# taz.de -- Menschen ohne Krankenversicherung: Im Osten was Neues | |
> Die neue Arztpraxis für Menschen ohne Krankenversicherung in Lichtenberg | |
> hat gut zu tun. Im Ostteil der Stadt gibt es bislang kaum solche | |
> Angebote. | |
Bild: Im Osten Berlins leben viele Menschen, die keinen Zugang zu medizinischer… | |
Berlin taz | „Was kann ich für Sie tun?“, fragt die ehrenamtliche Ärztin | |
Lola Besselink in den Telefonhörer. Die Person am anderen Ende der Leitung | |
übersetzt die Frage für die zwei Frauen, die Besselink gegenübersitzen, auf | |
Ukrainisch. „Meine Mutter hat starke Halsschmerzen und erhöhte Temperatur“, | |
antwortet eine der beiden Frauen ebenfalls auf Ukrainisch und zeigt auf die | |
ältere Frau neben sich. Die Person am anderen Ende der Leitung übersetzt | |
die Antwort für die Ärztin zurück ins Deutsche. Die fragt zurück: „Nehmen | |
Sie irgendwelche Medikamente ein?“ Die Übersetzung über das Telefon läuft | |
simultan im weiteren Gespräch. | |
Szenen wie diese gibt es regelmäßig in der Lichtenberger | |
Ärzt*innenpraxis open.med. Mitte Juni hat sie in der Nähe des | |
S-Bahnhofs Lichtenberg auf fast 200 Quadratmetern eröffnet mit dem Ziel: | |
eine Anlaufstelle für Menschen, die aus verschiedenen Gründen [1][keinen | |
Zugang zum staatlichen Gesundheitswesen] haben, zu etablieren. | |
Das neue Projekt von „Ärzte der Welt“, einer weltweit agierenden | |
Nothilfeorganisation ähnlich wie die bekannteren „Ärzte ohne Grenzen“, wi… | |
so auch im Osten Berlins Sprechstunden anbieten für diejenigen, die keine | |
Krankenversicherung oder Beitragsschulden haben, für Menschen, die im | |
Asylverfahren sind oder nur mit einer [2][Duldung] in Deutschland leben, | |
oder Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. | |
Das Angebot verbreitet sich schnell: Als open.med an einem Montag im Juli | |
um 11 Uhr die Türen öffnet, füllt sich das Wartezimmer in wenigen Minuten | |
mit Menschen, die auf eine Beratung oder Behandlung warten. Susanne | |
Eikenberg, ehrenamtlich arbeitende Ärztin, empfängt die Patient*innen | |
zuerst in einem kleinen, lichtdurchfluteten Zimmer hinter dem Empfang für | |
eine Sozialanamnese. „Hierbei geht es darum, die persönliche Situation von | |
Menschen zu erfassen und eventuell zu schauen, ob oder wie Menschen wieder | |
ins Gesundheitssystem integriert werden könnten“, erklärt sie. | |
## Anonymität wird garantiert | |
Alle Daten werden anonym gespeichert, alle Patient*innen bekommen eine | |
Nummer, falls sie planen, wieder in die Praxis zu kommen. Doch nicht nur | |
für die Patient*innen selbst ist die Datenerfassung gut, sondern auch | |
um politisch etwas bewegen zu können. Laut Statistischem Bundesamt waren im | |
Jahr 2019 rund 61.000 Menschen in Deutschland nicht krankenversichert. Das | |
Bundesamt bezieht diese Zahl aus Mikrozensus-Daten. „Das Problem hierbei | |
ist, dass nur Menschen mit einer Anmeldung gezählt werden“, sagt Eikenberg. | |
Die Zahl sei also nicht repräsentativ. | |
Ärzte der Welt gehe mittlerweile von mehreren hunderttausend Menschen aus, | |
die in Deutschland keinen oder nur eingeschränkten Zugang zum | |
Gesundheitswesen haben, so Eikenberg. Denn Menschen ohne Meldeadresse | |
würden in der aktuellen Datenerhebung systematisch ausgeschlossen. Es sei | |
deshalb umso wichtiger, anonymisierte Daten zu sammeln. | |
So hat die Organisation im Jahr 2022 Patient*innendaten aus | |
[3][ähnlichen Projekten] in Deutschland ausgewertet und in einem | |
Gesundheitsreport veröffentlicht: Demnach hatten von 1.071 | |
Patient*innen 76,9 Prozent keinen Versicherungsschutz. „Unser Ziel ist | |
es, den Menschen, die zu uns kommen, einen Zugang zum Gesundheitswesen zu | |
geben“, so ein Sprecher der Organisation auf taz-Nachfrage. | |
## Behandlung und Medikamente sind kostenlos | |
Nach der Sozialanamnese kommen die Patient*innen ins Behandlungszimmer. | |
Weil nicht alle Patient*innen Deutsch sprechen, greifen die | |
Ehrenamtlichen in der Praxis häufig auf das Angebot von Triaphon zurück: | |
Die medizinische Dolmetsch-Hotline bietet die Möglichkeit, Gespräche in | |
neun Sprachen zu übersetzen. „Wir merken immer wieder, dass sich | |
Patient*innen viel wohler fühlen, in ihrer eigenen Sprache über ihre | |
Schmerzen und Probleme zu sprechen“, erzählt Eikenberg. | |
Das ist auch für den Behandlungserfolg wichtig: An diesem Morgen schildert | |
etwa ein Vietnamese seine gesundheitliche Lage detailliert in seiner | |
Sprache. Die Ärztin schaut ihm in den Rachen, kontrolliert die Lymphknoten, | |
wenige Minuten später verlässt er das Behandlungszimmer mit dem richtigen | |
Medikament. | |
Denn nicht nur die Behandlungen sind hier für die Patient*innen | |
kostenlos, sondern auch die nötigen Medikamente. In einem Schrank findet | |
sich vieles von Ibuprofen bis Schwangerschaftstests und Augentropfen. Für | |
den Fall, dass ein Medikament nicht vorrätig ist, hat die Praxis eine | |
Kooperation mit einer Lichtenberger Apotheke. „Dann können wir den | |
Patient*innen ein Privatrezept mitgeben, die Apotheke weiß Bescheid und | |
schickt uns die Rechnung zu“, erklärt Eikenberg. Finanziert wird die | |
Ausstattung der Praxis durch Spendengelder. | |
Da das Angebot neu ist, ist vieles noch im Findungsprozess: Aktuell kann | |
etwa noch nicht genau abgeschätzt werden, welche Bedarfe es in welchem Maße | |
gibt. „Wir überlegen, in Zukunft auch ein festes gynäkologisches Angebot zu | |
etablieren“, erzählt Eikenberg: Platz dafür gebe es. Nur müsse man den | |
Balanceakt hinbekommen, einerseits Hilfe und Behandlungen für alle | |
anzubieten, andererseits den Bezirk nicht aus der Verantwortung zu nehmen, | |
indem man „alles“ selber mache. | |
## Großer Bedarf in Marzahn und Lichtenberg | |
Denn während eine ähnliche Praxis von Ärzte der Welt in München bereits aus | |
öffentlichen Geldern mitfinanziert wird, ist der Bezirk Lichtenberg nicht | |
in die Finanzierung von open.med involviert. Und dass, obwohl es kein | |
Zufall ist, dass sich die Praxis in Lichtenberg befindet. Hier leben | |
besonders viele Menschen, die erschwerten oder gar keinen Zugang zu | |
medizinischer Versorgung haben. | |
Durch die Moving Clinic, ein anderes Projekt der Ärzte der Welt, sei | |
schnell klar geworden, dass es in Lichtenberg Bedarf für eine solche Praxis | |
gibt, sagt Eikenberg. „Als wir in Lichtenberg und Marzahn unterwegs waren, | |
haben wir gemerkt, wie viele Leute unser Angebot brauchen.“ Außerdem seien | |
ähnliche Angebote wie von der Caritas und den Maltesern eher im Westen oder | |
im Zentrum der Stadt zu finden, so Eikenberg. | |
Für die Zukunft wünscht sich die Ärztin ein breiteres Netz an | |
Unterstützer*innen. Beispielsweise für den Fall, dass Patient*innen | |
längerfristige medizinische Behandlungen benötigen: „Wir bräuchten | |
Fachärzt*innen, die bereit wären, ein bis zwei unserer Patient*innen | |
pro Quartal in ihren Praxen weiter zu behandeln.“ | |
16 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Max Leyendecker | |
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