, laufen, laufen. Nichts ist offen.“ | |
| Bis vor wenigen Wochen hatte er noch einen Job als Programmierer, erzählt | |
| er. Dann hat er sich heftig mit seiner Ex-Freundin gestritten, es ging um | |
| Eifersucht. Am Ende hat er seine Sachen gepackt und ist abgehauen, hat ein | |
| paar Nächte bei Kumpels geschlafen. Aber er will dort nicht weiter stören. | |
| Seit er auf der Straße ist, ist auch sein Job weg. Kalašnikov blickt sich | |
| um. Es ist etwa 22 Uhr an einem Novemberabend mit knapp über null Grad. | |
| Seit die Unterkunft um 20 Uhr geöffnet hat, ist die Schlange kaum kürzer | |
| geworden. | |
| Für die meisten [1][wohnungslosen Menschen ist dieser Winter vermutlich | |
| besonders hart]. Wie schlimm es wird, kommt darauf an, in welcher Stadt | |
| oder Kommune sie leben – die sind nämlich verantwortlich für die | |
| Unterstützung von Wohnungs- und Obdachlosen. In Berlin sind die | |
| Hilfseinrichtungen relativ gut vorbereitet, in vielen anderen Städten und | |
| Kommunen dagegen sieht es düster aus. Denn wie viel Hilfe die sozialen | |
| Träger wie die Caritas oder die Evangelische Stadtmission bereitstellen | |
| können, hängt davon ab, mit welchen Summen die Kommunen sie finanziell | |
| unterstützen. | |
| Schon in normalen Wintern ohne Corona gibt es, besonders in großen Städten, | |
| wenige Orte, an denen sich wohnungslose Menschen tagsüber aufwärmen können, | |
| nachts sind die Notübernachtungen oft überfüllt. Doch im Coronawinter ist | |
| Zusammenrücken keine Option. Im Gegenteil: Um die Ansteckungsgefahr zu | |
| verringern, öffnen die meisten Tagesaufenthalte gar nicht erst und die | |
| Notübernachtungen belegen nicht alle Betten, die sie haben. Und wenn sich | |
| trotz der Maßnahmen eine größere Zahl der Menschen ansteckt? Dann dürften | |
| die meisten Städte ein Problem haben. | |
| ## Nicht ausreichend vorbereitet | |
| Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V., der Dachverband der | |
| Hilfseinrichtungen für wohnungs- und obdachlose Menschen, hat mehr als | |
| 1.600 Einrichtungen bundesweit gefragt, ob die Kommunen „mit Blick auf den | |
| Winter und eine mögliche zweite Coronawelle“ vorgesorgt haben. Von den 500, | |
| die geantwortet haben, sind 40 Prozent der Meinung, dass ihre Kommune nicht | |
| ausreichend auf die Herausforderungen des Winters vorbereitet sei. Weitere | |
| 40 Prozent wissen erst gar nicht, wie ihre Kommunen planen, die | |
| Obdachlosenhilfe zu unterstützen. Nur 20 Prozent finden, ihre Kommunen | |
| seien gut vorbereitet. | |
| „Konkret bedeutet das, dass eine signifikante Zahl von Einrichtungen | |
| entweder mehr Menschen abweisen oder sie ohne Schutzmaßnahmen aufnehmen | |
| muss“, sagt die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft, Werena | |
| Rosenke. „Beides sind schlechte Optionen, weil sie im Zweifel Tote | |
| bedeuten.“ Außerdem gebe es in den meisten Städten zu wenig oder gar keine | |
| Quarantäneplätze für Menschen von der Straße. | |
| In Berlin gibt es zumindest einen Plan für die restlichen Wintermonate. | |
| Anfang Dezember hat [2][Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) | |
| angekündigt], die bisherigen zwanzig Quarantäneplätze in der Notunterkunft | |
| nahe dem Hauptbahnhof auf bis zu 120 Plätze aufzustocken. Ein Nadelöhr sei | |
| hier allerdings das Personal und nicht die Finanzierung, teilte ein | |
| Sprecher der Senatsverwaltung für Soziales der taz mit. | |
| ## Mehr Menschen als Plätze | |
| Zusätzlich zu einer Einrichtung der Stadtmission mit Sozialberatung und | |
| siebzig Plätzen, die auch tagsüber geöffnet ist, soll eine weitere | |
| Notunterkunft künftig auch tagsüber öffnen und weiteren hundert Menschen | |
| Schutz vor der Kälte bieten. Dazu hat das Berliner Hofbräu-Haus seit Mitte | |
| Dezember als Tagesaufenthalt für achtzig Menschen offen. Das klingt gut, | |
| aber in Berlin leben viel mehr Menschen auf der Straße: nach einer Zählung | |
| des Berliner Senats im Januar mindestens 1.976 Menschen, wahrscheinlich | |
| mehr. Deswegen versorgen zusätzlich verschiedene Träger die Menschen | |
| draußen mit Essen. | |
| Die Stadtmission zum Beispiel schickt nun jeden Abend den Suppenbus auf | |
| Tour. Mitarbeiter*innen der Stadtmission transportieren darin Kaffee, Tee | |
| und warmes Essen in großen Thermosbehältern. Außerdem lagern hier einige | |
| Schlafsäcke und Isomatten. Jeden Dienstag von 19 bis 23 Uhr sitzt Kelly | |
| Lüdeking auf dem Beifahrersitz. Sie ist 26 Jahre alt und tagsüber | |
| Projektmanagerin in einem Onlinehandel. Wenn der Bus an einem Abend im | |
| November unter einer Brücke in Charlottenburg hält, springt Kelly raus und | |
| und fragt die Menschen, ob sie etwas brauchen: Essen, Trinken, einen | |
| Schlafsack? „Seit ich hier arbeite, gehe ich anders durch die Stadt. Ich | |
| achte immer darauf, ob irgendwo jemand liegen könnte“, sagt Kelly. | |
| Die meisten von denen, die unter einer der Brücken in Charlottenburg | |
| schlafen, haben sich hier Lager aufgebaut mit Matratzen, Teppichen und | |
| kleinen Tischen. Die Brücken sind breit, deswegen ist es trocken – aber es | |
| ist hell: Die ganze Nacht scheint das Licht von Neonröhren auf die | |
| Menschen. Dazu kommt der Lärm der Lkws und Autos, die vorbeifahren. Fragt | |
| man die Menschen hier, warum sie nicht in einer der Notunterkünfte | |
| schlafen, lautet die Antwort fast immer: „Zu viele Menschen. Zu aggressiv.“ | |
| ## Corona drückt aufs Gemüt | |
| Die Pressesprecherin der Stadtmission, Barbara Breuer, bestätigt, dass es | |
| in den Unterkünften oft rau zugeht – obwohl Alkohol, Drogen und Waffen | |
| verboten sind. „Aber viele trinken sich eben vorher einen Pegel an, damit | |
| sie die Nacht überstehen“, sagt Breuer. Sie erzählt, dass es jetzt, in den | |
| Wintermonaten des Coronajahres, schlimmer geworden sei mit der | |
| Aggressivität. Neulich habe einer das Fenster vom Suppenbus eingeschlagen. | |
| Die Situation drücke allen aufs Gemüt. Wie im Rest der Gesellschaft gebe es | |
| Personen, die das Virus ernst nehmen, und solche, die das nicht tun. | |
| Die Situation im Coronawinter erschwert die Versorgung von Wohnungs- und | |
| Obdachlosen, und Menschen wie Breuer und Rosenke klagen, dass die | |
| Bundesregierung zu wenig tue. „Obdachlose wurden einfach komplett | |
| vergessen“, sagt Breuer von der Stadtmission. Werena Rosenke sieht es | |
| ähnlich. Ihre Organisation hat bereits Ende Oktober ein Papier | |
| veröffentlicht, in dem Bund und Länder aufgefordert werden, Maßnahmen zum | |
| Schutz von Wohnungslosen zu verabschieden. Darunter ist unter anderem die | |
| Forderung, Schnelltests in Notunterkünften einzuführen. | |
| Auf Anfrage der taz verwies eine Sprecherin des Bundesministeriums für | |
| Arbeit und Soziales darauf, dass die Verantwortung für die Unterbringung | |
| und Versorgung von Obdachlosen bei den Kommunen liege. Außerdem habe man | |
| die Kommunen „durch eine Vielzahl von Maßnahmen an anderer Stelle massiv | |
| unterstützt“. Das Ministerium habe ein Forschungsprojekt zu den | |
| Auswirkungen der Pandemie auf Wohnungsnothilfen finanziert – als Ergänzung | |
| zu einem Forschungsbericht über Entstehung, Verlauf und Struktur von | |
| Wohnungslosigkeit. | |
| Rosenke reicht das nicht, vor allem im Hinblick auf Infektionen unter | |
| Obdachlosen. „Bislang haben wir Glück gehabt, in der Wohnungshilfe gab es | |
| bislang kein großes Infektionsgeschehen“ sagt Rosenke. Aber: „Niemand kann | |
| sagen, ob das so bleibt.“ | |
| In der Notunterkunft am Berliner Hauptbahnhof testet medizinisches | |
| Fachpersonal bereits seit Anfang Oktober mit Schnelltests alle auf Corona, | |
| die in der Unterkunft schlafen wollen. Für die Unterkunft bedeutet das | |
| 20.000 Euro zusätzliche Kosten, die die Stadtmission bislang selbst | |
| aufbringen musste. Nun will der Senat jedoch diese Kosten übernehmen – und | |
| zwar in allen Berliner Unterkünften bis einschließlich März. | |
| Makaras Kalašnikov tritt von einem Fuß auf den anderen und schüttelt seine | |
| Beine aus. Wegen der Tests dauert in der Unterkunft der Stadtmission heute | |
| alles etwas länger. Aber er hat Verständnis für die Maßnahmen. „Ich will | |
| kein Corona bekommen“, sagt er. „Ich habe Angst. Ich habe keine Wohnung, | |
| was passiert, wenn ich das kriege?“ Solange er in Berlin bleibt, würde er | |
| vermutlich auch ein Bett auf der Quarantänestation in Berlin bekommen. Aber | |
| nicht überall in Deutschland ist man auf den Ernstfall vorbereitet. | |
| 25 Dec 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Xenia Balzereit | |
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