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# taz.de -- Die Lockdown-Woche in Wien: Vergiftetes Skiparadies
> In den Pflegeheimen sterben Menschen wie die Fliegen, die
> Intensivstationen quellen über. Und die österreichische Regierung träumt
> vom Skitourismus.
Bild: Regierung und österreichische Skiliftmafia hoffen auf unbeschwerten Wint…
Natürlich, sagte Heiner Müller einmal, „ist eine Diktatur für Dramatiker
farbiger als eine Demokratie“, in ihr werde Macht direkt ausgeübt, Menschen
widersetzen oder entziehen sich oder passen sich an, oder sie machen
irgendetwas dazwischen. Das Existenzielle ist buchstäblich existenzieller.
„Der Aufenthalt in der DDR war in erster Linie ein Aufenthalt in einem
Material.“ Auch der Aufenthalt in einer Katastrophe ist für einen Autor
Aufenthalt in einem Material; es gibt hier viel zu sehen, was ansonsten
unsichtbarer bliebe. Ich winke also aus Österreich, der Katastrophenzone,
aktuell einem der globalen Coronahotspots.
Wir hocken [1][im Stubenarrest]; Geschäfte, Schulen, Kneipen, alles hat zu,
wir dürfen zwar raus, um ein wenig Luft zu schnappen. Die Infektionszahlen
sinken dennoch nur sehr langsam, da man die Epidemie kriminell lange laufen
ließ. In den Pflegeheimen sterben die Leute wie die Fliegen, die
Intensivstationen quellen über, und dafür ist nicht zuletzt ein Kanzler
verantwortlich, ein Angeber und Aufschneider, der monatelang damit prahlte,
dass wir „die Besten“ seien, was die Leute zu Halligalli ermuntert hat.
Nicht einmal ein Donald Trump hat solch ein Desaster anrichten können,
jedenfalls wenn man die aktuellen Todeszahlen in Relation zur Bevölkerung
vergleicht. Und dieser Irrsinn geht weiter. Regierung und österreichische
Skiliftmafia träumen noch immer vom unbeschwerten Wintertourismus. In einem
der aktuell am stärksten verseuchten Länder der Welt Zigtausende in Hotels,
in Restaurants, in Gondeln – was kann da schon schiefgehen?
Nun gibt es gewichtige Gründe für diese Schnapsidee, schließlich trägt der
Tourismus rund 15 Prozent des heimischen Bruttoinlandsprodukts bei, es
hängen Unternehmensexistenzen und eine Menge Arbeitsplätze daran. Aber auch
andere Branchen haben eine harte Zeit. Die Freude am Wintersport und am
Urlaub sei den Menschen auch unbenommen, nur: Andere Leute hätten auch gern
eine Freude. Doch die Theater sind gesperrt, Clubs und Bars sowieso, die
Leute hocken isoliert daheim, die Kinder gehen schon die Wände hoch. Und
jeder weiß: Wenn in vier Wochen die [2][Weihnachtsferien] samt Skiurlaub
anfangen, dann zahlen in acht Wochen alle die Zeche für den Tourismus und
den Urlaub von einigen wenigen.
Das verletzt auf eklatante Weise Gerechtigkeitsinstinkte. So eine Pandemie
ist sowieso schon ein Stresstest für eine Gesellschaft, da Regierungen sehr
viel tiefer in die Gewohnheiten und die privateste Lebensführung der Bürger
und Bürgerinnen hineinregieren als in normalen Zeiten. Pierre Rosanvallon,
der französische Gelehrte und Historiker, hat in seinem Buch „Gesellschaft
der Gleichen“ den modernen, in Demokratien sozialisierten Menschen den
„Homo reciprocans“ genannt. Wir reagieren hochgradig allergisch darauf,
wenn wir meinen, dass es nicht gerecht zugeht. Menschen sind bereit, sich
für das Gemeinwesen zu engagieren, aber sie stellen dieses Engagement
sofort ein, wenn sie meinen, sie seien die Dummen, während andere ein
Freispiel haben. Eine Welt, „in der mit zweierlei Maß gemessen wird und man
sich als Einziger ‚an die Regeln hält‘ “ ist, so Rosanvallon, „der
Nährboden für die Entstehung sozialen Misstrauens“.
Die Nerven sind jetzt überall zum Zerreißen gespannt, auch weil dieses
Reziprozitäts- oder Gegenseitigkeitprinzip im Verkehr der Bürgerinnen und
Bürgern untereinander verletzt wird. Jeder, der sich irgendwie
durchschummelt oder illegale Partys feiert, scheint uns ganz persönlich zu
gefährden und untergräbt zumindest unsere Bereitschaft, weiter solidarisch
zu handeln. Demonstrierende sogenannte Covidioten sind daher für uns nicht
nur „Idioten“, sondern eine Provokation, die uns viel nähergeht, als es
bloße Dummheit täte.
Wir sehen in dieser Pandemie wie durch ein Brennglas den großen inneren
Widerspruch freiheitlicher Gesellschaften, nämlich den zwischen
individueller Freiheit und einer bindenden gesellschaftlichen Ordnung. Der
Freiheitsgedanke lebt aber, wie der große Staatsrechtler Hans Kelsen
schrieb, von einem „staatsfeindlichen Ur-Instinkt, der das Individuum gegen
die Gesellschaft stellt“. Zugleich geben wir uns auch im demokratischen
Staat Regeln, von denen wir voraussetzen, dass sich alle daran halten. Ein
Spannungsverhältnis, das schon in normalen Zeit schwer auszubalancieren
ist.
Umso ärger, wenn wir daheim sitzen, geplagt von Isolation und
Erlebnishunger. Innen leben ist schlecht fürs Innenleben. Der Andere, die
Andere, ist von einem Verdacht umgeben, dem Verdacht, ansteckend zu sein.
Wie durch eine Nebelwand erinnern wir uns an eine Zeit, in der Menschen
sich umarmt haben, ohne Angst haben zu müssen, zu [3][sterben]. Und, man
kann es kaum mehr fassen, es gab Zeiten, da hat man Unbekannte, die man
eben erst kennengelernt hat, geküsst.
28 Nov 2020
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## AUTOREN
Robert Misik
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