# taz.de -- Aufmerksamkeit in der Corona-Krise: Falsche Verteilung | |
> Wir hören in den Medien nichts von den Kranken und Sterbenden. Statt | |
> dessen gilt die Aufmerksamkeit denjenigen, die den größten Unsinn von | |
> sich geben. | |
Bild: Nicht im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit: Das konkrete Schicksal… | |
Wer bekommt unsere Aufmerksamkeit? Darüber musste ich vergangene Woche | |
immer wieder nachdenken. Zum einen befinde ich mich in einem Alter, in dem | |
man Probleme mit seinen alten Eltern hat. Wie versorgt man sie am besten, | |
wie bringt man sie unter? Kann man überhaupt und gerade jetzt seine Eltern | |
in ein Heim geben, da die Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken, | |
vielleicht viel größer ist als in der eigenen Wohnung, wo nur noch der | |
Pflegedienst vorbeikommt? | |
In vier Alten- und Pflegeheimen im Landkreis Cloppenburg gibt es derzeit | |
größere Corona-Ausbrüche, entnehme ich den Nachrichten; fünf Menschen, | |
zwischen 72 und 90 Jahre alt, sind dort am Wochenende „im Zusammenhang mit | |
Corona“ gestorben. Solche Nachrichten lese ich andauernd, und sie führen zu | |
keiner öffentlichen Erregung, keinem Twitter-Shitstorm. Wir haben uns daran | |
gewöhnt. | |
Ich telefonierte mit einer Freundin, die anfangs den Nachrichten über die | |
Coronapandemie misstraute. Nun erzählte sie mir, dass sie sich mit einer | |
Krankenschwester unterhalten habe: Habe selbst diese im Frühjahr noch die | |
Ausmaße der Pandemie angezweifelt, sei sie nun zu einer anderen Einstellung | |
gelangt. Die Lage im Krankenhaus sei schlimm, habe sie geklagt, die | |
Intensivstation voll. Wenn sie von 30 Prozent freien Betten höre, dann | |
frage sie sich, wo – in Berlin jedenfalls nicht. Und besonders berührten | |
sie die jungen Menschen, die dort intubiert auf dem Bauch lägen. | |
„So?“, fragte ich meine Freundin, „ich höre gar nichts davon.“ Natürl… | |
habe ich davon gehört, aber ich lese keine ausführlichen Berichte, ich | |
erkenne keine Empörung, und worüber auch – das Virus? Wir können ja solch | |
einen jungen Menschen, der in einem Berliner Krankenhaus auf dem Bauch | |
liegend um sein Leben ringt, schlecht interviewen. Und wenn er überlebt, | |
wenn er in einer Reha-Einrichtung darum kämpft, gesund zu werden, dann | |
sollten wir es auch nicht tun, denn dann müsste er diese beschissenen | |
Kommentare unter seinem Interview lesen, die ihn verhöhnen. Wem will man so | |
etwas zumuten? | |
Hören wir also nicht die Alten, die Kranken, die Sterbenden; auch nicht die | |
Krankenschwestern und Ärzte auf den Intensivstationen, letztere haben ja | |
auch überhaupt keine Zeit, vor irgendwelchen Kameras zu stehen, Interviews | |
zu geben, sich zu streiten und etwas zu beweisen. Worum es einzig geht: | |
diese Menschen zu schützen. Die, die im Krankenhaus arbeiten, und die, die | |
darin vielleicht sterben. Um den Schutz, um die Fürsorge für diese | |
Minderheit, denn die meisten Menschen werden diese Krankheit ja überleben. | |
Die Schicksale dieser Menschen sind tragisch, ihre Geschichten beispielhaft | |
und wichtig für uns, damit wir dies alles, unsere größeren oder kleineren | |
Entbehrungen, überhaupt verstehen – und trotzdem hören wir nichts davon. | |
Vielmehr erzürnen wir uns (und erbauen uns vielleicht insgeheim?), an „Jana | |
aus Kassel“, die auf einer Demo in Hannover himmelschreienden Unsinn von | |
sich gibt. | |
Wer ist sie, dass sie solche Aufmerksamkeit verdient? Jung und gesund, aber | |
entweder dumm oder bösartig. Die Kranken sind leise, die Gesunden sind | |
laut. Läge sie bäuchlings auf der Intensivstation würde niemand sie hören. | |
Wenn sie obdachlos wäre oder im Heim lebte: Das alles wäre uninteressant. | |
Interessant ist, wer den größten Unsinn von sich gibt, das Schockierendste, | |
Unanständigste, die Intelligenz und den Menschenverstand Beleidigendste. | |
Während das wirklich Schockierende, das qualvolle Sterben von Menschen, | |
unsichtbar und leise vor sich geht. | |
Ich weiß natürlich, dass „Jana aus Kassel“ eine größere Relevanz hat, | |
nicht, weil sie relevant ist, sondern ihre Unanständigkeit oder Dummheit | |
wie Gift in die Adern der Gesellschaft injiziert wird. Der Blick darauf ist | |
relevant, aber sie selbst ist es nicht. Relevant ist die Situation im | |
Krankenhaus, im Altersheim – und es ist bitter, die Aufmerksamkeit so | |
ungerecht verteilt zu sehen. | |
26 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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