| # taz.de -- Angst, Corona und Prekariat: Negativ, aber nicht symptomfrei | |
| > Im Jahr 2020 ist die Angst vor dem Coronavirus groß. Die ökonomische | |
| > Ungewissheit erschöpft, sie macht gereizt und dünnhäutig. | |
| Bild: Sind in Zeiten sozialer Unsicherheit ein Rettungsanker: Gemeindebau in Wi… | |
| Ich kenne Leute, die trauen sich seit der letzten Ansprache von Angela | |
| Merkel kaum mehr aus dem Haus. Von der „Gesellschaft der Angst“ hat | |
| [1][Heinz Bude] ja schon vor einigen Jahren geschrieben, aber da hat er von | |
| 2020 noch nichts gewusst. | |
| Im Jahr 2020 haben, nachvollziehbarerweise, wohl faktisch alle Menschen | |
| Angst, wenngleich nicht alle aus denselben Gründen. Die einen haben Angst | |
| davor, sich das tödliche Virus einzufangen, die anderen haben Angst vor den | |
| ökonomischen Folgen, um ihren Job, ihre Einkommen, sie wissen nicht, ob sie | |
| demnächst noch ihre Rechnungen bezahlen können. | |
| Man kann sehr gut auch vor beidem Angst haben. Andere wiederum beklagen | |
| eine „Politik der Angst“, gelegentlich auch jene, die ansonsten gar nichts | |
| gegen eine Politik mit der Angst einzuwenden haben. Manchmal ist das sogar | |
| richtig lustig, etwa wenn irgendwelche AfD-Freaks am Vormittag das | |
| Schreckensgespenst einer „Islamisierung“ und blutrünstiger „Clans“ an … | |
| Wand malen, um mittags dann als Coronaleugner die „Angstpolitik“ bei der | |
| Pandemiebekämpfung anzuprangern. Die Panikpolitiker prangern die | |
| Panikpolitik an, ganz mein Humor. | |
| Zweifelsohne wird uns gelegentlich von staatlichen Stellen oder auch | |
| politischen Aktivisten planmäßig ein Schrecken eingejagt, damit wir unsere | |
| Verhalten ändern. Das ist schließlich der Sinn der Schockfotos auf den | |
| Zigarettenpackungen oder der Videos in den Fahrschulen, bei denen wir | |
| sehen, wie ein Crashtest-Dummy durch das Auto fliegt, wenn man nur mit 40 | |
| km/h gegen eine Hausmauer kracht. Auch Greta Thunberg hat gesagt: „I want | |
| you to panic“, „ich will, dass ihr Panik bekommt“. Angst ist ein | |
| politisches Gefühl, weil es politische Folgen hat. Und umgekehrt: Gerade | |
| wenn Unsicherheit endemisch wird, wird das „Bedürfnis nach Sicherheit“ | |
| zentral. | |
| ## Rotes Wien | |
| In Wien haben wir gerade [2][Gemeinderats- und Landtagswahlen] gehabt, und | |
| wieder einmal ist es den Sozialdemokraten gelungen, das „Rote Wien“ zu | |
| verteidigen. SPÖ, Grüne und die neue kleine Linksgruppe kamen zusammen | |
| sogar auf rund 60 Prozent. | |
| Wenngleich aber das „Rote Wien“ historisch ein Projekt energetischer | |
| Gesellschaftsveränderung war, so war seine Verteidigung vor zwei Wochen | |
| primär einer Sicherheitsbotschaft zu verdanken. Die Stadt funktioniert gut, | |
| die Verwaltung hat alles im Griff, die Sozis an der Stadtspitze ist man | |
| gewohnt. „Unser Wien in den besten Händen“, war die zentrale Botschaft. | |
| Der siegreiche Titelverteidiger, Bürgermeister Michael Ludwig, ist | |
| gewissermaßen die optimale Verkörperung der Sicherheitsbedürfnisse der | |
| Wählerinnern und Wähler. Er neigt nicht zu Übertreibungen, riskante | |
| Experimente sind von ihm nicht zu erwarten und er strahlt dieses gewisse | |
| „einer von uns“ aus. Mit ihm kommen modernistische Hipster genauso gut | |
| zurecht wie mancher bisherige Rechtaußen-Wähler. | |
| Der Zufall wollte es, dass ich wenige Tage vor der Wiener Gemeinderatswahl | |
| einen Talk mit der bulgarischstämmigen Wissenschaftlerin Albena Azmanova | |
| und ihrem Landsmann Ivan Krastev hatte. Azmanova hat jüngst bei Columbia | |
| University Press ein Buch herausgebracht, das sich dem Thema des | |
| „Prekaritätskapitalismus“ widmet. In diesem „Prekaritätskapitalismus“ | |
| frisst sich Angst in das Leben sehr vieler Menschen hinein, nicht nur in | |
| das „neue Prekariat“. Auch Leute, die einen guten Job haben, wissen, dass | |
| der nicht mehr wirklich fix ist, dass die Einkommen kaum mehr steigen, die | |
| Rechnungen aber schon und dass es von Jahr zu Jahr enger wird. Ungewissheit | |
| ist die sanfte Form der Unsicherheit. | |
| In einer solchen Situation kann man mit einer Botschaft des „Wandels“ kaum | |
| jemanden begeistern. „Eine Situation verbreiteter ökonomischer Unsicherheit | |
| triggert konservative, ja reaktionäre Instinkte“, urteilt Azmanova. Wenn | |
| Unsicherheit einzieht und Wandel als Bedrohung erfahren wird – dann wollen | |
| die Verwundbarsten, dass sich möglichst nichts ändert. Oder dass alles wird | |
| wie früher. | |
| Angst hat natürlich auch noch eine Reihe anderer unschöner Nebenwirkungen. | |
| Angst macht gereizt und dünnhäutig. Hoffnung und eine gewisse | |
| Fortschrittsgewissheit dagegen führen eher zu Gelassenheit und | |
| Großzügigkeit. | |
| „Angst erschöpft“, hat Heinz Bude in seinem Angst-Buch geschrieben. Der | |
| „Prekaritätskapitalismus“, zu dem nicht nur die chronische Unsicherheit | |
| gehört, sondern auch die Idee des „Individualismus“, führt auch dazu, dass | |
| sich viele Leute sagen: „Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst.“ Bude: | |
| „Man fühlt sich gehetzt, getrieben und angegriffen. Alles wirkt stumpf, | |
| matt und reizlos. Man wacht morgens wie gerädert auf, als habe man nicht | |
| geschlafen.“ | |
| Geht mir auch manchmal so. Ich bin nachgewiesen Sars-Cov-2-negativ, aber | |
| deswegen noch lange nicht asymptomatisch. | |
| 25 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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