# taz.de -- Zweckentfremdung von Wohnraum: Befremdliche Praxis | |
> Während eine soziale Einrichtung für obdachlose Frauen wegen | |
> Zweckentfremdung zahlen soll, darf eine Firma Wohnungen leer stehen | |
> lassen. | |
Bild: Hier ein konkreter Hinweis, wie mit Leerstand umgegangen werden könnte | |
BERLIN taz | Auf die Umsetzung kommt es an: In der Theorie soll das Verbot | |
von Zweckentfremdung verhindern, dass Wohnraum für anderes als zum Leben | |
genutzt wird – und soll so Mietsteigerungen begrenzen. In der Praxis klappt | |
das nicht immer gut: Das neue Gesetz trifft nicht immer die Richtigen. Und | |
manchmal kommen die Richtigen sogar ungestraft davon. | |
Beispiele dafür gibt es im Bezirk Mitte: Dort soll einerseits ein soziales | |
Projekt wegen Zweckentfremdung 4.000 Euro Strafe im Monat zahlen, auf der | |
anderen Seite beklagt eine Mieterinitiative in der Torstraße, dass der | |
Bezirk nichts gegen spekulativen Leerstand unternehme. | |
Das Zweckentfremdungsverbot wurde 2013 mit dem Ziel verabschiedet, gegen | |
spekulativen Leerstand, unerlaubte gewerbliche Nutzung und Vermietung von | |
Wohnungen als Ferienwohnung vorzugehen. Seit einer Gesetzesänderung 2018 | |
dürfen Wohnungen nicht mehr sechs, sondern nur noch drei Monate ungenehmigt | |
leer stehen. Zweckentfremdung muss nach wie vor beantragt werden. Laut | |
Senat soll Leerstand nur genehmigt werden, „wenn vorrangige öffentliche | |
Interessen oder schutzwürdige private Interessen das öffentliche Interesse | |
an der Erhaltung des betroffenen Wohnraums überwiegen“. | |
Gerade vor dem Hintergrund dieser Ausnahmeregelung wirkt der Fall in der | |
Tieckstraße 17 absurd: Die Diakonie soll eine Zweckentfremdungsabgabe von | |
monatlich 4.000 Euro zahlen – weil sie dort eine soziale Einrichtung für | |
obdachlose Frauen betreibt. Derzeit laufe noch ein Widerspruchsverfahren, | |
sagte Monika Lüke, Geschäftsführerin der Diakonie Berlin-Mitte. | |
## Das Verbot nur ein „zahnloser Tiger“? | |
Das Bezirksamt Mitte teilte mit, dass hier eine Zweckentfremdung zwar | |
genehmigt wurde, die Notunterkunft aber rechtlich als Gewerbe gelte und | |
deshalb Ausgleichszahlungen leisten müsse. Der Streitpunkt sei derzeit die | |
Höhe des Betrags. Man wolle „keineswegs auf einer hohen Summe beharren“, so | |
ein Sprecher. | |
Die Mieterinitiative „Wohnen in der Torstraße 225/227“ fragt sich hingegen, | |
ob das Gesetz über Zweckentfremdungsverbot nur ein „zahnlosen Tiger“ ist. | |
In ihrem Häuserkomplex mit 84 Wohnungen protestieren die Mieter nach | |
eigenen Angaben seit Monaten vergeblich gegen Leerstand. Der Eigentümer | |
Accentro 6 Wohneigentum GmbH vermiete leer stehende Wohnungen seit Monaten | |
nicht mehr weiter. | |
Die Mieter recherchierten und legten eine Liste von leer stehenden | |
Wohnungen an. Diese meldeten sie beim Bezirksamt – jeweils im Juni und | |
September 2018 sowie im Januar 2019. Danach hörten sie nichts mehr vom | |
Bezirk. Doris Koch, Mieterin in der Torstraße, ärgert, dass sie nicht | |
informiert werde, was mit den Leerstandsmeldungen passiert. Der einzige Weg | |
zur Informationsbeschaffung war für die Initiative die Anfrage eines | |
Bezirksverordneten. | |
Aus der Antwort im Januar 2019, die der taz vorliegt, geht hervor, dass das | |
Bezirksamt – anstatt bestehenden Leerstand zu ermitteln und zu | |
sanktionieren – den Eigentümer nur gebeten hat, Leerstandsanträge mit | |
entsprechenden Nachweisen einzureichen. | |
Den Leerstand für Modernisierungsarbeiten genehmigte das Amt dann im | |
November 2018. Für Koch und ihre Mitstreiter nicht nachvollziehbar, weil | |
das Haus zuletzt 2006 modernisiert worden sei. In einer Mitteilung warf die | |
Initiative dem Bezirksamt auch vor, offensichtlich keinerlei eigene | |
Recherchen zum angezeigten Leerstand unternommen zu haben. | |
Ramona Reiser, zuständige linke Bezirksstadträtin in Mitte, antwortete auf | |
taz-Anfrage, dass Leerstand für circa 35 Wohnungen genehmigt worden sei | |
oder noch genehmigt werde – verbunden mit der Auflage, dass | |
Modernisierungen bis Anfang 2020 beendet sein sollen. | |
Die Maßnahmen seien „nachvollziehbar“, so Reiser. Gleichzeitig stehe ihr | |
Bezirk Modernisierungsmaßnahmen „grundsätzlich skeptisch gegenüber, da sie | |
stets zu Verdrängung führen“. Laut Reiser geht es um Kachelöfen, die | |
abgebrochen oder Kastendoppelfenster, die erneuert werden müssen. Auf die | |
Frage, weshalb die Mieter nicht informiert wurden, verwies ein Mitarbeiter | |
von Reiser auf den Vertrauensschutz der Hauseigentümer. | |
## Senatorin Lompscher ist zufrieden mit der Umsetzung | |
Derweil setzt der Eigentümer Accentro die widerständigen Mieter unter | |
Druck: Nachdem die Initiative Ende Februar von 25 leer stehenden Wohnungen | |
im Juni 2018 und 40 Prozent Leerstand geschrieben hatte, klagte das | |
Unternehmen auf Unterlassung. Auf Antrag von Accentro veranlasste das | |
Landgericht Berlin eine Verfügung gegen die Mieterinitiative. Sie darf oben | |
genannte Zahlen nicht mehr verbreiten. Die Berichtigung durch Accentro: Am | |
1. Juni 2018 standen 17 Wohnungen leer. Inzwischen sind es laut Accentro | |
nur 27 Prozent. | |
Diese Berichtigung ändert nichts daran, dass bereits Anfang Juni leer | |
stehende Wohnungen erst im November genehmigt wurden. Sie standen also | |
mindestens fünf Monate leer ohne Erlaubnis – obwohl seit der | |
Gesetzesnovelle maximal drei Monate erlaubt sind. | |
Während Mieterinitiative und soziale Einrichtung über die Praxis klagen, | |
ist Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) zufrieden: „Das | |
Gesetz hat dazu geführt, dass Wohnraum in erheblichem Maß nicht mehr | |
zweckentfremdet wird.“ Über 9.300 Wohnungen habe man dem Wohnungsmarkt | |
zurückgeführt. | |
Laut einer der taz vorliegenden Liste der Senatsverwaltung für | |
Stadtentwicklung wurden seit der Novelle bis Ende 2018 dem Wohnungsmarkt | |
genau 9.341 zweckentfremdete Wohnungen zurückgeführt, darunter 4.441 | |
Ferienwohnungen; beim Rest handelt es sich um andere Zweckentfremdungen | |
wie etwa spekulativen Leerstand. | |
## Wohnraum für 18.000 Berliner | |
Mit 1.921 wieder dem Wohnungsmarkt zur Verfügung stehenden Wohnungen führt | |
Friedrichshain-Kreuzberg die Bezirksauflistung an, Schlusslicht ist mit 309 | |
zurückgeführten Wohnungen Marzahn-Hellersdorf. In Mitte sind es 1.047 | |
Wohnungen, davon 714 Ferienwohnungen. Die Summe verhängter Bußgelder | |
beträgt berlinweit 4.156.598 Euro. Laut Senat ist Wohnraum für 18.000 | |
Berliner geschaffen worden. | |
Der Senat verfolge die Rechtsprechung, Erfahrungen der Bezirke und anderer | |
Städte und überprüfe laufend, „wie das Zweckentfremundungsverbot optimiert | |
werden kann“, so eine Sprecherin der Senatsverwaltung. Mit dem neuen Gesetz | |
habe die Verwaltung berlinweit 60 zusätzliche Stellen „für Kontrolle und | |
Ahndung von Verstößen“ geschaffen. Das sind gerade mal fünf Mitarbeiter pro | |
Bezirk, die Zweckentfremdungen recherchieren und sanktionieren sollen. Was | |
die konkrete Umsetzung des Gesetzes angeht, verweist eine Sprecherin auf | |
die zuständigen Bezirksämter. | |
Vielleicht ist auch dieses personelle Missverhältnis der Grund dafür, | |
weshalb sie die Erwartungen an das Gesetz zugleich relativierte: „Damit | |
löst man nicht das Wohnungsproblem, aber es ist ein Baustein dazu, der | |
wichtig ist.“ | |
15 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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