# taz.de -- Querdenken?: Kritik der kritischen Unvernunft | |
> Was ist das eigentlich: Das Querdenken. Eines scheint vorab sicher zu | |
> sein: Mit Aufklärung hat das wenig zu tun. | |
Bild: Protest gegen Coronaleugner in Berlin-Mitte am vergangegen Donnerstag | |
„Querdenker“ war immer schon ein seltsamer, unsympathischer Begriff, auch | |
als er noch eine scheinbar unschuldige Vokabel war. Einerseits wurden damit | |
Menschen charakterisiert, die irgendwelche „originellen“ Ideen vertraten, | |
Meinungen also, die so abwegig waren, dass man auf sie erst einmal kommen | |
musste. | |
Andererseits wurden damit aber einfach Menschen tituliert, die überhaupt | |
dachten und nicht bloß das gängige, angesagte Meinungsstückwerk | |
nachplapperten, weshalb sich stets die Frage aufdrängte, was daran jetzt | |
quer sein soll. Das Gegenteil von nicht denken ist ja nicht querdenken, | |
sondern denken. Jeder, der auch nur einen Gedanken äußerte, der | |
einigermaßen durchdacht zu sein schien, wurde in dieser versunkenen Zeit | |
schon als Querdenker geadelt und zugleich ins Lächerliche gezogen. Dass | |
„Querdenker“ jetzt also für vertrottelte Wirrköpfe reserviert ist, ist | |
nicht das schlechteste Resultat des Jahrs 2020. | |
[1][In der Welt der Wirrköpfe wähnt man sich „kritisch“, weil man nicht | |
mehr an die Wissenschaft], nicht mehr an den Rationalismus glaubt, weil man | |
keinen Nachrichten mehr vertraut und sowieso keinen „Mainstreampolitikern“, | |
dafür aber fix irgendwelchen Websites, die man auf Telegram von | |
Schlagersängern oder veganen Köchen zugeschickt bekommen hat. | |
Der Begriff „kritisch“ ist also selbst in einer kritischen Lage. Es ist | |
noch nicht ewig her, da wurden „kritisches Denken“ und „Wissenschaft“ a… | |
zwei Seiten einer Medaille empfunden. | |
## Aufklärung und Emanzipation | |
Der herrschenden Ordnung, die sich als gottgegeben wähnte, sich durch | |
Tradition und Religion begründete, wurde die Macht der aufklärerischen | |
Kritik entgegengeschleudert. Die Unterdrückten wähnten die Wissenschaft auf | |
ihrer Seite, die Arbeiterbewegung verkündete: „Wissen ist Macht.“ [2][In | |
der Aufklärung waren Emanzipation, Wissenschaft, Rationalismus und Kritik | |
irgendwie eines], getreu dem Diktum: Habe Mut, dich deines eigenen | |
Verstandes zu bedienen. | |
Aber es gab immer auch einen wissenschafts- und vernunftfeindlichen | |
Nebenstrang, man denke nur an die deutsche Romantik, aber später auch an | |
mehr linke Einwände, etwa dass die wissenschaftliche Vernunft den Menschen | |
zum eindimensionalen Charakter verkrüpple oder dass im kapitalistischen | |
Rationalismus mit seiner Verdinglichung die Wissenschaft und Technik selbst | |
zur Ideologie werde. So mancher Weg der Post-68er-Wissenschaftskritik | |
führte direkt zu Homöopathie und Esoterik. Sorry to say. | |
Der medizinische Fortschritt hat uns also mehrere Impfstoffe gegen Covid-19 | |
beschert, und es ist ein Triumph der Wissenschaft. 2020 hat uns zwar | |
gelehrt, dass stets eine Katastrophe lauern kann – aber wenn alles | |
einigermaßen gut läuft, können wir vielleicht in einem halben Jahr unser | |
normales Leben zurückhaben. Es ist grandios, gepriesen seien die genialen | |
Forscher und Spezialisten! | |
## Millionen Hobbyexperten | |
Apropos Spezialisten: Viele von uns haben sich im vergangenen Jahr zu | |
Hobbyexperten in Virologie und Epidemiologie entwickelt, wir haben uns | |
beträchtliches statistisches Spezialwissen angelesen und auch ein Gefühl | |
für exponentielle Kurven entwickelt. Auch darüber gibt es Hohn, dass jetzt | |
Millionen Deutsche nicht nur die besseren Fußballnationaltrainer seien, | |
sondern auf Epidemiologie und Immunologie umsattelten. | |
Zu bedenken ist aber, dass dieser zynische Spott selbst eine fragwürdige | |
Sache ist. Medizinische und gesundheitspolitische Fragen sind – gerade in | |
unseren Tagen – Schlüsselthematiken einer Gesellschaft. Die Demokratie | |
zeichnet sich aber dadurch aus, dass alle Bürger und Bürgerinnen mitreden | |
sollen. Sie sollen zumindest beurteilen können, ob die von ihnen gewählten | |
Politiker und Politikerinnen gute oder schlechte Arbeit leisten, ob ein | |
Lockdown begründet ist oder eher nicht. Das schließt aber ein, dass sich | |
interessierte Laien so weit informieren, dass sie die Dinge wenigstens vage | |
beurteilen können. In der Demokratie müssen interessierte Laien bei | |
hochkomplexen Thematiken mitreden können, sonst landen wir in einer | |
Expertokratie. | |
Alles Grenzgänge natürlich. Aufgeklärte Staatsbürger und Staatsbürgerinnen | |
sollen informiert mitreden können – und brauchen dennoch am Ende Vertrauen | |
in Spezialistinnen und Spezialisten. Das haben wir ja in aller Regel | |
auch. | |
Nicht nur in der Entwicklung von Impfstoffen gegen die Pandemie müssen wir | |
den Fachleuten vertrauen; wir tun das, wann immer wir in ein Auto, in die | |
U-Bahn oder ins Flugzeug steigen. Letztendlich haben wir ja keine Ahnung, | |
warum dieses Ding bremst, fliegt, landet oder bei Gefahr den Airbag | |
aktiviert; wir vertrauen aber den Experten, dass das Zeug schon | |
funktionstüchtig ist. Ohne dieses Vertrauen kommen wir in einer | |
arbeitsteiligen, modernen Gesellschaft kaum durchs Leben. | |
Es ist also mal wieder alles sehr komplex. | |
3 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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